Balkan-Gipfel in Wien - Europas Kanzler heißt jetzt Kern

Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern hat das Zepter in der europäischen Flüchtlingspolitik übernommen. Für Angela Merkel bedeutet das einen Machtverlust. Was heißt das für die Zukunft der Kanzlerin?

Alle Blicke auf Christian Kern. Österreichs Bundeskanzler soll bei der Flüchtlingsfrage die Brücken bauen / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Dieses Bild, es sagt so viel. Es sagt so viel, selbst wenn es der österreichische Gastgeber des dritten Wiener Balkan-Gipfels ist, der im Zentrum des Gruppenbildes mit Dame steht. Die Blicke aller richten sich auf den großgewachsenen neuen Bundeskanzler Christian Kern. Von der einen Seite sind es der bulgarische Regierungschef Bojko Borissow und Angela Merkel, die ihn beeindruckt mustern. Gegenüber ist ein EU-Ratspräsident Donald Tusk zu sehen, der Kern fixiert, und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban.

Seht her, sagt dieses inszenierte Bild zur Flüchtlingsfrage, ich bin der, der die Brücke baut. Die Brücke zwischen der deutschen Bundeskanzlerin, die sich mit ihrer Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres im europäischen Verbund ins Abseits manövriert hat. Und den Gegenspielern aus Bulgarien und Ungarn, also Borrisow und Orban.

Eine Brücke mit neuer Statik

Eine Brücke vom Balkan über Wien nach Berlin, die allerdings eine ganz neue Statik hat. Der südliche Pfeiler ist klar gestärkt. Kerns Politik der Aussöhnung Europas in der Frage der Zuwanderung geht auf Kosten der deutschen Kanzlerin, der nichts übrig bleibt, als diesem Machtverlust mit einem freundlichen Gesicht zu begegnen.

Und mit einer neuen Position. Vor ziemlich genau einem Jahr ließ die deutsche Kanzlerin in einer Talkshow ihre Bevölkerung wissen, dass es ihrer Ansicht nach „nicht in unserer Macht“ liege, „wie viele nach Deutschland kommen“. Nun, beim Wiener Kongress zum europäischen „Burden Sharing“, ließ sich Angela Merkel mit dem Satz vernehmen: „Unser Ziel muss es sein, die illegale Migration so weit wie möglich zu stoppen.“ Zwischen diesen beiden Statements der Kanzlerin liegen etwa 350 Tage, politische Welten, fünf Wahlniederlagen ihrer Partei bei Landtagswahlen sowie eine Bußrede, die ein wohlwollender Beobachter „eine kluge Demutsgeste“ genannt hat.

Kommt Merkels Konzession zu spät?

„Demutsgeste“ ist sprachlich gesehen ein Determinativkompositum. Das heißt, die eigentliche Bedeutung des Wortes liegt nach deutscher Grammatik in seinem zweiten Teil. Nicht bei Demut. Sondern bei Geste. Und mit diesem Wort ist dann auch Merkels Herausforderung der kommenden Wochen und Monate benannt. Denn eine Geste ist eine Geste, also weder zwingend Überzeugung noch Tat. Daher ist die Schlüsselfrage: Reicht diese späte, sehr späte Konzession an ihre Kritiker im eigenen Land aus, alles Vorherige vergessen zu machen?

Die Frage ist vorläufig offen. Tatsache ist aber: Auch in den von ihr in diesem Zusammenhang ausgerufenen postfaktischen Zeiten gelten weiter Zahlen und Fakten. Und Fakt ist, dass die von ihr nun als zu unterbinden benannte illegale Migration bereits eine knappe halbe Million nicht registrierte Menschen nach Deutschland gebracht hat. Niemand weiß, wo die sich aufhalten und welche Ziele sie nach Deutschland geführt haben. Und auch nicht, wie man sie je registriert bekommen könnte. 

Die große Unbekannte in Merkels Rechnung

Vorläufig kann also die Kanzlerin nur abwarten und sondieren, ob sich für sie hierzulande eine zweite Chance in der Flüchtlingsfrage ergibt. In Europa ist ihr die Sache schon entglitten beziehungsweise aus der Hand genommen worden. Im Schwesternstreit mit der CSU zeichnet sich hingegen eine Einigung ab, die für sie innerparteilich einigermaßen gesichtswahrend sein kann.

Bleibt als große Unbekannte in Merkels politischer Rechnung die Bevölkerung. Bis zum CDU-Parteitag Anfang Dezember muss sie für sich selbst diese Fragen beantworten: Ist die Trendwende gelungen? Gewinne ich den Rückhalt zurück, der erforderlich ist für eine erfolgreiche Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres? Oder geht der Erdrutsch trotz Kehrtwende in der Sache und der Rede im Büßerhemd weiter? Sollte sich in den nächsten Wochen Letzteres abzeichnen, sind Überraschungen in Essen nicht ausgeschlossen.

Christian Kern ist übrigens jener österreichische Bundeskanzler, der auf Werner Faymann folgte, mit dem Angela Merkel seinerzeit die Grenzöffnung des 4. September 2015 verhandelte und beschloss.        

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