Angela Merkel - Der Anfang der Entfremdung

Ein erst jetzt bekannt gewordener Brief des damaligen Innenministers Thomas de Maizière vom Oktober 2015 zeigt, wie dramatisch die Flüchtlingskrise von der Bundesregierung wahrgenommen wurde. Zeitgleich inszenierte sich die Kanzlerin als machtlos. Damals begann die Polarisierung unserer Gesellschaft

Wäre die Flüchtlingskrise vermeidbar gewesen? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wie jedes Theaterstück braucht die Politik ein Publikum, eine Vorderbühne und eine Hinterbühne. Das Publikum sind wir, sind die Bürger, die wählen dürfen und es oft auch tun. Auf der Vorderbühne agieren die Volksvertreter und ringen für uns miteinander; auf der Hinterbühne sind dieselben Politiker unter sich oder bekommen Besuch von Interessenvertretern. Selten öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf die Hinterbühne, und noch seltener erweisen sich die beiden Stücke, die gleichzeitig vorne und hinten gegeben werden, als vollkommen unvereinbar.

Ein solch bizarres Schauspiel ist nun zu besichtigen. In den Hauptrollen treten Angela Merkel auf und Thomas de Maizière. Das Thema ist die Migrationspolitik des Jahres 2015, der Ort Deutschland. Die Kanzlerin gibt die machtlose Optimistin, als Gewissenskünstlerin in historischer Mission. Das zu sehen, schmerzt nun doppelt.

„Es drohen neue Terroranschläge“

Das Hintergrundgeschehen hat seinen Text in einem Brief des damaligen Bundesinnenministers vom 13. Oktober 2015, aus dem die Tageszeitung Die Welt ausführlich zitiert. Thomas de Maizière wendet sich an den Kommissar für Migration bei der Europäischen Kommission, Dimitris Avramopoulus, denn er ist in höchstem Maße besorgt. Die „chaotischen und sich jeder Steuerung entziehenden illegalen Migrationsströme“ hätten vor allem Deutschland als „Zielstaat“ – mit weitreichenden Folgen: Neue „Terroranschläge und Amoklagen“ drohten, „ein weiterer ungesteuerter Zulauf stellt eine Gefährdung der Öffentlichen Ordnung und der Inneren Sicherheit dar.“

Wenige Tage zuvor, am 7. Oktober 2015, war die Kanzlerin in der ARD-Talkshow „Anne Will“ zu Gast gewesen. Sie wird dort längst gewusst haben, was de Maizière zu Papier bringen sollte: We katastrophal die Lage in Deutschland geworden war und wie dringend notwendig ein robustes Grenzmanagement. Nur hörte man davon nichts. Stattdessen verkörperte Merkel einen munteren Faktentrotz, der die eigene Wurschtigkeit zum Instrument des Weltgeists verklärte, gipfelnd in der Aussage: „Es liegt ja nicht in meiner Macht, es liegt überhaupt in der Macht keines Menschen aus Deutschland, wie viele zu uns kommen.“ Dieses heitere Desinteresse an Ordnung und Struktur brachte zeitgleich Thomas de Maizière zur Verzweiflung. Und ließ ihn am 13. Oktober zum Stift greifen.

Ungesteuerter Zulauf  

Der Innenminister konstatiert, was in Merkels Vorderbühnenstück nicht vorgesehen war. Es gab (und gibt) „illegale Migrationsströme“, es gab (und gibt) einen „ungesteuerten Zulauf“ von Menschen, die in Deutschland zum Sicherheitsrisiko werden. Bei „Anne Will“ klang das aus dem Mund der Kanzlerin so: „Millionen von anderen mögen dieses Land.“ Zahlen spielten bei der Kanzlerin keine Rolle, denn „es hat ja keinen Sinn, so zu tun, als hätten wir es in der Hand, wie viele Flüchtlinge morgen kommen“ – und „das ist auch egal.“

Thomas de Maizière beharrt auf dieser Möglichkeit, wenn er schreibt, auch „innerhalb des Schengenraums“, also nicht nur an den Außengrenzen der EU, müsse „potenziellen Gefahren (…) begegnet werden“, die sich aus dem „ungesteuerten Zulauf“ ergäben. Die Kanzlerin erklärt im Fernsehen fatalistisch, einen „Aufnahmestopp“ könne es nicht geben, man könne schlecht um eine 3000 Kilometer lange Landesgrenze „einen Zaun bauen“. Sie habe sich entschieden, da „keine falschen Versprechungen zu machen.“

Deutschland als Opfer der Umstände 

Die Grenzen, heißt das, seien und blieben offen, weil die Bundesrepublik Deutschland offenbar zu jenen wenigen Staaten gehört, die ihr Territorium nicht zu schützen vermögen. Merkel inszeniert sich und ihr Land als Opfer jener Umstände, die der Bundesinnenminister ändern möchte: Die Bundesrepublik habe, so de Maizière, „vorübergehende Kontrollen an ihren Grenzen eingeführt“, um Zuständen abzuhelfen, die es laut Merkel gar nicht gibt. Für sie besteht der „ungesteuerte Zulauf“ nur in „Menschen, die sich auf den Weg machen.“

Kann es aber ohne Problembewusstsein je eine Lösungskompetenz geben? Die Antwort auf diese Frage ist zugleich die Antwort auf die Gereiztheit unserer Gesellschaft bis heute. Merkel verkaufte „Zuversicht“ und „Optimismus“ und „innere Gewissheit“ als erste Bürgerpflicht zu einer Zeit, da die Fakten Merkels „Weg“ bereits hatten illusionär werden lassen. Noch immer, vier Jahre danach, ist vom Allheilmittel „Flüchtlingsursachen (sic!) bekämpfen“ und „fairere Verteilung in Europa“ kaum etwas zu spüren.

Zwischen Sprachlosigkeit und Geschwätzigkeit 

Merkel sprach bei „Anne Will“ trickreich, „dass wir eine Situation haben, keine Politik, sondern eine Situation“, mithin also Flüchtlingsströme nicht zu beeinflussen seien. Die Geschichte hat sie gewissermaßen verhängt. Die Kanzlerin behauptete, „wir sind alle in eine bestimmte Situation gestellt“, sie habe sie nicht herbeigeführt, „aber jetzt ist die Situation da.“ Auch damit wird sie Thomas de Maizière – von dem freilich kein offener Protest überliefert ist – zum Kopfschütteln veranlasst haben. Er wollte politisch handeln, nicht Situationen betrachten. Heute ist er Ruheständler.

So zeigen Vordergrund- und Hintergrundgeschehen von Oktober 2015 zusammen, wie es ein Land zwischen Sprachlosigkeit und Geschwätzigkeit zerreißt. Bitter ist das Schauspiel und nicht abgeschlossen. In einem aber hat die Kanzlerin des Jahres 2015 Recht behalten. Noch immer sind Flüchtlinge schlicht „die, die hier sind“. Und noch immer leben wir „in einer ganz besonderen Situation“.

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