Chaos bei Berlin-Wahl - „Das hat eine neue Qualität“

In Berlin hat am späten Nachmittag Landeswahlleiterin Petra Michaelis ihr Amt zur Verfügung gestellt. Der Verfassungsrechtler Christian Waldhoff sieht auch den Berliner Innensenator mit in der Verantwortung. Im Interview berichtet er von einem einzigartigen Chaos und erklärt, welche rechtlichen Konsequenzen das haben kann.

Warteschlange bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Dr. Christian Waldhoff ist Professor für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am vergangenen Sonntag hat er als ehrenamtlicher Wahlhelfer in einem Wahllokal in Berlin-Mitte gearbeitet.

Professor Waldhoff, was sagt es eigentlich über den Zustand unserer demokratischen Kultur aus, wenn wir uns lauthals über einen Spitzenpolitiker lustig machen, der seinen Stimmzettel nicht richtig faltet, andererseits aber nur mit den Achseln zucken, wenn die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus äußerst chaotisch über die Bühne geht?

Das spricht natürlich Bände. Diejenigen die dafür verantwortlich sind, ordnungsgemäße Wahlen zu organisieren, versagen; und der kleine Fauxpas eines Kanzlerkandidaten wird zum Politikum. Das ist kein gutes Zeugnis für die politische Kultur. Auch sagt es viel über die Wertschätzung des demokratischen Mitwirkungsaktes aus, wenn etwa in Berlin ein Marathonlauf wichtiger ist als die Möglichkeit, auf schnellem und unkomplizierten Weg ins Wahllokal zu gelangen. 

Sie spielen auf den Berlin-Marathon an, der am vergangen Sonntag zu zahlreichen Behinderungen bei der Wahl geführt haben soll.

Ich halte es für völlig verfehlt, dass so ein Sportereignis am selben Tag stattfindet wie die Bundestagswahl und die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Der Chef der Berliner Senatskanzlei soll sich jetzt damit gerechtfertigt haben, dass der Termin für den Marathon angeblich schon lange vorher festgestanden habe. Einem internationalen Sportkalender folgend, fiele der Berlin Marathon immer auf den letzten Sonntag im September. Aber ich bitte Sie: Was ist denn wichtiger? Ein Sportereignis oder der wichtigste Akt in unserem Verfassungssystem? Da müssen die politisch Verantwortlichen auch mal Farbe bekennen.

Sie haben das sonntägliche Wahlchaos in Berlin am eigenen Leib erlebt – Sie waren nicht nur Wähler, Sie haben auch als ehrenamtlicher Wahlhelfer in einem Wahllokal in Berlin-Mitte geholfen. 

Ich habe das in der Vergangenheit mehrfach gemacht. Es ist immer gut, wenn ein mit dem Wahlrecht befasster Staatsrechtler auf diese Weise vielfältige Anregungen und Einblicke in die tatsächliche Durchführung des wichtigsten Mitwirkungsaktes in unserem demokratischen Verfassungssystem bekommt.

Sie kennen sich also damit aus, was kleine Abweichungen im Wahlprozess sind und was erheblich über solche kleine Bagatellen hinausgeht?

Ja. Am letzten Sonntag lief das zunächst ganz normal an. Doch irgendwann wurde deutlich, dass zum einen die Wahlbeteiligung sehr hoch war, die Ausstattung der Wahllokale aber nur sehr beschränkt. In unserem Wahllokal zum Beispiel gab es nur zwei Wahlkabinen.

Vermutlich zu wenig angesichts einer Wahl, bei der jeder Wähler sechs Stimmen zu vergeben hatte. Es ging ja nicht nur um die Bundestagswahl, sondern auch um die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, zur Bezirksversammlung und zum Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“.

Dadurch hat der Abstimmungsprozess in der Kabine natürlich oft sehr lang gedauert. Ich habe am Sonntag niemanden gesehen, der unter zwei Minuten abgestimmt hat. Man musste ja erst die ganzen Stimmzettel sortieren und auch verstehen. Manche waren gefühlte zehn Minuten in der Wahlkabine. Und dadurch wurden die Schlangen vor dem Wahllokal immer länger. In unserem Wahllokal gab es Wartezeiten von maximal 15 Minuten. Nebenan konnte es aber auch schon einmal eine Stunde und auch länger dauern. Auch habe ich von Wahllokalen gehört, wo es bis zu zwei Stunden bis zur Stimmabgabe gedauert haben soll. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Demokratietheoretisch finde ich das Zusammenlegen von Wahlen sehr gut. Dadurch erreicht man eine erhöhte Wahlbeteiligung. Doch so etwas braucht eben auch spezielle Vorkehrungen.

Nun ist die Wahlbeteiligung das eine. Führt eine solche Kumulation aber nicht auf der anderen Seite auch zu einer wachsenden Unübersichtlichkeit? Ich hatte am Sonntag durchaus das Gefühl, dass bei einigen Wählern die Grenze der Informationsverarbeitung erreicht war.

Ich weiß, was Sie meinen. Und wären noch zwei, drei weitere Abstimmungen hinzugekommen, dann wäre vermutlich wirklich ein Punkt erreicht gewesen, wo der Bürger das nicht mehr hätte sortieren können. Es gibt da übrigens eine interessante Rechtsprechung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, nach der man mehr als sieben Verkehrszeichen gleichzeitig nicht mehr verarbeiten kann. Diese Grenze würde ich bei der Wahl aber noch nicht erreicht sehen.

Was haben Sie denn dann in Ihrem Wahllokal konkret unternommen, um den Wahlprozess zu beschleunigen?

Wir haben noch drei weitere Wahlkabinen mit dem Privat-Pkw nachgeholt. Die konnte man im Rathaus Wedding nachbestellen.

Es sollen aber zuweilen nicht nur Wahlkabinen gefehlt haben, auch Stimmzettel sollen in einigen Wahllokalen Mangelware gewesen sein.

Auch bei uns war es so, dass gegen 17 Uhr die Berlin-bezogenen Stimmzettel aus waren. Und das ist wirklich ein starkes Stück. So etwas darf nicht passieren, zumal der Kostenfaktor für Wahlzettel wirklich minimal ist. Wir haben also wieder die privaten Pkw genommen und haben aus dem Rathaus Wedding neue Stimmzettel geholt. Die Wahl aber war dadurch für gut eine halbe Stunde unterbrochen.

Ich habe von Fällen gehört, wo Berliner aufgrund fehlender Wahlzettel sogar nach Hause geschickt worden sein sollen.

Auch wir haben Leute nach Hause geschickt, aber natürlich immer verbunden mit der Bitte, später wiederzukommen. Was nicht geht, ist, Leute nach Hause zu schicken und ihnen zu sagen, dass sie nicht mehr wählen können. Aber die Wahlhelfer waren in der Regel wirklich bemüht, das Beste aus diesem Chaos zu machen. Die waren hochmotiviert. 

Sie sagten anfangs, dass Sie schon öfter als ehrenamtlicher Wahlhelfer gearbeitet hätten. Ist das Chaos in den vergangenen Jahren schlimmer geworden?

Ich war zuvor nur Wahlhelfer in Nordrhein-Westfalen. Über Berlin kann ich nichts sagen. Aber das scheint mir schon eine neue Qualität zu haben. Auch auf Bundesebene ist mir nichts Vergleichbares bekannt. Aber man sollte auch nie vergessen, dass eine solche Wahl ein ziemlich komplexer Vorgang ist. Das ist alles andere als trivial. Da passieren immer ein paar Kleinigkeiten. Aber dass Wahlzettel ausgehen, das habe ich zuvor noch nie gehört. Und dass die materielle Ausstattung der Wahllokale so defizitär ist, dass sich Schlangen von ein bis zwei Stunden bilden … Nein, das ist wirklich neu.

Wer trägt denn am Ende die Verantwortung für dieses Organisationsverschulden die Landeswahlleiterin oder der Berliner Innensenator?

Diejenigen sind verantwortlich, die die Wahl organisiert haben. Das ist in erster Linie natürlich die Landeswahlleitung. Aber die ist vom Innensenator berufen worden, sodass sich der eigentlich auch überlegen müsste, welche Konsequenzen er aus diesem Chaos zieht. 

Christian Gaebler (SPD), Leiter der Berliner Senatsverwaltung, hat gestern darauf verwiesen, dass die Landeswahlleitung nicht weisungsgebunden sei und dass der Senat somit auch nichts hätte machen können. Hat er recht?

Ich denke, Gaebler wollte mit diesem Statement darauf anspielen, dass der Innensenator zwar die Rechts- aber nicht die Fachaufsicht über die Landeswahlleitung hat. Aber bei den Fällen vom vergangenen Sonntag handelt es sich auch um rechtlich relevante Vorkommnisse. Wenn Leute daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben, dann ist das nicht nur eine Zweckmäßigkeitsfrage, also eine Frage der Fachaufsicht. Das berührt unmittelbar eine verfassungsrechtliche Position und hat somit auch etwas mit der Rechtsaufsicht zu tun.

Welche Möglichkeiten gibt es denn nun für Wähler, die sich in der Ausübung ihres Wahlrechts beschnitten sehen, gegen das ganze Chaos vorzugehen?

Da muss man zunächst zwischen  Bundes- und Landesebene unterschieden. Bei der Bundestagswahl müsste man Wahlbeschwerde beim Bundestag einlegen. Und der Bundestag selbst entscheidet dann über diese Beschwerden. 

Ist das ein normaler Vorgang?

Ja, bei den vergangenen Bundestagswahlen gab es zumeist zwischen 200 und 300 solcher Beschwerden. Gegen die Entscheidung des Bundestags könnte dann noch das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Das aber würde nur für Neuwahlen plädieren, wenn die Wahlfehler so gravierend waren, dass es wahrscheinlich wäre, dass die Zusammensetzung des Parlaments ohne den Fehler eine andere wäre. Man spricht dann von einer Mandatsrelevanz. Die sehe ich im Falle Berlins nicht gegeben.

Auch nicht bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus?

In dem Fall ist es anders. Hier gehen die Wahlbeschwerden auch nicht an das Abgeordnetenhaus, sondern direkt an den Landesverfassungsgerichtshof. Eigentliche Wahlbeschwerden aber können nur Mandatsträger und Parteien führen. Doch in einigen Fällen soll es bei den Direktmandaten für das Abgeordnetenhaus ja sehr knappe Entscheidungen gegeben haben: Klaus Lederer (Die Linke) etwa soll nur 30 Stimmen hinter seinem Konkurrenten gelegen haben. In Wilmersdorf wiederum soll eine SPD-Kandidatin nur acht Stimmen Vorsprung gegenüber der Mitbewerberin von den Grünen gehabt haben. Da lohnte es sich vielleicht wirklich, die Mandatsrelevanz zu prüfen.

Hat es in der Vergangenheit schon einmal Präzedenzfälle für die Auflösung von Parlamenten und eine anschließende Neuwahl gegeben?

Im Bund wäre das wirklich ein politisches Erdbeben. Ähnliches hat es nur mal in Österreich bei der letzten Bundespräsidentenwahl gegeben. In Deutschland hat bereits zweimal ein Landesverfassungsgericht eine Landtagswahl aufgehoben – in den 1990er-Jahren in Hamburg und in den 2000er-Jahren in Schleswig-Holstein. Es gibt also Präzedenzfälle, allerdings waren die Gründe damals ganz andere. 

Das Interview führte Ralf Hanselle.

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