Angela Merkel - Macht der Ohnmacht

Kolumne: Grauzone. Die erneute Wahl von Angela Merkel zur mächtigsten Frau der Welt wirkt zunächst seltsam. Denn nie wirkte die deutsche Bundeskanzlerin schwächer als derzeit. Doch ihre Stärke liegt darin, dass Macht heutzutage anders definiert wird

Angela Merkel: Die Voraussetzungen von Macht haben sich verändert / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Keine Macht ohne Ohnmacht. Denn Macht ist niemals grenzenlos. Deshalb spürt keiner die Grenzen seines Einflusses schmerzlicher als der Mächtige. Und nur demjenigen, der einmal Macht hatte, kann sie zwischen den Fingern zerrinnen.

Keiner bekommt diese banale Dialektik der Macht zurzeit brutaler aufgezeigt als Angela Merkel. Eben noch wurde sie von dem US-Magazin „Forbes“ zur mächtigsten Frau der Welt gekürt. Und zeitgleich schaut sie in einem Abgrund an Ohnmacht, ausgeliefert einer Konstellation aus politischen Gegnern, die um ihre politische Zukunft kämpfen. Macht sieht anders aus, zumindest auf den ersten Blick.

Ohne Zukunftsperspektiven keine Macht

Denn Macht ist ein Versprechen auf die Zukunft. Wirklich mächtig ist nur der, von dem alle wissen, dass er auch morgen noch mächtig sein wird. Macht ohne Perspektive fehlt ihr wichtigster Hebel: die Aussicht, Zukunft zu gestalten, Posten zu vergeben, Karrieren zu fördern.

Hinzu kommt: Macht lebt von dem Nimbus der Unersetzbarkeit. Doch Merkel, die Unersetzbare, ist ersetzbar geworden – zumindest im Prinzip. Zu umstritten ist die Kanzlerin inzwischen in ihrer eigenen Partei. Zu viele warten darauf, dass die Unersetzbare ersetzt wird. Und was die Sache noch schlimmer macht: Alle reden darüber.

Es mangelt an Alternativen

Merkels Trost: Niemand hat eine Vorstellung davon, wie es nach ihr weitergehen könnte. Und dass wird noch geraume Zeit so bleiben. Genau diese Hilflosigkeit ist derzeit Merkels einzige Überlebensversicherung.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Wahl Angela Merkels zur mächtigsten Frau der Welt deplatziert und fast ein wenig zynisch. Zum siebten Mal in Folge vergab das amerikanische Wirtschaftsmagazin diesen Titel an die deutsche Kanzlerin. Doch in diesem Jahr hat er den Beigeschmack eines Nekrologs – könnte man meinen.

Macht wird heute anders organisiert

Aber vielleicht ist das falsch gedacht. Denn unser Bild von Macht und Mächtigkeit ist nach wie vor geprägt von autokratischen Herrschern vergangener Epochen und selbstherrlichen Wirtschaftspatriarchen. Macht, so bilden wir uns nach wie vor ein, hat mit steilen Hierarchien zu tun, mit Befehl und Gehorsam, mit der Fähigkeit, den eigenen Willen durchzusetzen, komme was da wolle.

Doch dieses Bild von Macht ist einfältig. So ganz gestimmt hat es ohnehin nie. Und in unserer spätindustriellen Moderne ist es endgültig obsolet geworden. Denn die Welt hat sich verändert. Moderne Organisationen, seien es nun Staaten oder Konzerne, sind zu vielstufig aufgebaut, ihre Untergliederungen zu autonom und hierarchisch flach, um zentrale Macht im klassischen Sinne ausüben zu können. Hinzu kommt, dass in spätmodernen Gesellschaften der Staat nur einer unter vielen Akteuren ist. Noch dramatischer ist das Bild unter internationaler Perspektive. Selbst der mächtigste Mann der mächtigsten Nation der Welt kommt daher sehr schnell an seine Grenzen – Donald Trump hat das allerdings bis heute nicht begriffen.

Die Kanzlerin hat das früh erkannt

Anders Angela Merkel. Die Kanzlerin weiß, dass wir in einem postpotenzischen Zeitalter leben. Macht haben nicht die, die autoritär und von oben herab kommandieren. Diese Zeiten sind lange vorbei. Einfluss hingegen hat derjenige, der die Interessen der anderen Machtlosen am besten kommuniziert und moderiert. Und das war in den letzten Jahren Angela Merkel.

Wie kaum eine andere politisch Handelnde, hat Angela Merkel verstanden, dass in multipolaren Gesellschaften Macht anders organisiert werden muss als zu Kaisers Zeiten. Macht hat heutzutage derjenige, der nicht nur am erfolgreichsten asymmetrisch demobilisiert, sondern auch derjenige, der am erfolgreichsten asymmetrisch depotenziert, also entmachtet.

Das ist Angela Merkel gelungen. Sie mag kaum Macht haben, andere haben noch weniger. Und darauf kommt es an. Dass sie sich damit selbst in einer Phase scheinbarer Machterosion immer alternativloser macht, ist dabei kein unerheblicher Nebeneffekt.

Auf den ersten Blick, scheint Angela Merkel machtloser denn je und die Wahl von „Forbes“ anachronistisch. Doch gerade in der vermeintlichen Ohnmacht liegt die Macht der Kanzlerin. So gesehen fühlt sich Angela Merkel wahrscheinlich gerade pudelwohl.

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