Bodo Ramelow und Corona - Ein Mann, ein Widerspruch

Heute beraten die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin über den Corona-Kurs bis nach Weihnachten. Bodo Ramelow war lange gegen einen Lockdown, bis er am Ende doch einknickte. Trotzdem wird Thüringens Landesvater über alle Lager hinweg respektiert.

Ramelows politisches Leben ist öffentlich und widersprüchlich / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Martin Debes ist Chefreporter der Thüringer Allgemeinen.

So erreichen Sie Martin Debes:

Anzeige

Es ist ein dunkler, nasser Abend im Herbst, die Menschen in der Innenstadt von Erfurt tragen Masken. Vor der Thüringer Staatskanzlei steht der einzige linke Ministerpräsident Deutschlands, ausgeleuchtet von Fernsehkameras. Gerade hat Bodo Ramelow verkündet, dass sein Veto gegen den Lockdown, das er tags zuvor verkündete, plötzlich nicht mehr gilt. Sein Land, dekretiert er, könne sich dem Beschluss von Bund und Ländern nicht verweigern. 

Eine Journalistin will trotzdem höflich wissen, wie es denn zu der bemerkenswerten Kehrtwende kam. Was jetzt geschieht, kennen Gefährten wie Gegner nur zu gut: Ramelows Gesicht läuft rötlich an. Er habe, blafft er, im Unterschied zur Fragestellerin nicht gewusst, wie sich die Pandemie in Thüringen entwickle. Dann referiert er die neuesten, drastisch gestiegenen Infektionszahlen.

Doch es ist nur eine Ausflucht. Schon ein paar Tage zuvor hatte seine eigene Regierung ähnlich viele positive Tests gemeldet; die Zahl war nur wegen der üblichen Meldeverzögerungen zum Wochenanfang wieder gesunken. Und die Woche wird nicht mehr besser für den Ministerpräsidenten. Er relativiert die Zahl der Menschen, die mit Coronavirus starben, gibt patzige Fernsehinterviews und schimpft intern auf alle anderen, Medien, Minister und sonstige Mäkelfritzen. Nur bei sich vermag er keinen Fehler zu entdecken. 

Der gelebte Widerspruch

Mit fast 65 Jahren noch wie ein Kind zu trotzen: Dies schafft, von einem gewissen US-Präsidenten abgesehen, nur Bodo Ramelow. Aber auch sonst ist er der gelebte Widerspruch. Ein überzeugter Linker, der regelmäßig in die Kirche geht. Ein Westdeutscher, der für das Ostdeutschsein steht wie kaum ein anderer. Der Mann ist vieles gleichzeitig: konsequent und konfus, pragmatisch und populistisch, charismatisch und cholerisch, verletzlich und verletzend, nachdenklich und narzisstisch. 

Doch bei Ramelow, das ist eine zentrale Erklärung seines Erfolgs, wirken diese Widersprüche produktiv, sie lassen ihn interessant, profiliert, authentisch erscheinen. Sie machen ihn populär. Auf diese Art formte er schon in Thüringen die PDS und später die Linke, deren Fusion er bundesweit organisierte, zum stärksten Landesverband. Und auf diese Art führte er die Partei erstmals an die Spitze einer Regierung. Seitdem ist die Linke im Land ohne ihn nichts und im Bund wenig, was der Ministerpräsident sehr gut weiß. 

Wer herausfinden will, wie Ramelow tickt, der kontaktiere ihn auf Twitter, wo er, ausdrücklich und ausschließlich, unter der Bezeichnung „Mensch“ firmiert. Fühlt er sich positiv angesprochen, das ist der Normalfall, reagiert er mit Likes. Nimmt er jedoch eine Anmerkung als Kritik wahr, wird er schnell wütend – und persönlich. Fühlt er sich beleidigt, blockiert er sein virtuelles Gegenüber.

Ramelows Leben ist öffentlich

Doch egal, wie Ramelow reagiert: Er reagiert. Immer. Kaum ein anderer Spitzenpolitiker, schon gar kein Regierungschef, ist so behände in den sozialen Netzwerken unterwegs, ist so nahbar und transparent. Der Mann lebt sein Leben fast öffentlich, egal, ob es nun um seinen Terrier Attila geht, die Liebe zur dritten Gattin, den explodierten Holz­ofen, die Schläge seiner Mutter, den Pilzbestand in seinem Privatwäldchen oder seinen evangelischen Glauben. 

Ramelow ist stets erreichbar, für Landräte, Unternehmer, Journalisten, live, am Telefon, per SMS. Er kommuniziert und liest ständig, er saugt alles auf und merkt sich sogar das meiste davon, was er dann wieder – er ist ein exzellenter Rhetoriker – ohne Unterlass vorzutragen versteht.

Respektiert über alle Lager hinweg

Der Linke kann Strategie und Taktik, in Krisen aber folgt er seinem Macht­instinkt, mit dem er es schaffte, trotz einer knappen Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag die erste rot-rot-grüne Regierung zu bilden. Und selbst wenn, wie im Februar, der Instinkt trog und er das Amt für wenige Tage an den unglückseligen Thomas Kemmerich verlor, so war er doch vier Wochen und drei Manöver später wieder im Amt und hatte nebenher die CDU in eine De-facto-­Tolerierung seiner Minderheitsregierung bugsiert.

Längst hat sich Ramelow jenseits seiner Partei Anerkennung verschafft, und dies nicht nur bei CDU-Wählern, die mehrheitlich seine Amtsführung goutieren. Er diniert mit Joachim Gauck, telefoniert mit Kurt Biedenkopf und duzt Horst Seehofer. Selbst sein christdemokratischer Vorvorvorgänger, der Thüringen gut elf Jahre regierte, muss ihm Respekt zollen: Ja, Ramelow bleibe ein Linker und ein Sozialist, sagt Bernhard Vogel. Gleichzeitig müsse auch er ihm zugestehen, dass er das Ministerpräsidentenamt „erstaunlich professionell“ ausfülle – und Wahlen gewinnen. Im nächsten April, so Corona will, könnte es in Thüringen wieder so weit sein.

Diesen Text finden Sie in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

Anzeige