Annalena Baerbock wird Kanzlerkandidatin - Sehnsucht nach der verlorenen Komfortzone

Mit Annalena Baerbock bewirbt sich zum ersten Mal eine Angehörige der Generation Y um ein hohes Staatsamt. Eine Zäsur. Doch in Zeiten der Krise wirken diese Kinder der alten Bundesrepublik wie von gestern. Nicht auszuschließen allerdings, dass genau diese sentimentale Erinnerung ein Teil ihres Erfolges ist.

Ewige Kindheit als Lebensgefühl: Annalena Baerbock / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Sie ist die Kandidatin vieler Journalistenherzen: Annalena Baerbock. Zumindest hatte man in den letzten Tagen diesen Eindruck. Nicht wenige Kommentatoren gerieten geradezu ins Schwärmen bei der Vorstellung, die grüne Kandidatin könnte im September ins Kanzleramt einziehen. Da war es geradezu eine Wohltat, dass der Spiegel dezent darauf hinwies, dass ein Mann mit der gleichen Regierungserfahrung wie Frau Baerbock (nämlich keiner) vermutlich niemals Kanzlerkandidat geworden wäre. Und das jovial-unkritische Interview, das Pro7 mit Frau Baerbock führte, irritiert sogar die Süddeutsche.

Dabei war der Applaus, den Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke ihrem Gast am Ende des Interviews spendeten, nicht einfach nur unprofessionell. Er war vor allem ein Symbol für die neue Flauschigkeit und geradezu kindliche Harmlosigkeit, die bevorzugt dort gepflegt wird, wo sich Vertreter der Generation Y unter ihresgleichen wissen.

Gut gelaunte Arglosigkeit 

Kaum jemand versinnbildlicht diese gutgelaunte Arglosigkeit mehr als Annalena Baerbock. Schon der Vorname ist ein Symbol. Bevor jetzt jemand protestiert: Ja, es ist unfair, auf Namen herumzureiten. Aber ganz sinnfrei ist es eben auch nicht. Denn es sind Eltern, die den Namen eines Kindes wählen. Und diese Eltern sind geprägt durch ein Sozialmilieu, durch ein Lebensgefühl. Man braucht kein Soziologiestudium, um zu erkennen, dass die Eltern von Jayden aus einem anderen Umfeld stammen als die Eltern von Maximilian.

Und auch „Annalena“ ist das Produkt einer Gesellschaft und ihrer Epoche: der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der alten Bundesrepublik. Der Name signalisiert Zugehörigkeit zu jenem aufstrebenden Mittelschichtsmilieu, das ab den 70er Jahren beginnt, konservative Vorstellungen hinter sich zu lassen. Man kokettiert mit alternativen Wertevorstellungen, schickt seine Kinder in Waldorfschulen, gibt sich umweltbewusst, konsumkritisch und friedensliebend. Und man nennt seine Tochter nicht Brigitte oder Renate, sondern eben Annalena.

Großgeworden in der Zeit des Waldsterbens

Dass Annalena Baerbock elf Monate nach der Gründung jener Partei geboren wurde, für die sie nun in den Wahlkampf zieht, ist daher kein Zufall. Als sie 1980 auf die Welt kommt, tobt die Nachrüstungsdebatte. Die Anti-AKW-Bewegung demonstrierte gegen das Kernkraftwerk Brokdorf und das Atommülllager Gorleben. Das Thema Waldsterben beherrschte die Medien.

Zwei Jahre später wurde Helmut Kohl Bundeskanzler. Damit waren die 70er Jahre endgültig passé. Eine neue Ära hatte begonnen, Jahre von Wohlstand, Sicherheit und Saturiertheit, aber auch – und das wird gerne übersehen – von gesellschaftlicher und kultureller Modernisierung. Die popkulturelle und normative Revolution der späten 60er Jahre war in den 80er Jahren Mainstream geworden.

Zwanglos und antiautoritär erzogen 

Annalena Baerbock ist in jeder Hinsicht ein Kind dieser Kohl-Jahre. Groß geworden in der behüteten, beschützten Wirklichkeit der alten Bundesrepublik, getragen von den Sorgen einer postindustriellen Wohlstandsgesellschaft und geprägt von der freundlichen Harmlosigkeit jener Jahre – zwanglos, antiautoritär und losgelöst von altbürgerlichen Wertvorstellungen wie Ordnung und Gehorsam.

Vollkommenes irdisches Glück, so die Frontfrau der Grünen in einem Fragebogen der FAZ, sei für sie „ein Banana-Split-Eis, mit Schoko- statt Vanillekugeln, bei Sonne in der Eisdiele, zusammen mit meiner Familie.“ Kaum ein Zitat bringt die rührend-sorglose Mentalität dieser Generation besser zum Ausdruck. Ihr liebster Romanheld ist dementsprechend nicht Aljoscha Karamasow oder eine vergleichbare Figur mit Fallhöhe, sondern – Ronja Räubertochter. Und ihre Lieblingsschriftstellerin – dreimal dürfen Sie raten, richtig – Astrid Lindgren. Ewige Kindheit als Lebensgefühl. Und ihre Lieblingstugend ist nicht etwa Mut oder Entschlossenheit, sondern Empathie. Natürlich.

Sehnsucht nach der verlorenen Komfortzone  

Mit Annalena Baerbock bewirbt sich erstmals eine Vertreterin der Generation Y um ein hohes Staatsamt. Eine Zäsur. Erinnern wir uns: Angela Merkel war die erste Nachkriegsgeborene im Kanzleramt. Nun gleich ein Millennial – ein gewaltiger Schritt. Doch seltsam. In Zeiten der Krise wirkt diese Generation auf einmal wie von gestern. Die Kinder von Kohl sind wandelnde Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Gut möglich allerdings, dass sie deshalb bei vielen so populär sind. In ihnen spiegelt sich die Sehnsucht nach der verlorenen Komfortzone.

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