„Anne Will“ zur Corona-Krise - Der Weg steht fest, das Ziel ist unbekannt

In der ARD-Talkshow „Anne Will“ zeigte sich Peter Altmaier als König ohne Land, während Michael Kretschmer Sachsen und Deutschland und sich selbst schwelgend lobte. Es war ein bitterer Spaß mit einem raren Moment der Wahrheit.

Alle Diskutanten betonten: „Wir müssen Schritt für Schritt nach vorne gehen“ / Screenshot ARD
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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In der Vergangenheit ist verschiedentlich bezweifelt worden, dass Sachsen in Deutschland liege. Man riet dem stolzen Stamm, es andernorts zu versuchen, jenseits des deutschen Föderalismus. Wogegen sich jenes sächsische Erbe regte, das subkutan lebhaft blieb bis heute, obwohl die beiden letzten sächsischen Ministerpräsidenten eher dessen zerknirscht-bedröppeltes Gegenstück abgaben.

Dieses alte Erbe, das Erbe Augusts des Starken, die Mischung aus prunkendem Selbstlob und Optimismus als Dienstanweisung, kehrte jetzt zurück in die Öffentlichkeit. Zu vermelden ist, dass sich Ministerpräsident Michael Kretschmer am 19. April 2020 vom verzagten Melancholiker in einen zupackenden Lobredner verwandelte, und zwar in der ARD-Talkshow „Anne Will“. Kretschmer sieht Deutschland in der Corona-Krise auf bestem Weg und Sachsen als Vorbild. Alles laufe ziemlich wunderbar, „typisch deutsch“ eben.

„Typisch deutsch“

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Das typisch Deutsche ist freilich unter den gegenwärtigen Krisenbedingungen eine Kategorie, die alles Akademische sprengt. Um das Typische mit dem Besten kurzschließen zu können, wie Kretschmer es tat, braucht es einen validen Datenkranz. Am 19. April 2020 war bekannt geworden, dass die Fallsterblichkeit in Deutschland den siebten Tag in Folge stieg, auf nunmehr 3,1 Prozent der Infizierten. Ebenfalls am 19. April rügte das Bayerische Rote Kreuz scharf den „kaputtgesparten“ Katastrophenschutz, der seinen Namen nicht verdiene. Freilich stimmt auch, dass die von jedem typischen Deutschen mittlerweile im Schlaf herzubetende Ansteckungsrate beziehungsweise Covid-19-Reproduktionszahl unter der 1,0 angekommen ist.

Für Kretschmer gibt es keinen Zweifel: „Alles, was hier passiert, wird klug und vernünftig vorbereitet“, und „hier“ meint Sachsen; er sei beeindruckt von „unglaublich engagierten Menschen“, vor allem in der Lehrerschaft; es sei schon vieles „gelungen“, eine „großartige Sache“ seien auch gestundete oder aufgeschobene Steuerzahlungen wegen Corona. Das sei alles „typisch deutsch“: Man entwickle einen Plan, arbeite eine Strategie aus, „und am Ende läuft es wie am Schnürchen.“ An welchem epidemischen Ende aber sind wir angelangt? An keinem, sagen alle, sagte an anderer Stelle selbst Kretschmer. Und welche Schnur rollt sich da ab von der Spindel des Schicksals? Die Zahl der Corona-Todesfälle, hörten wir am 19. April vom Robert-Koch-Institut, wuchs um 184 auf bundesweit 4294.

Die große Schrittparade

Wer lobt, der will gelobt werden für das Lobenswerte. Michael Kretschmer machte aus den blühenden Landschaften Ostdeutschlands sächsische Gärten der Semiramis. Bisher 107 Todesfälle hat das Bundesland zu beklagen, keinen Spitzenplatz belegt es damit. Das globale Lob freilich stieß Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft bitter auf. Der Ökonom setzte als Abwehrwort die viele, viele Male eingesetzte Vokabel von der „Bildungsgerechtigkeit“ dagegen, wie lauter auch immer. „Schulpräsenz entscheidet über Schulerfolg“, so Hüther, weshalb es falsch sei, die Grundschulen geschlossen und die Schüler daheim zu halten. Bei verringertem Lehrplan und reduzierter Klassenstärke sei Unterricht jetzt wieder möglich. Im Übrigen plädiere er dafür, Risiken abzuwägen und „in einer Schrittfolge zu denken“.

Damit war er rein gar nicht allein. Alle Diskutanten betonten: „Wir müssen Schritt für Schritt nach vorne gehen“ (Michael Kretschmer), „ich bin auch sehr für schrittweises Vorgehen“ (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger), „wir müssen jeden Schritt genau gucken“ (Michael Meyer-Hermann), „wir müssen uns sehr genau anschauen, wie sich das entwickelt“ (Peter Altmaier). Es mag zwei brauchen, um Tango zu tanzen. Es braucht ein Land, um ein Virus in Schach zu halten. Die große Schrittparade hat begonnen. Der Weg steht fest, das Ziel ist unbekannt. Wollen wir „das Virus austrocknen“ und greifen deshalb zu „radikalen Maßnahmen“, verlängern also den strengen Lockdown um drei Wochen? Das fordert Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung, trotz eines kumpeligen Althippie-Looks, Lederjacke und Lederbändchen und Haarzopf inklusive.

König ohne Land

Meyer-Herrmann sieht nur so die Chance gegeben, in absehbarer Zeit auf eine Reproduktionszahl von 0,3 zu kommen, „das wäre eine beherrschbare Zahl“. Michael Kretschmer hingegen lädt dazu ein, „mit dem Virus zu leben“, im schönen Sachsen und überall. Wir folgern: Deutschland schlingert sich ins Glück. Oder ist zumindest entschlossen, es mit forciertem Tapsen tapfer zu versuchen. Es fehle halt an „wissenschaftlicher Grundlage“ (Altmaier) für eine klare politische Entscheidung in die eine oder andere Richtung. Den wichtigsten Hinweis zur Richtigkeit politischer Maßnahmen gab freilich die ehemalige Bundesjustizministerin von der FDP: Nie, beharrte Leutheusser-Schnarrenberger, dürfe es einer Regierung einfallen, einen Ausnahme- als Normalzustand auszugeben, niemals. Womit die Sendung den Moment ihrer höchsten Wahrheit erreichte.

Nie auch war es bitterer, Peter Altmaier als traurigen Funktionär der Macht zu erleben, der Beschlüsse von Nichtbeschlüssen zu unterscheiden weiß und ansonsten für das Meiste Verständnis hat, wenngleich er das Wenigste anordnen kann. Selten wurde deutlicher als in dieser Sendung, dass der Bundeswirtschaftsminister ein König ohne Land ist. Altmaier teilte mir, er möchte dieses, er wisse jenes, er finde das hier gut, er sei sehr dafür, müsse aber „jetzt erstmal klären“. Auch den stumpfsten, verbogensten Pfeil zog er aus dem Köcher der Phrasen: Die Bundesregierung arbeite daran „mit Hochdruck“. Woran? Egal. An allem. Zur argumentativen Implosion kam es, als Anne Will ihn auf den von Finanzminister Scholz und Gesundheitsminister Spahn verwandten Begriff der „neuen Normalität“ ansprach. Altmaier retournierte routiniert: Dieser Begriff sei vom Kabinett „noch nicht beschlossen worden“. So wissen wir nun doch, was ganz „am Ende“ bleibt, wenn das Schnürchen reißt und die Intensivbetten sich füllen und das Typische im Allgemeinen untergeht: Begriffspolitik.

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