Bertelsmann-Studie zu Rechtsextremismus - Im Kleingedruckten steht das Interessante

Es war die ideale Schlagzeile: Fast jeder dritte AfD-Wähler ist rechtsextrem. Diese Erkenntnis geht aus einer kürzlich erschienenen Bertelsmann-Studie hervor. Die Wogen schlugen hoch. Doch das eigentlich Überraschende wird auch diesmal wie fast immer übersehen.

Bei aller Aufregung über die AfD wird der latente Rechtsextremismus beim Rest übersehen / dpa
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Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Im Zuge der im September anstehenden Bundestagswahl wollte die Bertelsmann-Stiftung herausfinden, wie es die Wähler mit dem Rechtsextremismus halten. Für die Erstellung dieses Stimmungsbildes wurde das Meinungsforschungsinstitut YouGov beauftragt. Das Institut hat im Juni 2020 etwas mehr als 10.000 Deutsche in einer Online-Umfrage um ihre Einschätzungen gebeten. Die Ergebnisse spiegeln die deutsche Bevölkerung über 18 Jahren repräsentativ wider. 

Was ist Rechtsextremismus?

Fragt man hundert Menschen nach einer Definition des Rechtsextremismus, wird man hundert verschiedene Antworten erhalten. Bevor man daher die Ergebnisse der Studie betrachtet, sollte die Frage geklärt sein, was die Forscher denn unter Rechtsextremismus verstehen. Gleich zu Beginn der Studie halten die Autoren fest, dass sie nicht die Operationalisierung des Verfassungsschutzes verwenden, sondern ein wissenschaftliches Konzept aus der Einstellungsforschung.

Dieses sieht vor, dass sich die Befragten zu 18 Aussagen aus sechs verschiedenen Themenblöcken positionieren müssen. So ist etwa die erste Frage: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform“. Nun haben die Teilnehmer fünf Antwortmöglichkeiten, die sich von voller Zustimmung über „teils/teils“ bis zur vollen Ablehnung erstrecken. Und mit diesem Verfahren hangelt man sich von Frage zu Frage.

Hier der komplette Fragenkatalog:

Fragenkatalog zum Rechtsextremismus / Foto: Screenshot

Am Ende wird aus den erhaltenen Antworten ein Mittelwert gebildet, mit dem man bestimmen kann, ob der jeweilige Teilnehmer rechtsextremen Einstellungen anhängt oder nicht. So führt eine Zustimmung zu einzelnen Aussagen nicht unmittelbar zum Rechtsextremismus. Doch stimmt der Teilnehmer allen Aussagen im Schnitt überwiegend zu, betrachtet die Bertelsmann-Stiftung ihn als „manifest rechtsextrem“. Kommt im Schnitt ein „teils/teils“ heraus, spricht die Studie von „latentem Rechtsextremismus“.

Verteilung rechtsextremer Einstellungen / Foto: Screenshot

Im Ergebnis stellt die Studie fest, dass fast jeder zehnte Deutsche manifest rechtsextremen Einstellungen anhängt, jeder vierte, also in jeder Familie einer, zumindest latente Überzeugungen aufweist. Unter den einzelnen Parteien fällt die AfD mit 29 Prozent manifesten und 56 Prozent mindestens latenten rechtsextremistischen Wählern besonders auf. Spannend ist jedoch zu sehen, dass dann nach den Unionswählern bereits die Linke die rechtsextremsten Anhänger hat. Auch in den anderen Parteien sind mit Ausnahme der Grünen 15 bis 21 Prozent der Wähler mindestens latent rechtsextrem.

Wie sinnvoll sind die Ergebnisse?

Unstrittig dürften die sechs Themenblöcke sein. Jeder davon stellt einen Bestandteil rechtsextremen Gedankenguts dar. Bei den konkreten Einzelfragen indes ließe sich trefflich streiten. Besonders im Bereich „Chauvinismus“ ist der Aussagengehalt der Sätze fraglich. Ein „hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ würden wahrscheinlich neun von zehn US-Amerikanern unterschreiben. Wer also eine solche Aussage mit „Ja“ goutiert , der kann nur sehr begrenzt in eine rechtsextreme Ecke gerückt werden.

Und auch die Fragen zur Fremdenfeindlichkeit sind unnötig provokant gestellt. Trotzdem, die überwiegende Mehrzahl der anderen Aussagen sind klar rechtsextremistisch, und wer ihnen auch nur unentschieden gegenüber steht, darf sich nicht über die spätere Diagnose: „latent rechtsextrem“ wundern. 

Die Ergebnisse der Studie sind ernst zu nehmen. Es ist durchaus erschreckend, wie verbreitet rechtsextreme Einstellungen über Wähler aller Parteigrenzen hinweg verteilt sind. 

Der Hang zur Diktatur

Die Studie erhebt für jede der sechs Unterkategorien einzelne Daten. Einige davon sind durchaus eines genaueren Blickes würdig.

Befürwortung rechtsgerichteter Diktatur / Foto: Screenshot

Aus den Aussagen zur Befürwortung einer Diktatur geht nicht explizit hervor, warum es sich um eine „rechtsgerichtete“ Diktatur handeln sollte, das macht das Ergebnis jedoch nicht weniger überraschend. Positiv zu beurteilen ist, dass mit Ausnahme der AfD-Wählerschaft die wenigsten Befragten manifest eine Diktatur befürworteten.

Dass jedoch immerhin zehn Prozent der Wähler einer jeden Partei latent mit einem diktatorischen Staat liebäugeln, ist mit Blick auf die deutsche Geschichte erschreckend. Vor allem die 23 Prozent bei den FDP-Wählern überraschen, müsste doch der Liberalismus aus ideologischer Perspektive eigentlich am weitesten entfernt von diktatorischen Denkmustern sein.

Verbreitete Geschichtsvergessenheit

Verharmlosung Nationalsozialismus / Foto: Screenshot

In eine geschichtlich ähnliche Richtung geht die Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus. Sicher, nicht jeder, der sagt, der Nationalsozialismus hätte zum Teil auch seine guten Seiten gehabt, ist automatisch rechtsextrem. Eine Unentschiedenheit von 20 Prozent der Befragten gegenüber der Beurteilung Adolf Hitlers sowie der Verbrechen der Nationalsozialisten zeugt jedoch von beängstigender Geschichtsvergessenheit. Dass etwa 14 Prozent der SPD-Wähler latent die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlosen, ist bei der Geschichte der Partei nur schwer zu erklären.

Antisemitismus / Foto: Screenshot

Zu denken, Juden würden „nicht zu uns passen“, ihr Einfluss wäre zu groß oder sie würden mit üblen Tricks spielen, spiegelt empörende Haltungen und Denkweisen wider. Dass es in jeder Partei dennoch zahlreiche Anhänger gibt, die bei solchen Aussagen zumindest unentschlossen sind, ist mehr als  beunruhigend. 

Schlussfolgerungen

Die Macher der Studie legen ihren Fokus auf die AfD-Wählerschaft. Ihrer Einschätzung nach zeige sich, dass sich im Vergleich zur Wahl 2017 das Klientel der AfD von „rechtspopulistisch“ zu „rechtsextrem“ verlagert hat. Doch kann man einen solchen Schluss aus den erhobenen Daten tatsächlich ziehen? Robert Vehrkamp, Autor der Studie, sagt zu Cicero: Die Beobachtungen der Studie bezögen sich seiner Meinung nach weniger auf einen Einstellungswandel bei der AfD-Wählerschaft, sondern vielmehr auf Effekte der Wählerwanderung. Nach den Beobachtungen im Populismusbarometer verliere die AfD in den letzten Jahren immer mehr Rückhalt in der populistischen politischen Mitte. Mit diesem Verlust in der Mitte steige gleichzeitig der Anteil der rechtsextremistisch eingestellten Wähler, so Vehrkamp. „Die Wählerschaft der AfD ist also seit 2017 kleiner und im Durchschnitt weniger populistisch und gleichzeitig rechter geworden.“

Das rechtsextreme Potenzial innerhalb der AfD sollte nicht unterschätzt werden. Trotzdem: Neben dieser Beobachtung dürfte die allgemeine Verbreitung zumindest latent rechtsextremer Standpunkte über alle Parteien hinweg die interessantere Beobachtung der Studie sein.

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