Berlin, wie es quietscht und eiert - Bestattungsstopp!

Schon gehört? Wegen Wartungsarbeiten an einer Software herrscht im Berliner Bezirk Mitte ein dreiwöchiger Bestattungsstopp. Was an der Spree kaum noch jemanden wundert, löst im Rest der Republik regelmäßig Kopfschütteln aus. Grund genug für „Cicero“, regelmäßig über die bizarren Auswüchse des Alltags der Hauptstadt zu schreiben.

Ach, kiek an: Bestattungsstopp auf dem Französischen Friedhof / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Berlin ist immer für ein „Ach, kiek an“ gut. Erinnern Sie sich noch an die Bilder von der Berliner Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl? Kilometerlange Schlangen vor den Wahllokalen. Menschen, die mitunter stundenlang ausharrten, um ihr Kreuz zu machen. Die verzweifelt an der Tür rüttelten, als Wahllokale schließen mussten, weil es nicht genug Stimmzettel gab. Und irgendwann der stumme Schrei: „Ich bin ein Wähler, ich will hier rein.“

Für jeden Stadtimagepfleger wären solche Bilder der absolute GAU. In Berlin nimmt man sie schulterzuckend zur Kenntnis. Das Chaos in der Hauptstadt ist längst zum Normalzustand geworden. Ditt is eben Berlin. 

Burnout-Gefahr: 90 Prozent 

Schrottautos, die einfach am Straßenrand abgestellt werden, weil ihre Halter wissen, dass das Ordnungsamt sagt, die Polizei sei zuständig und die Polizei sagt, nicht unser Ding, rufense mal das Ordnungsamt an. Baustellen, die sich mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne bewegen.   

Geburts- oder Sterbeurkunden, auf die man wochen-, nein manchmal sogar monatelang warten muss, weil die Bezirksämter über Jahre hinweg kaputtgespart wurden und die verbliebenen Mitarbeiter so überlastet sind, dass die Wahrscheinlichkeit bei 90 Prozent liegt, dass sie gerade wegen Burnouts zur Kur, in der Reha oder im Krankenhaus sind oder dass man ihnen den Stempel persönlich in die Hand drücken muss, damit sie ihn mit letzter Kraft aufs Papier drücken.  

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Stadt der organisierten Verantwortungslosigkeit 

Das alles ist kaum geeignet, um Werbung für den Standort Berlin zu machen. Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Stadt aus zwölf Bezirken besteht, die alle ihre eigenen Gesetze haben. Es ist vom Feeling her ein völlig anderes Gefühl, ob man in Friedrichshain-Kreuzberg lebt, wo auf einen Einwohner drei Kneipen kommen, im Prenzlauer Berg („Schwabylon“) oder in Spandau  – der einzigen Kleingarten-Kolonie der Welt mit eigenem ICE-Anschluss (wovon die Berliner aber erst erfuhren, als der noch amtierende Verkehrsminister Andreas Scheuer hier mal mit einem Triebwerkschaden liegen blieb).

Als die Mauer noch stand, konnten Behörden-Mitarbeiter im Westen der Stadt genervte Bürger mit dem Spruch abwimmeln: „Geh doch nach drüben.“ Heute funktioniert das auch umgekehrt. In Marzahn heißt es dann: „Geh doch nach Kleinmachnow.“ Berlin ist die Stadt der organisierten Verantwortungslosigkeit. Wenn irgendetwas schief geht, wie bei der Wahl am 26. September, dann schiebt es einer auf den anderen. Die Bezirke auf den Senat und der Senat auf die Bezirke. Ein Gestrüpp aus Verordnungen macht es den Verantwortlichen leicht, sich einfach wegzuducken. 

Trendsport: Berlin-Bashing  

In jeder anderen Stadt wäre das Gift fürs Marketing. Wer will schon in einer Stadt leben, wo man eine Wartemarke ziehen muss, um eine Wartemarke für einen Termin im Bezirksamt zu ziehen – zeitnahe und in Wohnortnähe? (sonst muss man es bei einem anderen Bezirksamt versuchen). Oder wo man auf einen Hauptstadtflughafen länger warten muss als auf einen Trabi zu DDR-Zeiten? Sorry for the delay. Und wo man dann, als man ihn zum ersten Mal ausprobieren wollte, samt seines Gepäcks wieder nach Hause geschickt wurde, weil neben Personal im Check-In auch mobile Ausstiegstreppen fehlten. 

Das alles ist kein Geheimnis. In der Buchhandlung Dussmann findet man ganze Regale voll mit Büchern, die mehr oder weniger lustvoll in Kritik am stadtgewordenen Verwaltungsversagen schwelgen. Lorenz Maroldt, der Chefredakteur des Tagesspiegels, hat sie in seinem täglichen Morgennewsletter „Checkpoint“ zu einer eigenen Kunstform stilisiert. Das Berlin-Bashing  ist eine Art Trendsport geworden – vor allem für Menschen, die in Kleinstädten wohnen, wo die Bürgersteige abends nicht hochgeklappt werden müssen, weil sowieso keiner auf die Idee käme, nach Einbruch der Dunkelheit noch das Haus zu verlassen. 

Siehe Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Er ist regelmäßiger Gast in der Stadt, die nie schläft, weil es hier keine Sperrstunde gibt. Menschen aus der Provinz zieht offenbar genau das an. Nur zugeben würden sie das nie. Palmer sagt: „Wenn ich dort ankomme, denke ich immer: Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands.“

„Nur eine Knalltüte unter Hunderttausenden“

Erstaunlicherweise aber – und das ist so einzigartig an dieser Stadt – hat dieses Chaos kaum jemanden davon abgehalten, trotzdem in die Hauptstadt zu ziehen. Der größte Hauptstadt-Hype, so scheint es, ist zwar vorbei. 2020 ging die Einwohnerzahl im ersten Halbjahr zum ersten Mal seit 2013 leicht zurück.

Aber noch immer zehrt die Stadt von ihrem Image, das ihr seit den zwanziger Jahren wie Kaugummi an der Hacke klebt. In Berlin ist die Avantgarde zu Hause, die Kreativität und die Bohème. Berlin ist der ideale Nährboden für Menschen, die absurde, lustige oder größenwahnsinnige Projekte wagen. Zu scheitern ist hier keine Schande. Es gehört sogar irgendwie dazu. Wenn man böse wäre, könnte man sagen, die Stadt sei ins Scheitern verliebt. „Selbst bei maximalem Misserfolg ist man in Berlin eben nur eine Knalltüte unter Hunderttausenden, das lindert jeden Versagensschmerz”, schreibt Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo.

In Zunft wird Cicero regelmäßig in loser Folge darüber schreiben, was in der Stadt nicht rund läuft. Berlin, wie es quietscht und eiert. Inspiriert hat uns dazu eine aktuelle Meldung aus dem Bezirk Mitte, die letzte Ruhestätte für prominente Berliner und Berlinerinnen wie Bertolt Brecht, Heinrich Mann oder  Anna Seghers. Der Bezirk, so meldete der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) werde drei Wochen lang mit Bestattungen pausieren. Grund dafür seien Wartungsarbeiten an einer zentralen Computersoftware im Bezirk. Berliner, die in der Zeit vom 15. Dezember bis zum 2. Januar ihren letzten Atemzug tun, werden in vorauseilendem Gehorsam schon mal um Geduld gebeten. 

Bestattungsstopp in der Corona-Hauptsaison 

Bestattungsstopp in Berlin-Mitte, und das mitten in der Corona-Hauptsaison, wo die Inzidenz in Berlin gerade die 400er-Marke geknackt hat? Man möchte den Kopf so lange auf die Tischkante schlagen, bis Männer in weißen Kitteln kommen und besorgt fragen, ob man noch alle Latten am Zaun habe. Und man möchte beten, dass die Verstorbenen wenigstens im Himmel sicher vor irgendwelchen Hard- oder Softwareproblemen sind. 

Aber Berlin hieße nicht Berlin, wenn die Verwaltung nicht die Kunst beherrschen würde, noch diese traurige Meldung als Hauptgewinn zu verkaufen. Nur wer sich eine Erdbestattung wünsche, müsse so lange im Kühlhaus liegen, bis der Betrieb wieder laufe, heißt es. Einäscherungen könnten trotzdem stattfinden. Wenn Sie Ihr Ohr jetzt dicht ans Display halten, können Sie hören, wie eine leidgeplagte Berlinerin erleichtert aufatmet. Asche zu Asche, wenigstens darauf ist in Berlin noch Verlass. 

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