Merkel bekennt Farbe - Wat mutt, dat mutt!

In der ARD ließ Angela Merkel gestern erstmals durchblicken, dass es eine Impfpflicht durch die Hintertür geben könnte. Ihre Sätze sorgten für Verwirrung. Am Ende aber könnten sie dazu führen, dass der Bürger sich wieder mehr auf seine Eigenverantwortung besinnt.

undeskanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft zur wöchentlichen Kabinettssitzung ein dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Wer verstehen will, der muss an den Anfang zurück. An dem Punkt, an dem sich erstmals Erwartungen stauten, an dem Hoffnungen und Ängste keimten. Spulen wir also einmal kurz auf Null: Was hatte man im Winter 2019/2020 doch um ein rettendes Wort der Kanzlerin gegeben. Das neuartige Corona-Virus war im Februar 2020 zu einer schier unendlichen Reise um den Globus angetreten, und die Bevölkerung saß daheim, schaute voll Sorge nach Wuhan und Bergamo und verfiel zunehmend in Panik. 

Fernseh-Deutschland starrte also auf das Berliner Kanzleramt und hoffte, dass aus den hohen Betonmauern ein Wort der Erlösung drang. Doch Merkel schwieg. Längst auf einer quasi metapolitischen Ebene schwebend, sah man die Regierungschefin ab und an noch auf internationaler Bühne agieren, während sie das heimische Tagesgeschäft längst an ihre damaligen Thronfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer und ans Kabinett übergeben zu haben schien.

Weltmeisterin der Stoa

Irgendwann aber konnte selbst Angela Merkel, die Weltmeisterin der Stoa, nicht mehr an sich halten: Es war der 18. März 2020, als sie sich erstmals in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung wandte: Es sei ernst, so ihre Botschaft am Vorabend des ersten Lockdowns. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

Und was dann folgte, war durchaus hart: Lockdown, Gesetzesänderungen Grundrechteeinschränkungen. Doch wenn es das Virus verlangte, schien eine große Mehrheit der Deutschen bereit zu sein, dem Kurs der Kanzlerin mitzugehen. Wenigstens hatte sie sich endlich zu Wort gemeldet, und wenigstens war sie bereit, in bedrohlichen Zeiten Verantwortung zu übernehmen. Getrieben von Angst und bei Laune gehalten mit der Aussicht auf Besserung bissen die Bürgerinnen und Bürger im Frühjahr die Zähne zusammen, folgte der Kanzlerin von Maßnahme zu Maßnahme, hangen an ihren Lippen von Regierungserklärung zu Regierungserklärung.

Erlösung an den Empfangsgeräten

Doch jetzt, fast ein Jahr nach Merkels erstem Fernsehauftritt zu Corona, scheint die Geduld vieler Menschen am Ende zu sein. Zwar warten noch immer allzu viele an den Empfangsgeräten auf Erlösung und hoffen mindestens im Stillen, die Politik möge sie endlich aus dem Würgegriff des Virus befreien. Doch immer mehr Menschen scheinen auch zu bemerken, dass ihre unstillbaren Sehnsüchte nach Führung unter dem Motto „Wat mutt, dat mutt“ eine Kehrseite haben: Man zahlt mit der Einschränkung von Freiheiten und mit dem Verzicht auf Eigenverantwortung. 

Viel hatte man also vermutlich ohnehin nicht mehr erwartet, als sich Angela Merkel am gestrigen Dienstag in der ARD den Fragen von Tina Hassel und Rainald Becker stellte. Beschaffungschaos, Impfgipfel und der weitere Fahrplan durch die Pandemie, das waren die wesentlichen Leitplanken, die die Redaktion der Kanzlerin durch eine fünfzehnminütige Sendung gebaut hatten. Unter der verheißungsvollen Überschrift „Farbe bekennen“ entsandte man Merkels Worte direkt nach der Tagesschau wieder in jedes deutsche Wohnzimmer.

Ein Bekenntnis in Spinatgrün

Doch viel Farbe war es nicht: Ein Sakko in Spinatgrün und eine Hose in Tiefschwarz. Das war es im Wesentlichen schon. Während sich Merkel im Kleidungs- und Sprachstil gewohnt gediegen gab, dimmte sie diesmal auch inhaltlich die Akzente stark herunter. Über den recht ergebnislosen Impfgipfel vom Vortag etwa ließ sie wissen, dass der ohnehin nur ein „Impfgespräch“ gewesen sei. Über die weiterhin fehlenden Impfdosen betete sie das längst verbreitete Mantra herunter, nachdem es bereits „eine Riesenleistung“ sei, wenn man ein Jahr nach Ausbruch einer Pandemie schon mehrere zugelassene Impfstoffe habe. Und auch bei den immer wieder kritisierten Verträgen mit den Herstellern sei laut Kanzlerin „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“.

Alles also „tutti bene“ denkt da der erlösungssüchtige Souverän, während er schon zur Fernbedienung greifen will, um zum Inga-Lindström-Krimi im ZDF rüberzuschalten. Doch dann, kurz vor Ende der Sendung, fällt ein Satz, der noch einmal aufhorchen lässt: In gewohnt Sphinx-artiger Verrätselung entfahren der Kanzlerin plötzlich folgende Worte: „Wenn wir später sehr vielen Menschen ein Angebot gemacht haben werden, und dann manche sagen: ‚Ich möchte nicht geimpft werden …‘ Dann müsste man vielleicht schon solche Unterschiede machen, dass man sagt: ‚Okay, wer das nicht möchte, der kann vielleicht auch bestimmte Dinge nicht machen.“ Sprach es, lehnte sich zurück, und zog die Mundwinkel auf bierernst.

Gaslighting in der Politik

Eine Nachfrage von Hassel oder Becker folgte nicht. Da ist es kein Wunder, dass seither nicht nur das politische Berlin darüber nachgrübelt, was genau die Kanzlerin mit ihren erzieherischen Worten gemeint haben könnte. War es das, was viele bereits im letzten Sommer vermutet hatten: die Impfpflicht durch die Hintertür? Und wer genau war mit diesem kryptischen „man“ in Merkels Satz eigentlich gemeint – jener „man“, der dann „bestimmte Dinge“ verbieten könne? Die Unternehmen? Die Bundesregierung? Die Regierungen anderer Staaten?

Auch eine Nachfrage auf der heutigen Regierungspressekonferenz brachte nicht mehr Licht ins Dunkel. Es sei weiterhin Politik der Bundesregierung, auf eine freiwillige Impfung zu setzen, so Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittag. „Wir werben für Vertrauen für die Impfstoffe.“ Was dann eventuell im Spätsommer sei, wenn man allen Menschen ein Impfangebot gemacht habe, das stünde jetzt nicht zur Debatte. „Jetzt haben wir eine andere Lage.“

Es ist das übliche Agieren im Graubereich, das Spiel mit Andeutungen und mit scheinbaren Missverständnissen, das „Gaslighting“, wie man das wohl neudeutsch nennen würde. Solche „Psychospielchen“ sind leider typisch geworden für das Durchlavieren der Bundesregierung. „Wo das Müssen beginnt, hört das Fürchten auf“, soll schon Otto von Bismarck gesagt haben. Der allerdings war nicht gerade ein Leuchtturm in Sachen Grundrechte und demokratischer Inklusion. Wer eine zwanglose Zwangsdrohung in den Raum stellt, der muss sich nicht wundern, wenn er den Bürger selbst zur besten Sendezeit nicht mehr erreicht.

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