Meine erste Begegnung mit Angela Merkel - Als „Kohls Mädchen“ die Ehrenformation abschritt

Unser Autor begegnete der späteren Bundeskanzlerin zum ersten Mal 1991 auf einer USA-Reise mit Kanzler Helmut Kohl. In San Francisco trug Merkel Schlabberrock und Sandalen. Auf dem Rückflug versprach Kohl ihr, sie als stellvertretende Bundesvorsitzende vorzuschlagen. Danach war ihre Karriere nicht mehr aufzuhalten.

„Die Ministerin muss noch wachsen“: Angela Merkel und Helmut Kohl / dpa
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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16 Jahre lang war Angela Merkel Kanzlerin. Persönlich kenne ich sie seit 15 Jahren und drei Monaten, seit einer USA-Reise von Bundeskanzler Helmut Kohl. Mein erster Eindruck von der damaligen Ministerin für Frauen und Jugend: freundlich, hellwach und zugleich bestens informiert, ausgestattet mit einem trockenen Humor. Mir war klar, dass diese junge Ostdeutsche in der Politik ihren Weg gehen würde. Aber ich hätte hoch gewettet, dass sie niemals Kanzler wird. Den dafür notwendigen unbedingten Machtwillen konnte man bei ihr nicht – besser: noch nicht – erkennen.

Es war sehr heiß, als wir am 11. September auf dem Kölner Regierungsflughafen den Flieger bestiegen. Das erste Ziel: San Francisco. Dort sollte Kohl an der University of California in Berkeley mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet werden. Auf dem Weg dorthin musste ein Zwischenstopp auf der Nato-Basis Goose Bay im nordöstlichen Kanada eingelegt werden. Denn die alte Maschine schaffte es nicht direkt aus Deutschland an die amerikanische Westküste. Von dort ging es nach Los Angeles und dann nach Washington D.C.

An Angela Merkel fiel mir sofort ihre Kleidung auf: ein Schlabberrock, blaue Bluse, die nackten Füße in Sandalen. Neben Hannelore Kohl oder Bundestagsvizepräsidentin Michaela Geiger (CSU), beide sportlich-elegant, wirkte die junge Ministerin wie eine arme Verwandte.

Im Schatten Kohls

Vor der Zwischenlandung wies Kohls Büroleiter Walter Neuer die „Frau Ministerin“ und die mitreisenden „Herren Minister“ darauf hin, dass es am 19. nördlichen Breitengrad um 17 Uhr recht kühl sei; er empfahl Jackett oder Jacke. Das löste bei Merkel Aktivität aus. Aus ihrer großen Tasche fischte sie ein paar Wollsocken und eine Strickweste heraus, wappnete sich so gegen die kanadische Kühle.

Als die Maschine aufsetzte, stand schon eine Ehrenformation der Bundeswehr samt Kapelle bereit. Der Kanzler schritt über den roten Teppich, einen halben Schritt hinter ihm folgte die „Ministerin“, wie Kohl sie gern titulierte. Merkel fühlte sich sichtlich unwohl, schlurfte mit eingezogenen Schultern und in Sandalen dem Koloss Kohl hinterher. Bei diesem Anblick wäre niemand auf die Idee gekommen, hier sei die Politikerin zu sehen, die Jahre später zur mächtigsten Frau Europas aufsteigen würde. So kann man sich täuschen.

Als Merkel zwölf Jahre später als CDU-Vorsitzende in einem längeren Interview darüber sinnierte, welch große Rolle Äußerlichkeiten bei der Beurteilung von Politikerinnen spielten, kam ich auf ihr Outfit von damals zu sprechen. Ihre erste Antwort: „Wirklich? Bilden Sie sich das nicht nur ein?“ Als ich mit Details aufwartete, entgegnete sie: „Ich kann mich daran gar nicht mehr erinnern.“ Immerhin: Sie bezweifelte nicht mehr, dass ich keine Erinnerungslücken hatte.

Strickweste statt Escada

Merkels Äußeres – Frisur und Kleidung – war damals häufig Gegenstand von abfälligen, ja gehässigen Bemerkungen – von Männern, aber auch von Frauen. Ein mitreisender CDU-Minister erklärte mir damals Merkels Optik sogar strategisch: Die ostdeutsche CDU-Politikerin Sabine Bergmann-Pohl war in der Nachwendezeit recht bald durch ihre schicken Escada-Kostüme aufgefallen. Das komme bei den ostdeutschen Frauen, so der westdeutsche Minister, aber nicht gut an. Deshalb sei Merkels Strickwesten-Image mit Blick auf die neuen Länder gar nicht schlecht.

Merkel hat in dem Interview erzählt, sie habe bei der Diskussion um ihre Kleidung das Gefühl gehabt, sie solle in so etwas wie das in der DDR für sogenannte Karrierefrauen bestimmte Kostüm „Präsent 20“ gesteckt werden: „voll aus Kunststoff, absolut knitterfrei und absolut grässlich“. Ihre „modische Annäherung“ sei deshalb „sehr, sehr vorsichtig“ erfolgt. Die USA-Reise war eine kleine Etappe auf dem Weg zur Hosenanzugträgerin. Michaela Geiger ging in San Francisco mit Merkel shoppen, um sie modisch für den geplanten Besuch bei Präsident George Bush sen. aufzurüsten.

Hellwach und stets auf der Hut

Natürlich wurde Merkel von den Mitreisenden stärker beobachtet als andere Politiker, die der Kanzler eingeladen hatte. Sie wiederum war stets auf der Hut, nichts Falsches zu sagen. Kohl behandelte sie wie ein mit seiner Mitarbeiterin zufriedener Chef, zeigte echtes Interesse an ihrem früheren Leben in der DDR. Da der Kanzler es vorzog, auf Reisen in einem geräumigen Bus zu thronen, statt sich in eine Limousine zu zwängen, wurden die Mitreisenden zu Mithörenden.

Einmal wollte Kohl von der Ministerin wissen, wie denn zu DDR-Zeiten in ihrer Familie und in ihrem Freundeskreis über ihn gesprochen worden sei. Offenbar nicht nur Unkritisches. Merkel flüchtete sich nämlich in die Antwort, in ihrem Umfeld sei viel über Helmut Schmidt gesprochen worden. Kniffligen Fragen auszuweichen, diese Kunst beherrschte sie schon als Polit-Neuling.

Kohl war über diese Antwort nicht erbaut, fand sich aber damit ab. Wahrscheinich hat es ihm insgeheim sogar imponiert, dass Merkel nicht einfach behauptete, in Familie und Freundeskreis sei über ihn nur in den höchsten Tönen gesprochen worden.

Zur Not isst sie sogar Eis

Merkel war geschmeidig genug, sich anzupassen. Bei einem Abendessen in Los Angeles mit dem „harten Kern“ der Kohl-Delegation ließ der Kanzler eine große Eistorte auffahren und verteilte – ganz „pater familias“ – die Stücke persönlich. Ein besonders großes bekam Merkel ab: „Die Ministerin muss noch wachsen.“ Und die aß den „Bombensplitter“ mit Blick auf die Golden Gate Bridge tapfer auf.

Etwa ein Jahr später ließ ich bei einem Essen in Frankfurt ebenfalls Eis servieren. Doch zu meinem Erstaunen kratzte Merkel nur mit dem Löffel an der Oberfläche und ließ dieses Dessert mehr oder weniger stehen. Später bekannte sie, eigentlich möge sie kein Eis. Als ich erwiderte, ich hätte sie schon beim Verzehr einer sehr großen Portion beobachtet, antwortete sie grinsend, das könne nur in der Nähe von Helmut Kohl gewesen sein. Ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit zeichnete später auch die Politik der Kanzlerin aus.

„Ministerin, kommen Sie mal“

Wenn Kohl ins Ausland reiste, wurde stets mindestens ein Tag für Sightseeing eingeplant. Denn er wollte – aus gutem Grund – nicht nur Amtssitze von innen kennenlernen, sondern wenigstens einen kleinen Eindruck von Land und Leuten gewinnen. Wo immer Kohl auftauchte – ob in San Francisco, Los Angeles oder Washington D.C. –, kamen deutsche Touristen auf ihn zu, nicht zuletzt ostdeutsche. Die wollten dem Kanzler der Einheit die Hand schütteln, was dieser auch bereitwillig mitmachte. Aber kaum hatte er Ostdeutsche ausgemacht, rief er nach Merkel: „Ministerin, kommen Sie mal!“ Dann präsentierte er sie wie Vater, der stolz auf seine Tochter ist.

Beim Besuch des Yosemite-Nationalparks wies Kohl sie auf die riesigen Mammutbäume hin. „So was haben Sie noch nie gesehen. Das gab’s in der DDR nicht“, tönte der Kanzler. Wobei er mit letzterem Recht hatte, mit ersterem aber falsch lag. Merkel trocken: „Ich war schon mal hier.“ Kohl verschlug es die Sprache. Aber Merkel klärte ihn auf. Im Frühjahr 1990, noch vor der formellem Wiedervereinigung, hatte ihr Mann Joachim Sauer die neue Reisefreiheit genutzt, um die Einladung zu einer wissenschaftlichen Tagung in San Francisco anzunehmen. Sie ergriff diese erste Chance, sich den Traum vieler DDR-Bürger von einer Amerikareise zu erfüllen, und flog kurzerhand mit. Deshalb konnte Merkel ihren Posten als stellvertretende Sprecherin des ersten frei gewählten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière erst mit ein paar Tagen Verspätung antreten.

Kohl, der es vorher noch nie an die Westküste der USA geschafft hatte, musste zur Kenntnis nehmen, dass Merkel mit einem DDR-Pass schon vor ihm dagewesen war. Das machte dem Kanzler der Einheit sichtlich zu schaffen.

Beförderung auf dem Rückflug

Es war die erste Reise Merkels in Kohls Begleittross – und eine wichtige dazu. Auf dem Rückflug weihte Kohl die wenigen mitreisenden Journalisten – wir waren nur zu dritt – in eine wichtige Personalie ein: De Maizière werde wegen seiner Stasi-Verstrickungen das Amt als stellvertretender Parteivorsitzender niederlegen. Und er werde Merkel dem CDU-Parteitag als neue, einzige stellvertretende Bundesvorsitzende vorschlagen.

Noch nicht einmal ein Jahr nach ihrer Wahl in den Bundestag und ihrer Berufung ins Kabinett machte Merkel auch parteiintern einen großen Schritt nach vorn. 15 Jahre später war sie es, die Kohl einlud – und zwar nach Berlin ins Kanzleramt. 

Zum Glück hat mir während dieser USA-Reise niemand die Wette angeboten, „Kohls Mädchen“ werde eines Tages die erste Bundeskanzlerin sein. Das hat mir viel Geld erspart.

Der Autor veröffentlichte 2004 die einzige autorisierte Biografie der späteren Bundeskanzlerin: „Angela Merkel – Mein Weg. Angela Merkel im Gespräch mit Hugo Müller-Vogg.“ Die aktualisierte Paperbackausgabe erschien 2005. Es folgten eine französische (2005) und eine chinesische Ausgabe (2006).

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