Beobachtungen zur Distanz in der Pandemie - Was geschieht da gerade?

Es fällt schwer zu glauben, dass die Pandemie demnächst unter Kontrolle sein könnte. Aber was tritt dann an die Stelle der Schockroutine? Lange Phasen eines verordneten Rückzugs führen auch zu „Gemütlichkeitsstrukturen“, die zunächst wieder aufgebrochen werden müssen.

Menschen sitzen auf Abstands-Bänken im Lockdown / dpa
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Autoreninfo

Michael Jäckel ist Professor für Soziologie an der Universität Trier. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Konsum- und die Mediensoziologie. Er ist Verfasser mehrerer Einführungs- und Lehrbücher. Seit 2011 ist er Präsident der Universität Trier und aktives Mitglied der Hochschulrektorenkonferenz.

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Gleich zu Beginn der Pandemie trat neben die Sorge, diese Situation nicht kontrollieren zu können, eine Reflexion über Aktivitätseinbußen in einer üblicherweise nicht zur Ruhe kommenden Welt. Jeder hatte seinen (elektronischen) Kalender, 24 Stunden schienen oft zu wenig. Kurzum: Die Tage waren gefüllt oder überfüllt, weil Leere sofort Verdachtsmomente aufkommen ließ. Alles war irgendwie relevant.

Plötzlich wurde dann Systemrelevanz neu definiert. An die Stelle von Kontaktdichte trat Kontaktverzicht. Die Einsamkeit erhielt fortan viele Gesichter und trat in vielen Lebenssituationen auf, auch in verschiedenen Phasen des Lebenslaufs. Anstelle von Einsamkeit könnte auch Rückzug, Alleinsein, Isolation oder Abkehr das jeweils Eingetretene, ob selbst- oder fremdverschuldet, charakterisieren.

Soziale Leben wohldosiert

Jedenfalls wurde während der Pandemie aus Vorsicht das soziale Leben dosiert: Betreuungseinrichtungen schotteten sich ab; Beschäftigte arrangierten sich mit einem Homeoffice, das zunächst einmal ein solches werden musste; die Schule verlagerte ihren räumlichen Schwerpunkt; die Hochschulen entfalteten sich innerhalb der Grenzen von Videokonferenzsystemen und so weiter. Lockerungen dieses Korsetts wurden immer diskutiert, nach der zweiten Welle besonders behutsam.

Aber nun ist auf einmal diese Fixierung auf die neuesten Zahlen dahin. Lange litt jeder Haushalt mit dem Moderator, der die Dramatik mit Hilfe von Indikatoren verkündete. Jeden Abend waren diese Minuten das Wichtigste vom Tage, das Wetter wurde schnell wieder vergessen. Jetzt fällt es schwer zu glauben, dass diese Pandemie demnächst vielleicht unter Kontrolle sein könnte. Corona ist nicht mehr unumstritten auf Platz 1 der Nachrichtenagenda. 14 Monate lang war dies fast ausnahmslos der Fall. Wie geht man mit einer sich anbahnenden Distanz zu diesem täglichen Begleiter nun eigentlich um? Was tritt an die Stelle dieser Schockroutine? Wie wird die Zeit gefüllt, die sich für Altgewohntes wieder zu öffnen scheint?

Lange Phasen eines verordneten Rückzugs führen auch zu „Gemütlichkeitsstrukturen“, die zunächst wieder aufgebrochen werden müssen. Das gesellschaftliche Großexperiment endet nicht, wenn sich die Pandemie abzuschwächen beginnt. Fast kontinuierlich ist auch die Debatte über den Wandel, den die Gesellschaft insgesamt mit dieser Herausforderung durchlebt, was sie also in einem klassischen Sinne lernt und nicht mehr so tut wie früher.

Rückkehr in die Öffentlichkeit birgt Überraschung

Über allem aber steht eine Vorstellung von Lebensqualität, ebenso die Einsicht, dass, wer sich mehr Gesellschaft wünscht, auch ihre ärgerliche Tatsache anerkennen muss. In den Sehnsuchtsbekundungen sind Menschen euphorischer als in der konkreten Wahrnehmung des Gewünschten. Die Rückkehr in die Öffentlichkeit war in den vergangenen Tagen für viele mit Überraschungen verbunden. Die Anpassung an eher einsame Situationen, an überschaubare soziale Begebenheiten, führte in gewisser Weise zu einer veränderten Sensorik. Das lässt sich sicher nicht exakt beziffern, aber allein der Blick über eine sich bewegende Menschenmenge in einer Fußgängerzone löst aktuell zunächst eher eine Art Abwehrreaktion aus. Und in der Tat festigt sich der Eindruck, dass wir aus dieser Pandemie als zunächst distanziertere Menschen hervorgehen.

Während die öffentliche Debatte noch von den Auswirkungen eines gerade erst beschlossenen Gesetzes bestimmt ist und Ausnahmetatbestände, Sonderregelungen, Privilegien, Stufenmodelle und vieles mehr diskutiert, springt einem hier der Alltag im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht. Die gedanklichen Kämpfe mit diesem Thema werden nun auch in alltäglichen Begegnungen spürbar. Zwischen dem, was gesehen, und dem, was gehört wird, klafft eine Lücke.

Sorge vor davongaloppierender Freiheit

In dieser Überraschung steckt nicht nur die Gewöhnung an die Organisation einer so anderen Zeit mit vielen Provisorien, Übergangslösungen und mehr oder weniger kreativen Formen der Gewährleistung bestimmter Grundbedürfnisse, sondern auch die Sorge darum, dass die neue Freiheit mit den Menschen davongaloppiert. Die Lebensqualität soll zurückgewonnen werden, aber indem dies Millionen von Menschen parallel artikulieren und umsetzen, wird ein neues Leiden an der Gesellschaft spürbar. Die Sensibilität gegenüber den Mitmenschen wächst. Es entsteht eine Art distanzierte Empathie, eine Tele-Gesellschaft.

Für die Situation in den eigenen vier Wänden hatte man einen eigenen Kontrollmodus entwickelt – auch wenn es häufig eng wurde. Trotz vieler Verordnungen war man doch der Regisseur einer Dramaturgie mit festen Drehbuchelementen. Die Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung wurde gewissermaßen privatisiert, die Wiederkehr der Öffentlichkeit zerrt an diesem Kontrollbewusstsein. Die Sensibilität für das eigene Territorium ist allenthalben spürbar.

Persönliches Umfeld wird ein Mediennetzwerk

Das Gefühl, Teil einer Öffentlichkeit zu sein, hat sich seit vielen Jahren ohnehin zusätzlich in verschiedene Mediennetzwerke verlagert. Das persönliche Umfeld ist häufiger auch ein Mediennetzwerk. Der Vorsprung oder der exklusive Status von Fernsehen oder Zeitung als Vermittler von Meinungen wird abgelöst oder begleitet von vielen Sender-Empfänger-Konstellationen in interaktiven Foren et cetera. Zudem sind es nicht mehr Situationen, in denen die physische Präsenz das Ausmaß sozialer Kontrolle mitbestimmt.

Jetzt muss sich diese Rücksichtnahme unter vielen im wahrsten Sinne des Wortes neu einspielen. Das Unbehagen in der modernen Kultur kommt über die Mikrodramen des Alltags wieder zurück: Wer macht Platz? Wer darf zuerst? Die Städte sind wieder belebter. Die wahrgenommene Turbulenz passt nicht zu der Vorstellung, den Übergang langsam zu gestalten. Entweder es geht zu schnell oder zu langsam. Die richtige Dosis läuft immer nur in Gedanken mit.

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