Brexit, Backstop und Boris - Nur zu Besuch

Boris Johnson hat seine Charme-Offensive in Berlin und Paris gestartet. Die Reaktionen sind kühl. Knackpunkt ist und bleibt der Backstop. Doch dem britischen Premierminister geht es bei seinem Brexit-Besuch vor allem um britische Innenpolitik und nicht um die EU

Wir sitzen das aus? Boris Johnson und Angela Merkel / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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„Wir schaffen das!“, sagte Boris Johnson zu Angela Merkel bei ihrem Treffen in Berlin und meinte damit „die Kleinigkeit, die Brexit heißt“. Dies brachte der neue britische Premierminister so humorvoll vor, dass die deutsche Kanzlerin über die Wiederkehr ihres durchaus umstrittenen Ausspruchs aus der Zeit der Flüchtlingskrise schmunzeln musste – auch wenn der britische Kollege sie eigentlich damit brüskierte. Merkel meinte eher vage, man könne einen Kompromiss in den „kommenden dreißig Tagen erzielen“, sollte Kollege Boris neue Vorschläge präsentierten.

Die britische Presse blieb daraufhin in einer Art Paralleluniversum. „Brexit Boost for Boris“, schrieb das britische Boulevardblatt „The Sun“ über das Treffen zwischen Boris Johnson und Angela Merkel am Mittwoch Abend in Berlin: „Brexit-Schub für Boris“. Selbst der brexitkritische „Guardian“ titelte am Donnerstag: „Merkel gibt dem Premierminister eine Frist von dreißig Tagen, um einen Austritt ohne Abkommen abzuwenden.“

Berlin, Paris und zurück

Der Charme-Trip des britischen Premiers ist ein erstes Anzeichen dafür, dass auch unter Chefkoch Boris nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Seit Juli im Amt, hat der neue britische Premierminister seine ersten Wochen damit zugebracht, kämpferische Töne zu spucken: „Brexit am 31. Oktober – mit oder ohne Deal“ gab er als Motto aus und bedeutete Land und Leuten, dass er es mit dem Brexit bitterernst meinte.

Noch vor ein paar Tagen hatte Boris Johnson getönt, dass er keine Besuche in den europäischen Staatskanzleien anstrebe, solange die EU neuen Verhandlungen über den Scheidungsvertrag nicht zustimme. Das aber hat die EU klar abgelehnt. Seit November 2018 gibt es eine fertige Austrittsvereinbarung, die nicht mehr aufgeschnürt werden soll. In Paris wird Boris Johnson am Donnerstag seine Charme-Offensive mit Emmanuel Macron fortsetzen wollen. Inhaltlich wird aber wohl auch der französische Präsident hart bleiben: „Wir möchten den Briten gerne helfen, mit ihrer internen, demokratischen Krise umzugehen, aber wir werden uns nicht als Geisel nehmen lassen“, sagte Macron vor Journalisten.

Kein Backstop für Boris

Denn Boris Johnson verlangt, dass die EU den „antidemokratischen Backstop“ zu Nordirland ersatzlos aus dem Austrittsabkommen streicht. Das wird die EU aber nicht tun können, da der „Backstop“ die Notfallsicherung für das nordirische Friedensabkommen von 1998 darstellt, das die EU als Garantiemacht des nicht gefährden will.

Zur Erinnerung: Der „Backstop“ wurde im November 2017 geboren, als Theresa Mays Brexitgesandte mit EU-Kommissar Michel Barnier einen Scheidungsvertrag ausverhandelten. In einem Arbeitspapier Barniers hieß es damals: „Es erscheint wichtig, dass das Vereinigte Königreich garantiert, dass es keine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland geben wird, keine Abweichung von den EU-Bestimmungen des Binnenmarktes und der Zollunion, um das Karfreitagsabkommen zu schützen.“ Gäbe es eine harte Grenze, weil Zollkontrollen notwendig würden, könnten irische Republikaner wieder wie früher zu gewalttätigen Mitteln greifen, um die offene Grenze zu verteidigen, die ja die Grundlage des fragilen Friedens zwischen irischen Republikanern und protestantischen Unionisten darstellt.

Es geht um den Welthandel

Der Begriff „Backstop“ verfestigte sich erst später im Beamtenenglisch. Um ihn kreist heute eine tief ideologische Debatte, die zeigt, wie unvereinbar die Träume der „Brexiteers“ für ihr Vereinigtes Königreich sind. Theresa May versprach den Briten einen Brexit, bei dem die grüne Grenze auf der irischen Insel gewahrt bleiben, das Vereinigte Königreich aber aus Zollunion und Binnenmarkt austreten würde.

Will man aber eine grüne Grenze, dann muss zumindest Nordirland im EU-Binnenmarkt und der Zollunion bleiben. Das lehnte Theresa May ab. Sie wollte keine neue Handelsgrenze im irischen Meer zwischen Nordirland und Großbritannien schaffen. Deshalb gilt der „Backstop“ im Scheidungsabkommen, dem May im November 2018 zustimmte, auf Wunsch Londons heute für das gesamte Königreich und nicht nur für Nordirland. Bleibt aber das gesamte Vereinigte Königreich vorerst de facto im EU-Binnenmarkt und der Zollunion, kann Großbritannien keine von der EU unabhängige Welthandelspolitik betreiben.

Kein Wunder, dass die „Brexiteers“ gegen den „Backstop“ Sturm laufen: Er zeigt, dass die Briten nicht aus der EU austreten können, ohne entweder das Friedensabkommen in Nordirland zu gefährden, die Einheit des Vereinigten Königreichs zu kompromittieren oder ihre neue Freiheit bei der Aushandlung von Freihandelsabkommen mit Großmächten wie den USA genießen zu können.

Widerstand im britischen Parlament

Um von dieser komplexen Realität abzulenken, hat Boris Johnson sich dem superharten Brexit verschrieben. Er will ohne Abkommen austreten, wenn die EU sich nicht bewegt. Weder in Berlin noch in Paris gibt es für diese Position Verständnis. Hinter den Kulissen wird heftig über einen Kompromiss beraten. Könnte man in die politische Erklärung über die Zukunft der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU hineinschreiben, dass der „Backstop“ nicht für immer gilt, sondern nur temporär? Die politische Erklärung ist ein legal nicht bindender Zusatz zum Scheidungsabkommen. So könnte Boris Johnson Gesicht wahren und doch noch parlamentarische Zustimmung zu einem Austritt mit Abkommen erreichen.

Selbst wenn Boris Johnson und die EU-27 sich in den kommenden dreißig Tagen  auf einen kosmetischen Kompromiss einigen, ist längst noch nicht klar, wie das britische Parlament darauf reagieren würde. Es bleibt also alles in Schwebe. Obwohl es dafür eigentlich keine Zeit gibt. In London versuchen die Gegner eines harten Brexit auch während der Sommerpause des britischen Unterhauses den Widerstand zu sammeln, um im September Johnson über Parteigrenzen hinweg zu stoppen.

Wildern bei Nigel Farage

Innenpolitisch geht die Rechnung des britischen Premierministers – zur Zeit zumindest – allerdings auf. Nach den neuesten Umfragen gibt es einen gehörigen „Boris Bounce“, einen Boris-Sprung in der Wählergunst. Und zwar für die Tories nach oben. Beim Umfrageinstitut Yougov hat der neue Premierminister mit seinem harten Brexitkurs kräftig bei den Wählern der Brexitpartei von Nigel Farage gewildert. Unter den Brexitbefürwortern hat Johnson jetzt 46 Prozent zu sich gezogen und nur noch 30 Prozent der „Leavers“ wollen Farage wählen. Im Frühsommer waren es noch 56 Prozent. Die Tories liegen jetzt bei dreißig Prozent gegenüber vierzehn Prozent für die Brexitpartei.

„Ich fürchte ein abgekartetes Spiel“, kommentierte Nigel Farage Johnsons EU-Charmeoffensive auch gleich im „Daily Telegraph“: „Erst spielte er den harten Brexiteer, jetzt kommt der wahre Johnson zum Vorschein: Jener, der im März für den Scheidungsvertrag gestimmt hat.“

Die Brexitparty ist der Grund, warum Boris Johnson die konservative Partei so weit nach rechts ins extreme Brexitlager gezogen hat. Sollte Großbritannien tatsächlich am 31. Oktober dieses Jahres aus der EU ohne Abkommen austreten, erwarten fast alle Experten zwar große Verunsicherung unter der britischen Bevölkerung, wirtschaftlichen Schaden und gehöriges Chaos an den Grenzen. Doch bei den danach zu erwartenden Neuwahlen könnte sich der überstürzte Austritt aus der EU für Boris Johnson auszahlen: Für die Brexit-Partei muss nach dem Brexit jedenfalls niemand mehr zu stimmen.

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