Brandenburg - Land der Unglücklichen

In keinem anderen Bundesland sind die Menschen unzufriedener als in Brandenburg. Für die Landtagswahl im September verheißt das nichts Gutes. Dabei geht es mit der Wirtschaft bergauf. Selbst Brandenburg-Kritiker Rainald Grebe hat sich dort ein Haus gekauft. Was ist da los?

Erschienen in Ausgabe
Hannelore Wodtke vor dem Tagebau in der Lausitz/ Fotos: Nikita Teryoshin
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Ein Loch in der Erde. 100 Meter tief. Es gibt kaum ein Bild, das besser beschreibt, was Hannelore Wodtke empfindet, wenn sie an ihre Zukunft denkt. Der Tagebau Welzow-Süd in der Niederlausitz, Wodtke, eine jung gebliebene Endsechzigerin, steht am Rand des Abbaugebiets und starrt in den Abgrund. Eine Förderbrücke liegt darin wie ein umgekippter Eiffelturm. Ihre Förderbänder stehen heute still. Es ist ein gespenstisches Szenario.

Hannelore Wodtke kennt den Anblick. Ihr Haus liegt nicht weit von der Kante des Loches entfernt, nur 400 Meter Luftlinie. Noch. Denn wenn es nach den Plänen der Lausitzer Energie Bergbau AG (LEAG) geht, könnte die Abrisskante bedrohlich nahe rücken. Ihre Nachbarschaft soll „plattgemacht“ werden, so formuliert sie es. Ihr eigenes Haus bliebe zwar verschont, aber es wäre von drei Seiten umzingelt von Lärm und Dreck. Sie sagt: „Was wäre das für ein Leben?“

„Das Glück wohnt nicht in Brandenburg“

Der Südosten von Brandenburg. Es ist eine Region, die von der Landkarte radiert wird, weil sich der Braunkohletagebau immer weiter ins Land frisst – zumindest so lange, bis der Bund 2038 aus der Kohle aussteigt. Die Braunkohle aus Welzow gilt als eine der besten in ganz Deutschland. Jede zehnte verbrauchte Kilowattstunde wird von den Kraftwerken der LEAG produziert. Sie ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region. Mehr als 8000 Menschen arbeiten im Tagebau und in den drei Kraftwerken. Und deshalb beginnt diese Geschichte hier. Brandenburg wählt im September einen neuen Landtag. Und die rot-rote Landesregierung steht unter gewaltigem Druck. Denn im Glücksatlas von 2018 – einem Ranking der Bundesländer, das Wirtschaftswissenschaftler der Uni Freiburg seit 2011 im Auftrag der Deutschen Post erstellen – ist Brandenburg von allen Bundesländern auf dem letzten Platz gelandet. Daran muss man denken, wenn man mit dem Zug aus Berlin ins Kohlerevier in die Niederlausitz fährt. Und das Erste, was man sieht, wenn man in einem Nachbarort von Welzow aussteigt, ist ein fensterloses Wohnhaus, die Fassade ist noch von Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg übersät. „Das Glück wohnt nicht in Brandenburg“, schrieb die Märkische Allgemeine.

Und das wirft Fragen auf. Ein Blick in die Wirtschaftsstatistiken weckt nämlich ganz andere Erwartungen. Brandenburg war schon zu DDR-Zeiten strukturschwach, es gab die Braunkohle in der Lausitz, hier und da ein bisschen Industrie, aber sonst nur Landwirtschaft. Das war’s.

Die Toskana des Nordens

Jetzt aber geht es bergauf. Die Arbeitslosenquote hat sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre halbiert. Sie liegt nur noch bei 5,8 Prozent. Die Wirtschaftsförderung des Landes trägt Früchte. Im Speckgürtel rund um Berlin wird es langsam eng. Das Land hat begonnen, die Städte und Regionen in der zweiten Reihe zu fördern. Das spüren die Bewohner im Portemonnaie. Zwar liegt das durchschnittliche Brutto-Einkommen mit 2582 Euro deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, aber es ist höher als in allen anderen ostdeutschen Bundesländern. Woher rührt also der Frust? Warum liegt das Land in der Zufriedenheit in den Bereichen „Gesundheit“, „Arbeit“, „Wohnen und Freizeit“ ganz hinten?

Die verlassenen Dörfer sind ein fruchtbarer Boden für rechte Parolen

Brandenburg hat Vorteile, von denen Berliner nur träumen können. Das muss sogar der Mann einräumen, der dem Land einst eine Hymne eingebrockt hat, in der sich „Brandenburg“ auf „gegen einen Baum gegurkt“ reimt und „Chanel“ auf „Schlecker“. Flieder vorm Fenster, Störche auf dem Dach, eine eigene Wiese hinterm Haus – und dann diese Stille. Rainald Grebe muss es wissen. Schließlich habe er sich vor sieben Jahren ein Wochenendhaus in einem Dorf in der Uckermark gekauft, in der Toskana des Nordens, 40 Einwohner, 1000 Kühe. Besuchen kann man ihn dort nicht. Auch der Name des Dorfes muss geheim bleiben. Er sagt, er wisse ja, dass er sich mit dem Lied keine Freunde gemacht habe. „Erst macht man sich lustig über Brandenburg, und dann kauft man sich eine Hütte von dem Geld.“ Wie hat neulich jemand aus dem Dorf augenzwinkernd gesagt: „Ach, der arme Künstler.“ Nein, Grebe will lieber keine schlafenden Hunde wecken. „Nicht, dass da noch Leute hinkommen, über den Zaun gucken oder was anzünden.“

Man trifft den Entertainer und Liedermacher auf einer Wiese gegenüber einem Einkaufszentrum in Berlin-Pankow, dort, wo er vor ein paar Jahren mal hingezogen ist, als eine Beziehung in die Brüche ging. Beinahe hätte man ihn nicht erkannt in Jogginghose und Hoodie, er ist unrasiert und trägt eine Nickelbrille. Und über Brandenburg verliert er kein böses Wort. Es klingt eher besorgt, wenn er sich fragt, wie hart das Leben für die Menschen ist, die dort an 365 Tagen im Jahr leben. Schlecht bezahlte Jobs. Kein Discounter im Dorf, der nächste Arzt eine halbe Autostunde entfernt. Er sagt, gerade seien wieder zwei alte Bewohner gestorben. Grebe fragt sich, wie lange es wohl noch dauere, bis die Zugezogenen in der Mehrheit sind. Er sagt, noch stehe es 30:10.

Last Exit

Der Musiker redet über die Uckermark wie über ein Auto, mit dem man sich zwar nicht fotografieren lassen würde, weil es schon ein bisschen verbeult ist. Das man aber gerade deshalb besonders pflegt, weil dieses Auto schon so viele Unfälle überstanden hat und weil es so ein Auto kein zweites Mal gibt.

Er duzt seine Nachbarn. Doch, sagt er, man habe sich arrangiert. Er hat sie auch schon eingeladen in seine Konzerte in Berlin, sie haben ihm geholfen, sein Haus zu renovieren. Eine Hand wäscht die andere. Aber richtig dazu gehöre er nicht. Will er auch gar nicht. Er sagt, es sei der Abstand, der ihm helfe runterzufahren. „Dieses Land scheint irgendwas freizusetzen, dass ich da immer gute Ideen kriege.“ Brandenburg als Sehnsuchtsort.

Grebe lebt in Berlin, im Prenzlauer Berg. Er ist viele Wochen im Jahr unterwegs auf Tournee. Er sagt, früher habe er sich immer lustig gemacht, wenn Kollegen mit glänzenden Augen von ihren Wochenendhäusern mit ihren Sitzrasenmähern in der Pampa erzählt hätten. Er grinst verknautscht. Heute ist er Vater eines zweijährigen Kindes und selber Hausbesitzer.

Last exit, Brandenburg. Immer mehr stressgeplagte Großstädter flüchten ganz aufs Land, in die zweite Reihe. Vom „Badewanneneffekt“ spricht Friedhelm Boginski (FDP), seit 13 Jahren Bürgermeister von Eberswalde, bekannt für seine Wurst. „Irgendwann ist die Wanne in Berlin voll, und dann schwappt das Wasser über, erst in den Speckgürtel – und dann auch ins Umland.“

Jetzt sind die Städte in der zweiten Reihe dran

Dieser Punkt ist längst erreicht. Berlin hat 3,7 Millionen Einwohner und platzt aus allen Nähten. Auch im Speckgürtel – dem Brandenburger Umland, das man noch per S-Bahn oder Regionalbahn erreichen kann – wird es mit 978 238 Einwohnern langsam eng. Jetzt sind die Städte in der zweiten Reihe dran.

Eberswalde liegt strategisch günstig an der Bahnstrecke Berlin-Stettin. Das ist sein Vorteil. Deshalb steht die Stadt auf der Liste der 15 Städte, die vom Land gefördert werden. Weg vom Gießkannenprinzip, hin zur Bildung von „Wirtschaftskernen“, lautet die Marschroute. Ein Landesentwicklungsplan, entworfen von den Verwaltungen von Berlin und Brandenburg, gibt sie vor.

Eberswalde wächst. War die Zahl der Einwohner nach der Wende noch von 52 000 auf 39 000 gesunken, so steigt sie seit 2014 wieder leicht an. 42 000 Bürger hat die Stadt heute. Friedhelm Boginski konstatiert es zufrieden. Er ist 63, gebürtiger Brandenburger aus dem Oderbruch. Ein charismatischer Glatzkopf, der Schulleiter war, bevor er sich in das Abenteuer Politik gestürzt hat. Jetzt steht er in seinem Büro im Rathaus von Eberswalde und schaut auf den Marktplatz. Familien mit Kinderwagen laufen vorbei. Er sagt, vor ein paar Jahren hätten sie noch überlegt, alte Kitas abzureißen, mangels Nachfrage. Jetzt blühe die Stadt wieder auf.

Das Glück, es wohnt also doch in Brandenburg. Aber es kommt nicht von hier. Es sind Neubürger aus dem Speckgürtel oder aus Berlin – und in den östlichen Regionen des Landes auch aus Polen. Prallen da nicht Welten aufeinander? Hier die Eingeborenen, die jetzt länger auf einen Kitaplatz warten müssen? Dort die Großstädter, die die Nase ob der würzigen Landluft und der Küche rümpfen, die immer noch kalorienreicher als in Berlin ist?

Berliner Verhältnisse

Boginski fallen keine Probleme ein. Und wenn doch, sagt er das nicht. Aber Eberswalde wachse eben nur langsam. Jedes Jahr ein paar 200 Einwohner mehr, so viele könne man schon verkraften, sagt er mit Blick auf die Nachbarstadt Bernau. Deren Einwohnerzahl hat sich seit der Wende auf 40 000 Einwohner mehr als verdoppelt – zum Leidwesen der Einheimischen. Bauplätze sind auch hier inzwischen Mangelware. Verstopfte Straßen. Und kein Verkehrskonzept in Sicht. Berliner Verhältnisse.

Sebastian Fröschke, 32, aus Finsterwalde („Dusterbusch“) kennt beide Seiten. Als Zugbegleiter der Ostdeutschen Eisenbahn GmBH pendelt der gelernte Gärtner regelmäßig auf der Strecke Berlin-Cottbus hin und her. Ein Mann mit Hipster-Bart und grün-goldener Designer-Brille, der so gar nicht ins Klischee des bodenständigen Brandenburgers passt. Er fliegt gern in der Weltgeschichte herum. Noch lieber aber unterhält er seine Fahrgäste. „Willkommen im Buletten-Express nach Berlin“, das ist so eine Fröschke-Durchsage. „Wir halten gleich in der Weltmetropole Lübbenau.“

 In Neu-Haidemühl leben heute die umgesiedelten Bewohner

Gelächter in Wagen 1. Solche Sprüche lockern die Atmosphäre. Und das, sagt Fröschke, sei manchmal auch nötig. Denn sein Zug fahre nur einmal pro Stunde. So sehen es die Verträge mit den Geldgebern vor, die Länder Berlin und Brandenburg. Mehr gäben deren Zuschüsse nicht her. Fröschke seufzt. Er muss die Folgen dieser Sparpolitik ausbaden. Die vier Wagen seines Zuges seien regelmäßig überfüllt, sagt er. „Die Leute sitzen dann schon auf der Treppe oder auf dem Boden.“ Die Laune hebe das nicht.

Meistens seien es die Berliner, die ihn dann anschnauzten. Er sagt, er erkenne sie schon an ihrem Outfit. „Die Business-Kasper aus Mitte tragen Krawatte, Hemd und Sakko, die Möchtegern-Berliner aus Falkensee Poloshirts und die Nase hoch.“ Sebastian Fröschke hat seine eigene Strategie entwickelt, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Er gefällt sich in der Rolle als Unterhalter. Manche nerve das vielleicht, sagt er. Aber am Heiligabend habe er auch die ewigen Nörgler überzeugt. „Da habe ich ,Driving Home for Chrismas‘ gespielt und ein Weihnachtsgedicht vorgelesen.“ Von Fontane, natürlich. „Ich bin schließlich Brandenburger.“

„Herr Wichmann aus der dritten Reihe“

Das Glück, es steckt manchmal da, wo man es am allerwenigsten vermutet. Und bei manchen klopft es auch an die Tür. Henryk Wichmann ist das passiert. Er war bis Ende 2018 stellvertretender Fraktionschef der CDU im Brandenburger Landtag. Dann legte er für viele überraschend sein Mandat und alle Parteiämter nieder, weil er ein Angebot bekam, von dem er sagt, er habe es einfach nicht ablehnen können. Endlich nicht mehr nur reden und Anträge stellen, die dann von der Regierung vom Tisch gewischt werden. Endlich selber gestalten. Wichmann ist jetzt Sozialdezernent in der Uckermark. Er ist verantwortlich für Kitas, Schulen und Jobcenter.

Ein Mann, der das Haar seitengescheitelt trägt und das Herz auf der Zunge. Viele kennen ihn schon aus dem Kino. Er ist „Herr Wichmann von der CDU“ und „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“, Protagonist zweier Dokumentarfilme, die der mehrfach preisgekrönte Regisseur Andreas Dresen („Gundermann“, „Sommer vorm Balkon“) über ihn gedreht hat, auch er ein Brandenburger.

Sie zeigen „das ärmste Würstchen, das die deutsche Politik aufzubieten hat“, hat der Spiegel mal über Wichmann geschrieben. Einen jungen Mann, der erst schier chancenlos um seinen Einzug in den Landtag kämpfte und dann, als er sein Ziel erreicht hat, mit nicht nachlassendem Schwung von Termin zu Termin hetzte. Dieser Wichmann sitzt jetzt am Steuer seines schwarzen VW Passats und fährt über die Autobahn A 11 zurück von einem Termin in Berlin nach Prenzlau, wo sein Schreibtisch steht in einer umgebauten russischen Kaserne.

Wichmann sagt, er habe gar nicht gewusst, wer Andreas Dresen ist. Der habe irgendwann vor seiner Tür gestanden. In Jogginghose. Er sei aus allen Wolken gefallen, als der erste Film ins Kino gekommen sei. Aber die Filme hätten ihm ja nicht geschadet.

Was ist mit der Peripherie?

Im Gegenteil, der Film habe gezeigt, wie sich der Politiker die Hacken für einen Job abgerannt hat, der nicht besonders gut bezahlt worden sei. 4500 Euro für eine 70-Stunden-Woche: Henryk Wichmann nahm das in Kauf. Er passt nicht ins Klischee des notorischen Nörglers. Man darf ihn sich als einen Brandenburger vorstellen, der für seinen Job brennt. Der, wie es Andreas Dresen in seinem zweiten Film süffisant bemerkte, dorthin geht, wo es anderen wehtut: „Zu den Bürgern.“

Als Vorsitzender des Petitionsausschusses hat Wichmann jedes Jahr bis zu 1000 Anträge bearbeitet. 80 in zwei Wochen. Viele Bürger hat er persönlich getroffen. Wenn es also in Brandenburg jemanden gibt, der die Frage beantworten kann, was die Brandenburger so unzufrieden macht, dann ist er es.

Wichmann hat Berlin auf der A 11 hinter sich gelassen. Die ersten Windräder tauchen auf. Die Landschaft wellt sich sanft, je weiter er nach Norden kommt. Die Uckermark. 5000 Quadratkilometer. So groß wie das Saarland. Hier ist er aufgewachsen. Hier lebt er auch heute noch mit seiner Frau und den vier Töchtern. Und hier ist jetzt auch sein Büro.

Als Sozialdezernent, sagt er, habe er es mit Menschen zu tun, die sich als Bürger zweiter Klasse fühlen. Hartz-IV-Empfänger zum Beispiel. Dass die Arbeitslosenquote auf einen historischen Tiefststand gesunken ist, davon hat er in der Uckermark noch nichts gemerkt und auch nichts von den blühenden Landschaften, die sein Idol, Alt-Kanzler Helmut Kohl, dem Osten einst versprochen hatte. Der Prozess der Wiedervereinigung sei ins Stocken geraten. „Nach 30 Jahren müssten wir die Renten- und Gehälterangleichung doch langsam mal hinkriegen.“ Brandenburg entwickle sich sehr unterschiedlich. Und das liege auch an dem Landesentwicklungsplan. Der nämlich fördere nur die Regionen, die durch ihre Verkehrslage ohnehin schon einen Vorteil hätten. Was aber sei mit der Peripherie?

Gleiche Chancen für alle

Er meint natürlich die Uckermark. Dort, so sagt er, wachsen 23,6 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Familien auf. In Potsdam-Mittelmark seien es nur 4,8 Prozent. Wichmann seufzt. Viele seiner Sorgenkinder seien bisher durch die Maschen der Förderung gefallen, weil es die Eltern nicht geschafft hätten, Anträge beim Jugendamt durchzuboxen. Wichmann hat sich jetzt in Rage geredet. Er will die Fachaufsicht stärken. Sie soll die Förderung für die Kinder einfädeln, wenn es die Eltern nicht schaffen. Er sagt, früher habe das doch auch funktioniert. Der Staat habe sich um alle gekümmert. Gleiche Chancen für alle. Er will ein Stück der alten DDR zurück.

„Zurück in die Vergangenheit?“ Es entbehrt nicht der Ironie, dass das auch das Rezept der AfD im Landtagswahlkampf ist. Eine Partei, von der Henryk Wichmann sagt, sie sei nicht koalitionsfähig. Ihr Spitzenkandidat, Andreas Kalbitz, sei „als rechtsextrem einzustufen“. Doch im Land der Unglücklichen fallen die Forderungen auf fruchtbaren Boden. Die AfD will, dass Kinder schon ab der ersten Klasse Noten kriegen. Behinderte sollen wieder auf Förderschulen gehen. Familien sollen mit einer Prämie fürs Kinderkriegen belohnt werden. Und die Braunkohle in der Niederlausitz soll weiter gefördert und verfeuert werden. Vom Klimawandel und seinen Folgen will die AfD nichts bemerkt haben. Von den Waldbränden vor ihrer Haustür und der Lieberoser Wüste, die sich in der Niederlausitz inzwischen über fünf Quadratkilometer erstreckt. Klimawandel, welcher Klimawandel?

Und damit sind wir zurück in Welzow, bei Hannelore Wodtke. Der Klimawandel ist ihr Thema. Sollen andere ruhig meckern, sie macht lieber. Sie kämpft dafür, dass der alte Militärflughafen in Welzow zur Startbahn für Flugzeuge wird, die Waldbrände aus der Luft löschen. Sie sitzt seit Jahren für die Bürgerinitiative Grüne Zukunft Welzow in der Stadtverordnetenversammlung. Jetzt kandidiert sie zum ersten Mal für den Landtag, für die Lausitzer Allianz, eine Kleinpartei ohne Chance.

Ist das Heimat?

Wodtke hat die Niederlausitz in der Kohlekommission des Bundes vertreten. Seither reden einige Nachbarn nicht mehr mit ihr. Oder sie machen es wie die SPD-Bürgermeisterin und brechen Telefonate einfach ab, sobald der Name Wodtke fällt. Denn Wodtke hat etwas getan, was man in den Augen der Kohlekumpel und Klimawandelleugner nicht macht. Sie hat aus Protest gegen den Kohlekompromiss gestimmt.

Dabei, sagt sie, während sie in ihrem Ford mit 90 Kilometern die Stunde durch den Ort brettert, wünsche sie sich, dass die Förderbänder lieber heute als morgen stoppen. Sie könnte stundenlang über den Dreck, den Lärm und die gesundheitlichen Gefahren durch den Kohlestaub schimpfen.

Halber Brandenburger, halber Berliner – der Musiker Rainald Grebe

Aber warum hat sie gegen den Kompromiss gestimmt? Hannelore Wodtke tritt auf die Bremse. Vor ihr laufen drei Hühner über die Straße. Sie murmelt etwas von einer „Bestandsgarantie“ für den Wohnblock 5 in Welzow und für den Nachbarort Proschim. Diese Garantie, sagt sie, sei immer Teil des Vertrags gewesen. Aber in der Endfassung habe sie plötzlich gefehlt. Es habe ihr das Herz herausgerissen. Denn sie weiß ja, was das bedeutet. 470 Menschen müssen damit rechnen, umgesiedelt zu werden. Hannelore Wodtke holt tief Luft: „Sie verlieren ihre Heimat.“

Heimat. Das ist ein Wort, das an diesem Ort schwerer wiegt als die Summe seiner Buchstaben. Und das liegt auch an der Wiedervereinigung. Die Brandenburger sind Stehaufmänner und Stehauffrauen. Sie haben die SED-Diktatur, die Wende und den Aufbruch ins neue Deutschland überstanden. Viele haben ihren Job verloren. Das erklärt natürlich auch ihre Unzufriedenheit. Sie haben es aufgegeben, auf die blühenden Landschaften zu warten. Sie fühlen sich verraten. Auch deshalb hat die AfD im Land der Unglücklichen ein leichtes Spiel. Nach Umfragen liegt die Partei derzeit mit 19 Prozent nur knapp hinter SPD und CDU.

Und jetzt will der Staat auch noch ihre letzte Wurzel kappen. Sie sollen ihre Häuser räumen und umgesiedelt werden an einen Ort, der bislang nur in den Köpfen der Planer existiert. Bei der LEAG heißt es, die Genehmigung für den Abriss der Häuser liege schon lange vor. Die Entscheidung darüber falle aber erst 2020. Man werde abwarten, wie sich die Politik verhalte und wie sich der Markt für Strom entwickle.

Die Vorstellung vom Glück

Das Risiko liegt bei 50 Prozent. Oder soll man sagen: die Chance? Das Glück, es wohnt nicht mehr in Welzow. Doch ist es möglich, dass die Menschen es woanders finden? Helmut Franz ist davon überzeugt. Er ist 66, blassblaue Augen in einem wettergegerbten Gesicht, sonore Stimme. Sein ganzes Berufsleben lang hat er im Tagebau malocht, erst als Elektroingenieur, dann als Betriebsratsvorsitzender.

Jetzt ist er im Ruhestand, doch sein Leben kreist noch immer um die Kohle. Er sagt, wo solle denn der Strom herkommen, wenn in der Lausitz keine Kohle mehr gescheffelt werde? „Die Energieversorgung auf Fingerschnippen umzustellen, das funktioniert nicht.“

Franz müsste seine Doppelhaushälfte in der Bergarbeitersiedlung Glückauf räumen, wenn die LEAG ihre Abrissbagger schicken sollte. Er stellt das ganz nüchtern fest. Seine Vorstellung von Glück ist eine andere als die von Hannelore Wodtke. Sie klebt an der Scholle. Er schaut nach vorn. Wozu festhalten, was man doch nicht festhalten kann? Die LEAG hat den Bürgern versprochen, ihr altes Haus gegen ein neues einzutauschen – am Ufer des Senftenberger Sees. Franz strahlt.
Was für eine Aussicht.

Dies ist die Titelgeschichte aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige