Laschet und Olympia 2036 - Vergangenheit ist kein Ausschlusskriterium

Mit seinem Vorstoß einer Bewerbung für Olympia 2036 erzeugte Armin Laschet schnell Widerspruch. Sommerspiele 100 Jahre nach denen der Nazis, das mag zunächst befremden. Doch mit einem geschichtsbewussten Konzept wären sie nicht ganz abwegig.

Berliner Olympiastadion: Zu Beginn hatte Hitler die Spiele nicht einmal durchführen wollen / dpa
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Dr. André Postert, geboren 1983, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, wo er 2013 promoviert wurde. Als Historiker ist er in der Wissenschaft und der politischen Bildung aktiv. Seine Themenfelder sind die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die Geschichte des Rechtsextremismus.

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Wer Hoffnungen hatte, die Olympischen Spiele könnten in absehbarer Zeit wieder nach Deutschland kommen, sieht sich getäuscht. Für das IOC ist das australische Brisbane als Spielstätte 2032 gesetzt. Verstimmt zeigte sich NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der eine Privatinitiative zur Bewerbung des Rhein- und Ruhrgebiets unterstützt. Er halte an den Planungen fest, sagte Laschet. Wenn es mit dem Jahr 2032 nichts werde, stünde man auch für 2036 bereit – das wäre 100 Jahre nach den Spielen, die das nationalsozialistische Deutschland ausrichtete.

Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Laschet, das kommt hinzu, hatte es anscheinend frei von Sorgen vorgetragen: Die Botschaft der Olympischen Spiele sei eine inhaltliche, die Welt eine andere als 1936. Genau diese Veränderung sichtbar zu machen, so Laschet, passe zu jeder Austragung der 30er Jahre. Anders gesagt: 100 Jahre nach den Nazi-Spielen scheint Olympia auch in Deutschland gut aufgehoben. Man mag diese Nonchalance befremdlich finden, aber so falsch ist der Gedanke nicht. 

Keine würdige Spielstätte

Fangen wir mit der Vorgeschichte an: Berlin war eigentlich schon 1916 als Austragungsort vorgesehen gewesen. Der Erste Weltkrieg hatte das Feuer des Friedens jäh erstickt. Danach stand außer Frage, dass ein Land, dem im Versailler Friedensvertrag die Hauptkriegsschuld angelastet wurde, keine würdige Spielstätte war. Erst als sich die Republik in den 1920er Jahren den Weg zurück auf das internationale Parkett und in die Sportwelt erarbeitete, kam Berlin als Austragungsort wieder infrage.

Am 13. Mai 1931 – nach dem Durchbruch der NSDAP bei der Reichstagswahl im Jahr zuvor – fiel die Entscheidung zugunsten Berlins, das sich in der Abstimmung gegen Barcelona behauptete. Keine zwei Jahre später wurde den Nationalsozialisten die Macht in Deutschland in die Hände gegeben. Die Grundfesten der Demokratie: rasch mit Gewalt zerschlagen. Die Opposition: verhaftet, ausgeschaltet, ermordet. Die Judenverfolgung: früh Alltag und bald durch rassistische Gesetze legitimiert. 

Die Alternative Barcelona

International formierte sich Protest. Die linke Regierung in Spanien nutzte die Gunst der Stunde, zimmerte das Dach für eine Alternative. Kommunistische und sozialdemokratische Parteien, Gewerkschaften, internationale Hilfsorganisationen und jüdische Emigranten organisierten eine „Volksolympiade“, die in Barcelona stattfinden sollte. Bevor die alternativen Sommerspiele 1936 Realität werden konnten, putschte das Militär unter General Franco gegen die spanische Republik. Das Land versank für rund drei Jahre im blutigen Bürgerkrieg. Hitler, Mussolini und Stalin mischten gehörig mit.

„Nach der Olympiade werden wir rabiat. Dann wird geschossen“, notierte Propagandaminister Joseph Goebbels im August 1936. Unterdessen waren Sportler und Journalisten fast aus aller Welt nach Berlin gereist. Im Februar hatte das Regime in Garmisch-Partenkirchen mit der Ausrichtung der Winterspiele – noch nicht so aufmerksam verfolgt wie heute – gute Erfahrungen gemacht. 

Fast von Erfolg gekrönt

Der internationale Protest gegen Deutschland als Gastgeber war Mitte der 1930er Jahre fast von Erfolg gekrönt. Avery Brundage, der Präsident des Amerikanischen Olympischen Komitees, erteilte jedoch Boykott-Forderungen eine Absage: Deutschland, befand er nach einer Inspektionsreise 1934, werde Regeln akzeptieren und gemachte Zusicherungen einhalten.

Im US-amerikanischen Leichtathletik-Verband fiel Ende 1935, obgleich denkbar knapp, die Entscheidung zugunsten der Teilnahme. Danach zogen viele Verbände auch aus anderen Ländern nach; Palästina sagte wegen der Judenverfolgung in Deutschland ab. Ernest L. Jahncke, IOC-Mitglied aus den USA, der auf eine Verlegung der Austragungsorte gedrängt hatte, wurde im Juli 1936 abserviert. Der einflussreiche Deutschland-Befürworter Brundage rückte nach; 1952 wurde er IOC-Präsident.

Einer der größten propagandistischen Erfolge

Schlecht erforscht oder gar unterbelichtet sind Winter- und Sommerolympiade 1936 nicht. Die Nationalsozialisten nutzen die Spiele zur Stabilisierung im Innern, als ästhetischen Ideologieverstärker in Sachen Körperkult und Rasseheroismus sowie als weltpolitische Werbetafel. Von der olympischen Idee und Bewegung, die eine internationale und dem Anspruch nach friedensstiftend ist, hielten sie nichts. Zu Beginn hatte Hitler die Spiele nicht einmal durchführen wollen.

Wie das Regime ihnen dann doch etwas abgewinnen konnte, hat Leni Riefenstahl im bekannten Propaganda- und Dokumentarfilm „Olympia“ effektvoll in Szene gesetzt. Nicht zu Unrecht darf man Olympia in Deutschland zu den größten propagandistischen Erfolgen Hitlers in den 1930er Jahren zählen. Nicht deshalb, weil deutsche Sportler Mitte August 1936 die meisten Goldmedaillen geholt und so dem Regime großen Zuspruch beschert hatten, sondern weil sich die westlichen Gesellschaften leichtgläubig von Lügen, schönen Fassaden und Beschwichtigungsoffensiven einlullen ließen.

Die NSDAP hielt sich im Hintergrund

Das Regime hatte sich widerwillig verpflichten lassen, allen Sportlern unabhängig von Nationalität und Herkunft freien Zugang zu gewähren. Die anti-jüdische Hetze wurde 1936 zumindest zwischenzeitlich auf Eis gelegt, die Plakate wurden abgehangen, Schilder abmontiert. Die Stätten des Folterns und Mordens betrieben die Nazis zwar weiter, unweit von Berlin bauten sie das neue Konzentrationslager Sachsenhausen, aber schirmten sie wohlweislich ab.

Die Zulassung zweier „halbjüdischer“ Sportler – der Eishockeyspieler Rudi Ball und die Fechterin Helene Mayer – sollte die Weltöffentlichkeit zufriedenstellen. Sogenannte „Volljuden“ blieben außen vor. Abgesehen vom Fahnenprotz in Straßen und der Zurschaustellung nationaler Größe im Berliner Olympiastadion hielt sich die NSDAP im Hintergrund. Die SA bekam vorsichtshalber mitgeteilt: „Wir wollen […] beweisen, dass es Lüge ist, wenn […] immer wieder behauptet wird, dass in Deutschland Judenverfolgung an der Tagesordnung ist.“ Zeitungen waren auf Harmlosigkeit verpflichtet, Wörter wie „Exoten“ sollten nicht gedruckt werden. Spielzeughändlern ging die Anweisung zu, kein militärisches Getümmel im Schaufenster zu zeigen.

Kritische internationale Presse gab es zwar. Dennoch ließen sich viele Gäste von der Melange aus Prunk, Großereignis und Friedensgesten blenden. Als sie abgereist waren, schlug das Regime gegen politische Gegner und Juden noch brutaler zu als zuvor.

„Eine unsägliche internationale Diskussion“

Das ist lange her, wird mancher müde sagen. Doch zu glauben, man könne hierzulande 100 Jahre später Spiele veranstalten, ohne dass das Thema mit aller Macht auf den Tisch kommt, wäre naiv. Das hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer im Blick, als er im letzten Jahr erklärte, Olympia 2036 sei nicht vorstellbar: „Wir bekämen eine unsägliche internationale Diskussion und würden damit auch die olympische Idee beschädigen.“

Eine Warnung, die man nicht in den Wind schlagen darf: Der Vorwurf wird kommen, Deutschland wolle sich von seiner Vergangenheit reinwaschen. Fraglich außerdem, ob eine Erinnerung an Berlin 1936 im Interesse des IOC wäre. Manches, was in Berlin der Welt vorgeführt wurde, hat Bestand: Die Idee, eine Fackel aus Griechenland ins Stadion tragen zu lassen, hatte der deutsche Sportfunktionär Carl Diem zum ersten Mal realisiert. Olympia 1936 käme unweigerlich in den Blick, wenn Deutschland 100 Jahre später Gastgeber wäre.


Genug Sachverstand gibt es

Blühende Fantasie braucht es nicht, um sich vorzustellen, wer die Linie von 1936 zu 2036 ziehen könnte. Staaten, deren Spiele im demokratischen Westen besonders kritisch beäugt worden sind, dürften sich revanchieren wollen – man denke an die Sommerspiele in Peking 2008 oder die Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Der Eindruck, Deutschland wolle Vergangenheit und Verbrechen vergessen lassen, darf gar nicht erst entstehen. Und die westlichen Demokratien sollten sich nicht den Vorwurf einhandeln, mit doppelten Standards zu messen.

Freilich: Vergangenheit sollte nicht per se ein Ausschlusskriterium sein. Dass es hierzulande um erinnerungskulturelle Infrastruktur schlecht bestellt ist, kann man nicht behaupten: Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Museen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außer- und innerhalb der Universitäten mit internationalen Kontakten. Genug Sachverstand und praktische Erfahrung, sollte man meinen, um etwaige Spiele in Deutschland erinnerungspolitisch zu flankieren.

Nicht ganz abwegig

Schon die Sommerspiele 1972 in München waren als lebensfroher, bewusst minimalistischer Gegenentwurf zu Berlin 1936 konzipiert worden. Das Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft und der misslungene Befreiungsversuch, der mit dem Tod aller 11 Geiseln endete, überschattete den bis dahin gelungenen Versuch. 

Kaum auszudenken, könnte man sagen, wenn auch auf die dritte Olympiade in Deutschland ein Schatten fiele – 100 Jahre nach Garmisch-Partenkirchen und Berlin. Rhein und Ruhr mögen als Kontrapunkt zum Nazi-Protz 1936 ihren Charme haben. Indes müssten diese Olympischen Spiele weit mehr bieten als den leicht daher gesagten Gemeinplatz, dass die Welt nach 100 Jahren eine andere und bessere sei. Ein Engagement, das fröhliche Feierlichkeiten mit geschichtlichem Bewusstsein und Ernst zu verbinden vermag, erscheint zwar gar nicht so abwegig. Aber es verlangt allen Beteiligten viel, möglicherweise zu viel ab. 

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