Antirassismus-Proteste in Deutschland - Ein politisches Desaster

Für die Proteste gegen Rassismus in den USA wurden die Corona-Beschränkungen in Deutschland gestern offenbar außer Kraft gesetzt. All jene, die sich in den vergangenen Monaten an die Regeln gehalten haben, fragen sich nun zu Recht: Misst der Staat mit zweierlei Maß?

Demonstranten auf dem Berliner Alexanderplatz am gestrigen Samstag / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Gestern Mittag beim Friseur die Aufforderung: Bitte warten Sie draußen, bis Sie dran sind – es darf jeweils nur ein Kunde im Laden sein! Eine knappe halbe Stunde später, natürlich brav vor der Tür sitzend verbracht, meine Bitte: Haare nur nass machen, waschen ist nicht nötig. Die Antwort: Das geht leider nicht, Haarwaschen ist Pflicht – die neuen Corona-Regeln! Zur gleichen Zeit demonstrieren nur ein paar Kilometer weiter tausende Leute auf dem Berliner Alexanderplatz, von Mindestabstand kann keine Rede sein, und Atemschutzmasken finden, wenn sie überhaupt getragen werden, eher Verwendung als dekorative Accessoires – eine augenzwinkernde Konzession an staatliche Eindämmungsregeln wegen irgendeiner Pandemie. Covid-19 war gestern, jetzt heißt es: „Black lives matter!“ Lebensgefahr ist immer, nur der Anlass wechselt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. Und vom Virus war jetzt wirklich lange genug die Rede. Höchste Zeit, neue Gefahrenquellen zu benennen.

Die richtige Gesinnung heiligt die Mittel

Die Ermordung eines schwarzen US-Amerikaners durch einen weißen Polizisten in Minneapolis ist völlig zu Recht zum Politikum geworden; nur verbohrte Chauvinisten werden behaupten können, in den Vereinigten Staaten gebe es keinen strukturellen Rassismus, der sich oft auch in mehr oder weniger manifester Gewalt durch die Obrigkeit gegenüber ethnischen Minderheiten entlädt. Der unbedingte Wille allerdings, mit der insbesondere linke Milieus diese Problematik im Verhältnis eins zu eins auf die Bundesrepublik zu übertragen versuchen, macht schon staunen. Die Bereitschaft sogenannter politischer Verantwortungsträger, dies auch noch zu unterstützen und bei entsprechenden Aufmärschen beide Augen zuzudrücken, erst recht.

Der Zweck, besser gesagt die richtige Gesinnung, heiligt eben praktisch jedes Mittel – Corona hin oder her. Da gilt dann etwa beim Friseurbesuch die Pflicht zur Haarwäsche als genauso sakrosankt wie das Maskentragen im Supermarkt. Für Demonstrationen mit Party-Charakter – ob nun zur Verteidigung der hauptstädtischen Club-Kultur oder gegen den in Deutschland offenbar epidemischen Rassismus – gelten indes andere Regeln. Beziehungsweise andere Maßstäbe, was deren Ernsthaftigkeit betrifft.

Der Staat verliert seine Legitimationsgrundlage

Es vergeht kein Tag, an dem die Bürger von „der Politik“ nicht daran erinnert werden, dass die Pandemie noch längst nicht vorbei sei; kein Tag, an dem nicht vor zweiten, dritten oder vierten Wellen gewarnt würde. Man kann inzwischen schon froh sein, wenn man als Bewohner dieses Landes nicht von irgendeinem gewählten Volksvertreter für regelkonformes Corona-Abstandhalten gelobt wird wie ein Schüler, der brav seine Hausaufgaben macht und sich ganz in den Dienst der „Flatten the Curve“-Doktrin stellt. Auch wenn das Anti-Corona-Maßnahmenpaket durchaus Raum für berechtigte Zweifel gelassen hat, war dieses Land in den vergangenen Wochen und Monaten von einer großen Bereitschaft geprägt, sich dem Gesundheitsregime zu unterwerfen. Zumindest, so lange eine gewisse Ernsthaftigkeit auch auf politischer Ebene zu spüren war.

Die Art und Weise, wie am Wochenende in vielen deutschen Großstädten die Massendemos – gegen was genau eigentlich? – durchgewunken wurden, muss diesem ohnehin sehr brüchigen gesellschaftlichen Konsens zwangsläufig ein Ende setzen. Ein Staat, der zwar einen Lockdown mit milliardenteuren Kollateralschäden, mit Insolvenzen in unfassbarer Größenordnung und hunderttausenden vernichteter Existenzen durchsetzt, sich aber gleichzeitig nicht in der Lage sieht, Kundgebungen zu verhindern, die vor weniger ideologisch aufgeladenem Hintergrund eines allfälligen Anti-Rassismus als Super-Spreading-Events untersagt würden, hat bei Lichte besehen seine Legitimationsgrundlage verloren.

Die Gesinnungsguerilla setzt das Erreichte auf's Spiel

„Black lives matter!“ Wer wird das bezweifeln? Aber es gibt eben auch Leben jenseits von Farbskalen und Herkunftsbeschreibungen. Während der Corona-Pandemie wurde und wird permanent mit offenbar mitunter recht scheinheiligem Ernst beschworen, dass man das Wohlergehen unterschiedlich durch das Virus gefährdeter Menschen nicht gegeneinander abwägen dürfe; dass es keine Frage von Vorerkrankungen, von Alter oder körperlicher Konstitution sein dürfe, ob der gesundheitliche Schutz zu gewähren sei. Und dieser ethische Imperativ stieß auf breite Zustimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht: Ausgerechnet der gewaltsame Tod des Amerikaners George Floyd wird von Teilen der notorischen Gesinnungsguerilla und deren Followern zum Anlass genommen, alles Erreichte wieder aufs Spiel zu setzen. Oder würde sich jetzt ernsthaft noch ein – sagen wir mal: Berliner Innensenator – guten Gewissens trauen, dem Imbissbudenbesitzer, dem Einzelhändler, dem Kneipier faktisches Berufsverbot zu erteilen, weil man leider nicht die Kraft und vor allem nicht den Willen hatte, an anderer Stelle seine Regeln durchzusetzen? Und zwar schlicht aus nackter Angst davor, durch den medialen Fleischwolf der Identitätspolitik gedreht zu werden. Da macht es nämlich schon einen erheblichen Unterschied, ob man sich mit demonstrierenden Verschwörungstheoretikern anlegt oder eben mit Aktivisten, denen jeder noch so fernliegende Vorwand gelegen kommt, um das Süppchen eines vermeintlichen Antirassismus am Kochen zu halten, das nur allzu oft nach linksextremer Ideologie schmeckt.

Welchen Sinn erfüllen die Massenaufläufe?

Mit Sicherheit waren in Berlin, München, Frankfurt und anderswo am Wochenende viele aufrechte Demonstranten unterwegs. Die Fragen sind nur: Erstens, unter welchen Umständen fanden die Kundgebungen statt? Und zweitens zu welchem Ziel? Was den ersten Punkt betrifft, reicht ein Blick auf heillos überfüllte Plätze und Straßen. Was den zweiten angeht: Sollte Rassismus in Deutschland tatsächlich strukturell verankert sein, wie löst man dann dieses gesellschaftliche Problem mit Massenaufläufen, die dem common sense inmitten einer Gesundheitskrise diametral entgegenlaufen?

Sollten sich die Demos im Nachhinein als Virenschleudern erweisen, sind dafür auch jene Politiker verantwortlich, die das alles haben geschehen lassen. Sollte genau das aber nicht geschehen, stellt sich die Frage, ob die bisherigen Eindämmungsmaßnahmen überhaupt sinnvoll und verhältnismäßig waren (und sind). Für Vertrauen in staatliches Handeln sorgt allerdings weder das eine noch das andere. Dieses Wochenende war ein politisches Desaster.

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