Amri-Untersuchungsausschuss - „Der Anschlag hätte verhindert werden können“

Der Untersuchungsausschuss (UA) zum Terroranschlag am Breitscheidplatz hat eklatantes Behördenversagen festgestellt. Die Grünen haben nun ein Sondervotum politischer Forderungen für die zukünftige Arbeit der Sicherheitsbehörden aufgestellt. So solle sich die Polizei kritischer in ihrer Arbeit selbst befragen, sagt Benedikt Lux, Grünen-Sprecher im UA.

Spur der Verwüstung: Der Berliner Breitscheidplatz am Tag nach dem Attentat / Foto dpa
Anzeige

Autoreninfo

Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

So erreichen Sie Uta Weisse:

Anzeige

Benedikt Lux ist Mitglied der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und Sprecher der Partei im Untersuchungsausschuss (UA) zum Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz, bei dem am 19. Dezember 2016 elf Besucher eines Weihnachtsmarktes und mindestens 67 weitere Besucher zum Teil schwer verletzt wurden. Der islamistische Attentäter Anis Amri war im Jahr 2011 als illegaler Migrant nach Europa gekommen, wo er sich als Flüchtling ausgegeben hatte.

Dass Islamisten mit Drogen handeln, um Geld zu verdienen, etwa für ihre Anschlagsvorbereitungen, aber auch selbst Drogen nehmen, sich teils pornografisches Material anschauen, ist bekannt. Durch solches „unmuslimisches“ Verhalten wollen sie, wenn sie unter Beobachtung von Sicherheitsbehörden stehen, den Verdacht zerstreuen, sie seien Islamisten. Das Berliner Landeskriminalamt (LKA) ist bei Anis Amri offenbar darauf reingefallen.

Genau. Das Berliner LKA hat im Zeitraum Juni 2016 den kapitalen Fehler gemacht, die Gefährlichkeit von Amri zu unterschätzen. Mit der Begründung, er sei ins Drogenmilieu abgerutscht und nicht mehr religiös. Und deswegen wurden Observationen eingestellt. Das wurde auch im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) berichtet. Allerdings hat dann auch keine Sicherheitsbehörde, die mit am Tisch saß, zum Beispiel der Berliner Verfassungsschutz, gesagt, „wir könnten übernehmen“, um Amri sicherheitshalber weiter zu beobachten.

Aber der Berliner Verfassungsschutz hatte Amri trotzdem auf dem Radar über seine V-Leute.

Ja, der Berliner Verfassungsschutz und sogar auch das Bundesamt für Verfassungsschutz hatten beide Informanten im Umfeld Amris und der Fussilet-Moschee, die Amri regelmäßig besucht hatte, eingesetzt. Die Erkenntnisse, die die V-Leute den Ämtern lieferten, haben sie aber nie an die federführenden Behörde, das Berliner LKA, weitergeleitet. Dabei wurde Amri dort schon seit Dezember 2015 als Gefährder geführt und im März 2016, also neun Monate vor dem Terroranschlag, ein Verfahren wegen des Verdachts eines Anschlags eingeleitet.

Und der Anschlag wurde somit nicht vereitelt.

Die Verfassungsschutzämter haben nach dem Anschlag sogar jede Verantwortung von sich gewiesen. Der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, damals Hans-Georg Maaßen, hatte bei Anis Amri von einem „reinen Polizeifall“ gesprochen. Mit anderen Worten: Amri wäre kein Islamist gewesen, würde somit auch nicht unter die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes fallen. Das entsprach schon damals einfach nicht der Wahrheit. Die Verfassungsschutzämter in Berlin waren nicht Teil der Aufklärung, sondern sie haben gemauert.

Dass die einzelnen Sicherheitsbehörden aneinander vorbei ermittelt haben, wissen wir sowohl aus dem Untersuchungsausschuss des Bundestages als auch aus dem des Berliner Abgeordnetenhauses. Was bezwecken Sie mit dem Grünen Sondervotum?

Wir wollten neben der Aufklärung, die unser Untersuchungsausschuss geliefert hat, Forderungen stellen. Das leistet der Abschlussbericht des Gesamtausschusses nicht. Dort werden auf über 1.000 Seiten vordergründig viele Details zum Sachverhalt dargestellt.

Was fordern Sie konkret?

Wir wollen zum Beispiel, dass die Polizei offener wird, dass sie dazu übergeht, die eigene Arbeit selbstständig kritisch zu überprüfen, Fragen zu stellen wie: „Sind wir hier auf der richtigen Spur? Oder müssen wir auch mal etablierte Pfade verlassen? Die Grundannahme, dass ein Islamist eine Moschee zu besuchen hat und niemals Drogen nehmen würde, müssen wir die nicht auch nochmal überprüfen?“

Stattdessen haben die Berliner Behörden auf ihr falsches Bauchgefühl gehört.

Leider, ja. Amri hatte zwar Drogen genommen, aber ansonsten alle ersten Anzeichen einer extremistischen Radikalisierung erfüllt: Umgang mit salafistischen Moschee-Vereinen, Kontakte zu radikal-islamistischen Personen, die vom Staatsschutz beobachtet wurden. Hätte die Berliner Polizei zum damaligen Zeitpunkt ihre Ermittlungspraktiken kritisch hinterfragt – der Anschlag hätte verhindert werden können.

Benedikt Lux / Foto Rainer Kurzeder

Zumal dem Berliner LKA auch viele Daten zugespielt worden waren, die erst nach dem Anschlag ausgewertet wurden.

Ja, Daten und Informationen, die zu Gefährdern schon vorliegen, müssen sofort ausgewertet werden. Das ist eine ganz zentrale Forderung von uns. Das hört sich banal an, ist aber in der Realität längst nicht immer der Fall. Es gibt bei Amri und seinem Umfeld regelrechte Datenfriedhöfe: Zigtausende von nicht ausgewerteten Telefonaten lagen herum. Die haben wir entdeckt und die mussten auch erst einmal übersetzt werden. Manche Übersetzungen gab es sogar schon, aber man hat die Auswertungen einfach nicht in die Ermittlungen einfließen lassen.

Gab es darunter denn konkrete Hinweise, dass Anis Amri den Anschlag plante?

Zum Beispiel ein Telefongespräch mit seiner Schwester, in dem sie ihn des Terrorismus bezichtigt. Hätte man das rechtzeitig ausgewertet, wäre man Amri vielleicht auf der Spur geblieben.

Der marokkanische Inlandsgeheimdienst hatte der Berliner Polizei ebenfalls Daten über Amri zugespielt. Nur blieben die Informationen unberührt bis nach dem Terroranschlag. Woran hapert es denn bei der Polizei – an Personal oder Sprachkompetenz?

Es fängt leider schon bei der klaren Wahrnehmung der eigenen Zuständigkeiten an. Das ist kompliziert in Deutschland aufgrund des Föderalismus. Hinweise der marokkanischen Behörden hätten über den Bund gesteuert werden müssen. Das haben wir uns auch angeschaut. Das war ein Fehler, dass das nicht weitergeleitet worden ist. Und hier müssen die Nachrichtendienste besser zusammenarbeiten. Wir haben leider zersplitterte Behördenstrukturen. Damit werden wir auch künftig noch leben müssen.

Aber selbst wenn die Zuständigkeit nicht eindeutig geklärt ist, ist doch zu erwarten, dass bei der Polizei jemand mitdenkt und bei der zuständigen Stelle Bescheid sagt, wenn Informationen vorliegen.

Ja, deshalb fordern wir ein GTAZ-Gesetz. Also anstatt Informationen nur auszutauschen zwischen einzelnen Sicherheitsbehörden, sollte das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum auch eine koordinierende Funktion bei der Terrorabwehr einnehmen. Da wurden in der Vergangenheit Fälle vorgetragen, und das wurde nur zur Kenntnis genommen. So ja auch bei Amri, als das Berliner LKA vorgetragen hat, „Wir ermitteln weiter, aber können operative Maßnahmen nicht in bisherigem Umfang gewährleisten“, so der O-Ton. Das hört sich nett an, heißt aber: „Wir beobachten den nicht weiter.“ Und dann ist das da versandet. Da hat keine andere Behörde widersprochen, keiner gesagt: „Moment mal, können wir euch nicht irgendwie helfen? Ist der auch länderübergreifend tätig? Wäre das nicht vielleicht was für den Bund oder den Verfassungsschutz?“

Noch mal zurück zur Polizei, was würde helfen, damit Hinweise nicht in der Schublade liegen bleiben?

Ein Problem bei der Berliner Polizei war, dass es teilweise am Personal gefehlt hat, und zwar nicht nur im Bereich der Spezialkräfte, der Observation. Sondern auch im Bereich der Auswerter. Da wurde in den letzten Jahren aufgestockt, aber es hat auch an kriminalistischem Gespür gefehlt. Gegen die Fehleinschätzung, Amri wäre nicht mehr gefährlich gewesen, hätte auch nicht mehr Personal geholfen. Sondern es bedarf vor allem Experten und Expertinnen, die sowohl in Islamwissenschaften als auch Psychologie ausgebildet sind. Rückblickend ist aber auch eine offene Fehlerkultur sehr wichtig. Die fehlte bei der Berliner Polizei. Die Sicherheitsbehörden müssen lernen, wenn Fehler gemacht werden, dazu zu stehen und auch kritisch damit umzugehen. Denn das stärkt unsere Sicherheit.

Der Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser von der FDP hat in einem Interview mit Cicero dafür plädiert, dass die parlamentarische Kontrolle ausgeweitet wird, und zwar auch in laufenden Ermittlungen. Ist das auch eine Forderung der Berliner Grünen?

Mehr parlamentarische Kontrolle der Sicherheitsbehörden ist sinnvoll, die sind nämlich lange nicht so kooperativ gegenüber den Parlamenten, wie sie es sein müssten. Man kann kaum glauben, wie die Akten teilweise aussehen, die wir von den Behörden bekommen, da ist teilweise fast alles geschwärzt. Aber dass parlamentarische Kontrolle schon während der Ermittlungsverfahren stattfinden sollte, soweit würde ich nicht gehen. Da sind die Staatsanwaltschaften zuständig. Eine wichtige Lehre aus der Aufarbeitung der Ermittlungen zum Terroranschlag auf den Berliner Breitscheidplatz war, dass die für Terrorismus zuständigen Staatsanwaltschaften sich mit dem GTAZ abstimmen müssen. Wenn ein Anschlag geplant wird, ist es sinnvoll, dass die Staatsanwaltschaften noch genauer mit draufschauen und zusehen, dass sie zur Gefahrenabwehr beitragen können. Die Ermittlungen werden dann erstmal von der Polizei geführt. Ich finde, da haben Parlamente noch nichts zu suchen.

Wann soll das Parlament sich dann einschalten?

Der Verfassungsschutz muss den Parlamenten viel transparenter berichten, wen er mit welchen Mitteln beobachtet. Dafür sollten die Parlamente auch regelmäßiger Beauftragte einsetzen, die intensiver hinschauen, als Parlamentarier das können. Gerade in den höchst sensiblen Bereichen wie dem Einsatz von V-Leuten und ob diese beispielsweise keine Straftaten begehen, muss mehr kontrolliert werden. Bei der Frage, ob Gefährder durch den Verfassungsschutz abgehört werden dürfen, werden wir als Parlament ja auch bereits beteiligt. Diese Form der Kontrolle muss ausgedehnt werden.

Die Fragen stellte Uta Weisse.

Anzeige