Brief der Berliner Amtsärzte - „Der sklavische Fokus auf die Inzidenz ist falsch“

Alle zwölf Berliner Amtsärzte fordern eine Abkehr von der Inzidenz als primären Richtwert in der Corona-Pandemie. Im Interview erklärt Detlef Wagner, Bezirksstadtrat für Gesundheit, warum die Politik sich nicht sklavisch an Zahlen halten sollte.

Die Gesundheitsämter nehmen in der Coronakrise eine zentrale Rolle ein / dpa
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Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Detlef Wagner ist Bezirksstadtrat für Soziales und Gesundheit in Charlottenburg-Wilmersdorf, Berlin.

Die Amtsärzte Berlins fordern in einem Schreiben an den Senat die Abkehr von der Inzidenz als alleinigem Richtwert für Lockerungen. Welche Rolle haben Sie bei diesem Brief gespielt?

Ich habe den Brief nicht geschrieben, aber verantworte das Handeln meines Gesundheitsamtes.

Und was war die Motivation Ihres Gesundheitsamtes?

Der Brief selbst stammt von allen zwölf Amtsärzten, die die Senatsverwaltung darauf aufmerksam machen wollten, dass das Festhalten an fixen Inzidenzen allem widerspricht, was wir mittlerweile in der Praxis gelernt haben. 

Jeden Tag wird die aktuelle Corona-Inzidenz berichtet. Jetzt sagen Sie, dass die Zahl nicht so wichtig sei. Erklären Sie bitte, was Sie meinen.

Keiner bezweifelt, dass diese Zahl ein wichtiges Instrument ist. Es darf nur nicht das alleinige sein. Lassen Sie mich die Probleme der Betrachtung mit der Inzidenz am mittlerweile sehr bekannten Beispiel der Fleischfabrik von Tönnies zeigen: Kurzfristig gab es dort eine riesig hohe Inzidenzzahl, die zu Sperrmaßnahmen im gesamten Kreis drumherum geführt hat. Ein lokales Gesundheitsamt hätte den kleinen Bereich der Fabrik absperren können und das wäre es dann. Die umliegenden hätten nicht unter die Maßnahmen fallen müssen. Mit der aktuellen Herangehensweise hätte jedoch der gleiche Fall fast ein ganzes Bundesland in einen verschärften Lockdown getrieben. Lokale Ereignisse verzerren die Inzidenz. 

Fleischfabriken sind jedoch sehr spezielle Fälle.

Nehmen Sie den Fall der Ansteckungsrisiken bei Kindern. Christian Drosten kam etwa zum Ergebnis, dass die Ansteckungsgefahr bei den 1.-4. Klassen als sehr niedrig eingeschätzt wird. Deswegen ist Berlin bei der Öffnung der Grundschulen vorausgegangen. Nach der allgemeinen Linie, dass nur bei sinkender Inzidenz gelockert werden darf, wäre das nicht möglich gewesen, obwohl wir genau wissen, dass die Schulöffnung an der Inzidenz nicht Schuld ist. Es sind alles kleinere Einzelfälle, die aber das große Ganze maßgeblich beeinflussen.

Was ist Ihr Ansatz?

Wir müssen bei der Bevölkerung das Verständnis hervorrufen, dass wir langfristig mit dem Virus leben müssen. Das heißt, Masken und Abstandhalten werden uns noch lange begleiten. Neben dem Impfen als flankierende Maßnahme ist die wichtigste Waffe gegen die Pandemie, dass wir die Menschen mitnehmen und sie sich an die Regeln dann auch halten. Rein nach den Zahlen müssten wir den ÖPNV in Berlin sofort einstellen. An keiner Stelle begegnen sich so viele Menschen. Aber da man kaum einen Passagier ohne adäquate Maske sieht, zeigen die Zahlen, dass wir den ÖPNV als Infektionsherd ausschließen können. 

Wieso melden Sie sich erst jetzt mit Ihrem Brief?

Detlef Wagner / privat

Wir haben an einer Stelle einen ganz großen Fehler gemacht. Als es hieß, 35 ist die neue 50. Das war der Anlass für uns. Die ganze Zeit wurde vermittelt, dass wir ab 50 öffnen können und als wir den Punkt schneller erreicht haben als prognostiziert, haben wir uns mit der 35 den nächsten genommen. Das ist völlig misslungene Kommunikation mit der Bevölkerung. Wenn man so sklavisch an den Zahlen festhält, dann hätte man in der Konsequenz auch sklavisch umsetzen müssen. Wir sollten uns aber eben nicht sklavisch an Zahlen halten, sondern die Amtsärzte vor Ort flexibel entscheiden lassen.

Die Bundespolitik sollte sich also zurückhalten und den Zuständigen vor Ort eine lange Leine lassen?

Genau. So steht es schließlich auch im Infektionsschutzgesetz. Zentralistische Steuerung ist oft verspätet.

Wie schätzen Sie dann die immer wieder stattfindenden Ministerpräsidentenkonferenzen ein?

Grundsätzlich ist es gut, sich auszutauschen. Am Ende muss man aber auf die Kompetenz vor Ort vertrauen. Die Amtsärzte können viel besser bewerten, wo es Verschärfungsbedarf gibt und wo Lockerungen möglich sind.

In dem Brief geht es auch um die „NoCovid“-Strategie. Sie strebt eine Null-Inzidenz an. Warum sprechen Sie sich gegen diesen Ansatz aus?

Wenn Sie die Lombardei oder Teile Spaniens und Frankreichs betrachten, dann sehen Sie, dass dort die Gesundheitssysteme überlastet sind. Dort muss wirklich hart reagiert werden. Aber wir sind hier in Deutschland in einer anderen Situation. Wir müssen die Maßnahmen derzeit schlicht nicht hochschrauben. Im Gegenteil: Dadurch, dass wir uns nur auf Corona konzentrieren, verlieren wir andere große Probleme mittlerweile aus den Augen. Denken Sie nur an die Kinder, die so lange nicht in die Schule können. Alles Handeln dem Versuch, das Corona-Virus so weit wie möglich herunterzudrücken, unterzuordnen, ist nicht gerechtfertigt. 

Wie sieht es ganz konkret bei Ihnen in Charlottenburg-Wilmersdorf aus? Funktioniert bei Ihnen die Kontaktnachverfolgung?

Ja, wir konnten bereits bei Inzidenzen von 70 bis 80 wieder nachverfolgen.

Oft wurde das Argument vorgebracht, die Gesundheitsämter könnten erst ab der 50 effektiv nachverfolgen. Ist das ein Mythos?

Da muss man auf die einzelnen Gesundheitsämter schauen. Die haben alle unterschiedliche Möglichkeiten, was technische Ausrüstung und Personal angeht. Indem man aber, wie wir, mehr Menschen einstellt, kann man auch höhere Inzidenzen regeln. 

Man hört immer wieder, die Gesundheitsämter würden kaputt gespart. Wie konnten Sie dann Leute einstellen?

Der Berliner Senat hat beschlossen, dass wir alles Geld der Welt ausgeben können, solange es sinnvoll der Pandemiebekämpfung dient. Da haben wir den Senat beim Wort genommen und gesagt: Dann gilt das auch für befristet eingestelltes Personal. Und wir haben ein großes Glück gehabt - das gilt aber auch nicht nur in Berlin: Unser Gesundheitsamt wurde auch nicht so kaputt gespart. 

Sie befürchten also nicht, nach Corona fallengelassen zu werden?

Ich glaube, Corona ist vorbei, wenn der erste Beamte aus dem Finanzministerium kommt und sagt: Jetzt hätten wir gern das Geld wieder. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Jakob Arnold

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