Angela Merkel - Die Gescheiterte

Angela Merkel kann sich auch bei ihrem kleinen EU-Gipfel zur Flüchtlingsfrage nicht mehr durchsetzen. Eine Ära neigt sich dem Ende zu. Das Machtsystem der Bundeskanzlerin steht vor dem Zusammenbruch. Ein persönlicher Nachruf

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Angela Merkels Kanzlerschaft nähert sich dem Ende / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Mein erstes persönliches Treffen mit Angela Merkel liegt 13 Jahre zurück. Es war der Morgen des 18. Juli 2005, der Tag nach ihrem Geburtstag, wir waren zum Interview verabredet. Merkel machte einen verkaterten Eindruck, sie hatte offenbar gefeiert am Abend vorher. Vor allem aber verströmte die ganze Situation eine ungeheure Fahrigkeit und Nervosität. Ihre bis heute engste Begleiterin Eva Christiansen war kurz angebunden und aufgeregt.

An Merkel fielen vor allem die Hände auf, die kurzen Finger und die verkümmerten Nägel, sowie ihr enormes Misstrauen. Besonders gereizt reagiert sie damals auf Fragen nach Ihrer Haltung zum Irakkrieg. Wieder und wieder verdrehte sie ihren Kopf, um zu versuchen, die nächste Frage von unserem Handzettel abzulesen. Der Kollege der Süddeutschen Zeitung und ich verließen das Büro der Unionsfraktionschefin im Deutschen Bundestag einigermaßen verstört. Diese fahrige und unsouveräne Frau wollte Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland werden? Schwer vorstellbar. 13 Jahre später ist es für viele Deutsche genauso schwer vorstellbar, dass sie nicht mehr Kanzlerin dieses Landes und letzte Retterin einer aus den Fugen geratenen Welt sein könnte. So kann man sich irren. Damals wie heute.

Die Macht der Wirklichkeit

Die Spätphase ihrer Macht hat begonnen. Der Kampf mit ihrem Innenminister Horst Seehofer um die Flüchtlingspolitik, der Streit mit der CSU wird sie am Ende das Amt kosten. Drei Jahre hat es gedauert, bis sie die Folgen ihres schwersten und in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Fehlers eingeholt haben. Lange hat sie vermocht, das herauszuzögern. Aber nun erweist sich: Die Macht einer Kanzlerin ist groß. Die Macht der Wirklichkeit ist größer.

Zeit für eine Bilanz. Und eine Rückschau. Mit einem kümmerlichen Ergebnis und nur einem einzigen Prozentpunkt Vorsprung rettete sich Angela Merkel nach einem schwachen Wahlkampf am 18. September 2005 über die Ziellinie und nach einigen weiteren Mühen ins Kanzleramt. Am Ende hatte ihr sozialdemokratischer Vorgänger Gerhard Schröder mit seinem unseligen Auftritt am Wahlabend in der sogenannten Elefantenrunde von ARD und ZDF ihr die Tür zur Macht geöffnet. Wegen Schröders Rumpelstilziade schlossen CDU und CSU die Reihen hinter ihrer Kanzlerkandidatin. Ihrer Gegner in der CDU, die sie noch in der Wahlnacht wegputschen wollten, waren plötzlich isoliert. Merkel nutzte den Moment, ließ sich am nächsten Morgen unmittelbar und außer der Reihe als Fraktionschefin bestätigen. Am 19. September 2005 begann sie, ihre Macht zu arrondieren.

Manipulative Beeinflussung der Meinungsmacher

Das Land und der politische Betrieb in Berlin reagierten wohlwollend auf die erste Frau im Kanzleramt. Früh schon manifestierte sich auf offener Bühne, über welche Netzwerke die ehrgeizige Schülerin Helmut Kohls verfügte. Als sie am 22. November 2005 im Bundestag entgegen der Prophezeiung des polternden Gerhard Schröder vom Wahlabend zur Chefin einer Großen Koalition gewählt wurde, saß auf der Zuschauertribüne des Reichstages ein giggelndes Grüppchen Frauen, darunter profilierte Journalistinnen verschiedener Printmedien. Eine von ihnen hatte Buchstabenplätzchen gebacken, die sie in einer Tupperschale herumreichte. Im Zentrum des Grüppchens saß die Verlegerin der Bild-Zeitung, Friede Springer. Überhaupt hatte Angela Merkel ein einnehmendes Wesen, das viele Hauptstadtkorrespondenten –auch mich – in ihren Bann schlug. Uneitel präsentierte sie sich, unpompös war ihr Auftritt und von ruhiger Selbstverständlichkeit. Eine Wohltat war dies nach dem großspurigen Gebaren einer Regierung Schröder/Fischer.

Sie hat fast alle für sich eingenommen, im Rückblick muss man sagen: eingelullt. Im Wahlkampf 2009 folgte ich ihr als Spiegel-Reporter für eine Titelgeschichte des Magazins mit all dessen Möglichkeiten auf Schritt und Tritt. Bei einem CDU-Landesparteitag in Essen war sie umringt von einem Pulk von Kameraleuten, sah mich noch etwas abseitsstehend die Szene beobachten, löste sich aus dem Stangenwald der Mikrofone, kam auf mich zu und sagte: „Sie sind ja auch schon wieder da, was machen Sie denn an einem Samstag hier? Was sagt denn Ihre Frau dazu, dass Sie jedes Wochenende unterwegs sind?“ Das wirkte herzlich, hatte etwas Mütterliches, es ist schwer, sich gegen dieses Gift der Vereinnahmung zu immunisieren. Es wirkt. Ebenso wie ihr Mutterwitz in kleinen Runden.

Die manipulative Beeinflussung der Meinungsmacher in Berlin ist bislang ein unterbelichtetes Thema der Kanzlerschaft Merkels. Nach einem Abend im Kanzleramt mit den Büroleitern namhafter Medien rief schon mal Regierungssprecher Ulrich Wilhelm an, um zu vermelden, die Kanzlerin sei sehr angetan von einem gewesen. Ein anderes Mal meldete sich Vize-Regierungssprecher Thomas Steg – eigentlich ein SPD-Mann, aber Zeit seines Amtes schwer im Banne Merkels – nur Minuten, nachdem ein kritischer Kommentar auf Spiegel Online veröffentlicht worden war. Die Kanzlerin lasse schön grüßen, sie schätze ja sonst immer, was man schreibe, aber in diesem Fall liege man doch schwer neben der Sache.

Merkel lebte von den Errungenschaften ihrer Vorgänger

Auslandreisen mit Merkel im Pressetross werden manchmal zu Schulausflügen mit Lehrerin. Einmal ging ihre Fürsorge sogar so weit, dass sie den abflugbereiten Regierungsflieger warten ließ, bis ein Kollege der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der den Anschluss an die Reisegruppe verloren hatte, wieder eingesammelt war. Rührende Geschichten in allen Blättern waren das Ergebnis.

Die Geschichte damals im Spiegel im Wahlkampf 2009 handelte von einer „Meisterin des Ungefähren“. Das Ungefähre der Angela Merkel hat sich im weiteren Verlauf der Jahre aber als etwas anderes erwiesen. Es war das Nichts. Sie hat in den 13 Jahren nur im allergrößten Notfall gehandelt. Dann übrigens meistens falsch. Ansonsten aber immer nur moderiert, abgewartet, gezaudert.

Kohls Vermächtnis ist die Wiedervereinigung, Schröders die Agenda 2010 – Merkel wird als Abwrackerin in die Geschichte eingehen, urteilt Christoph Schwennicke / Heiko Sakurai

Bis 2015 moderierte und zauderte Merkel zweieinhalb Amtszeiten lang die meiste Zeit einfach vor sich hin, sie lebte politisch von den Errungenschaften ihres Vorgängers und schuf nichts. Was würde einmal von ihr bleiben? Im Herbst 2008 traf der Cicero-Karikaturist Heiko Sakurai die Sache ziemlich gut, als er die letzten drei Kanzler nebeneinander vor ihre Vermächtnisse stellte. Helmut Kohl fand sich vor einem wiedervereinigten Deutschland wieder. Hinter einem stolzen Gerhard Schröder prangte das Wort Reform. Und hinter einer bedröppelt dreinblickenden Merkel thronte ein zerquetschtes Auto. Die Regierung hatte gerade als Notmaßnahme gegen die Finanzkrise eine Abwrackprämie eingeführt. Dieses Bild war zu diesem Zeitpunkt stimmig, lässt man einmal beiseite, dass nicht einmal diese Idee von ihr war. Sie stammte von der SPD, genauer: von Olaf Scholz – damals Arbeitsminister, heute Finanzminister und Vizekanzler.

Majestätsbeleidung nicht geduldet

Drei massive Fehler beging Merkel in ihrer Kanzlerschaft, in jeder Legislaturperiode einen. Jeder dieser Fehler hätte sie die Macht kosten können, eigentlich kosten müssen. Aber diese Fehler fielen in ihrer Monstrosität zunächst nicht auf, weil sich nach und nach eine Ehrfurcht und Merkelgläubigkeit über alle Parteigrenzen hinweg über das Land gelegt hatte. Wer sich ihr gegenüber kritisch verhielt, lief Gefahr, gegen den vor Kurzem abgeschaffte Paragraf 103 Strafgesetzbuch zu verstoßen, der die Majestätsbeleidigung ahndete.

Berliner Ensemble, großes Haus, am 27. August 2014: Angela Merkel zu Gast bei einem Cicero-Foyergespräch. Volles Haus, Merkel aufgeräumt und in Plauderlaune. Nur einmal wird sie schmallippig. Wieder, als es um ihre Haltung zum Irakkrieg geht. Sie behauptet, sich nie für eine Beteiligung daran ausgesprochen zu haben. Nachfrage mit einem eindeutigen Zitat aus jener Zeit. Merkel windet sich heraus, aber das ist nicht das Interessante. Das Interessante ist die Reaktion des Saales auf die Nachfrage. Ein ungehaltenes Raunen geht durch die Reihen. Missfallensäußerungen, die eines signalisieren: Kritische Nachfragen an die Kanzlerin vonseiten eines Journalisten werden nicht goutiert. Das gehört sich nicht.

Auf die Frage, wie sie es eigentlich schaffe, immer länger zuzuwarten als Freund und Feind, sagte Merkel an jenem Sonntagmorgen den denkwürdigen Satz, sie überlege sich die Dinge immer gut und lange. Und: „Ich kann erst entscheiden, wenn ich zu Ende gedacht habe.“ Eine gelungene Pointe zur Freude des Publikums. Die Frage aber ist: Was, wenn die Situation keine Zeit lässt für ihr langes Nachdenken? Was ist, wenn innerhalb kürzester Zeit entschieden werden muss? Mehr aus dem Bauch heraus als aus dem Kopf?

Die Folgen der undurchdachten Energiewende

Am Nachmittag des 11. März 2011 erfasst nach einem Seebeben ein Tsunami die Küste Japans, die Kraftwerksblöcke des Atomkraftwerks von Fukushima erleben die Kernschmelze, einen Super-GAU. Viereinhalb Monate zuvor hatte Angela Merkel den von der Vorgängerregierung mühsam ausgehandelten und fein ziselierte Atomausstieg revidiert und auf Druck der Atomlobby die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert. Nun nahm sie Fukushima zum Anlass für die Kehrtwende ihrer Kehrtwende. „Das war’s“ habe die Kanzlerin ihr in einem nächtlichen Krisentelefonat gesagt, erzählt am anderen Morgen eine Mitarbeiterin aus dem engsten Merkel-Zirkel.

Diese beiden Worte waren der GAU für einen geordneten Ausstieg Deutschlands aus einer als gefährlich erachteten Energieform, die nie den hinreichenden Rückhalt in der Bevölkerung gefunden hatte. Die Trassen für den Windstrom aus dem Norden sind nicht da, Windstrom wird aber subventioniert und muss abgenommen werden, auch wenn er gar nicht zum Verbraucher kommt. Seit Jahren geht das nun so. Auf etwa 25 Milliarden Euro pro Jahr werden die Kosten dieses Schildbürgerstreichs geschätzt. Alleine 1,4 Milliarden Euro, so hat die Bundesnetzagentur in diesen Tagen eingeräumt, kostete es im vergangenen Jahr, die Stromausfälle der von Merkel verschlimmbesserten Energiewende auszugleichen.

Merkel hatte in der Nacht von Fukushima nicht genug Zeit, die Dinge zu Ende zu denken. An den Folgen laboriert Deutschland bis heute. Auch bei der Eurokrise, die Europa seit 2010 in Atem hält, war nie Zeit, die Merkel‘sche Politik vom Ende her zu denken, immer poppten neue Brandherde auf und immer wurden neue Sofortprogramme beschlossen und neue Milliarden bereitgestellt; mit jedem Rettungspaket schossen die Kosten in die Höhe. Aber eine nachhaltige Lösung, die den Widerspruch zwischen dem Währungsverbund der 19 Euro-Staaten und einer national verantworteten Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Eurozone auflöst, gibt es bis heute nicht.

Fürsprecher wenden sich allmählich ab

Es folgte Merkels dritte Amtszeit und in dieser ihre folgenreichste Fehlentscheidung: die Grenzöffnung am 4. September 2015. Ihr „Wir schaffen das“, ihre Selfies mit jungen, fröhlichen Migrantenmännern, die es nach Deutschland geschafft hatten, ihr Reden davon, dass es nicht in Deutschlands Macht liege, wie viele noch kämen, erzeugten einen Sog, in dessen Folge seitdem mehr als 1,5 Millionen Einwanderer nach Deutschland gekommen sind, viele von ihnen unkontrolliert und ohne Papiere. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist unter dem Ansturm kollabiert. Schon vor der Bundestagswahl 2017, was aber noch unter der Decke gehalten werden konnte. Weshalb sich Merkel mit dem schlechtesten Wahlergebnis der Union seit 1949 und nach 172 Tagen Suche nach Koalitionspartnern ein viertes Mal ins Kanzleramt retten konnte.

Doch nun stürzt das Merkel-Gebäude ein. Den ersten Stein aus der Mauer zog FDP-Chef Christian Lindner, indem er sich dem Eintritt in ein Jamaika-Bündnis verweigerte. Zum Einsturz aber bringt es nun die CSU mit ihrem Chef Horst Seehofer, der der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin noch vor der Landtagswahl in Bayern im Oktober ein jähes Ende zu bereiten versucht. Außerdem haben die beiden Zeitungen jener Dame den Daumen gesenkt, die seinerzeit bei Merkels Wahl zur Bundeskanzlerin Plätzchen auf der Tribüne genascht hat. Im Herbst 2015 hatte sich der Button der Bild-Zeitung mit dem Spruch „Wir helfen – Refugees welcome“ massenhaft verbreitet, sogar auf die Regierungsbank hatte es die Boulevard-Kampagne geschafft: Stolz wurde dort der Button von Vizekanzler Sigmar Gabriel getragen. Doch jetzt, nach Köln, Kandel, Berlin, Freiburg und Wiesbaden schießen Bild-Zeitung und Welt aus allen Rohren gegen die Kanzlerin. Die Macht der Wirklichkeit erfasst den Boulevard, der nicht mehr gegen seine Leser anschreiben kann.

So steht Angela Merkel jetzt einsam da. Die befreundete Verlegerin Friede Springer hat ihre schützende Hand entzogen, die bayerische Schwesterpartei CSU hat sich völlig von der Kanzlerin entfremdet und erwägt den endgültigen Bruch; die CDU-Abgeordneten im Bundestag stehen kurz vor der offenen Revolte. In Europa hat sie sich völlig isoliert. So kann Angela Merkel im 13. Jahr ihrer Kanzlerschaft auf einen imposanten Trümmerhaufen blicken. Die eigene Partei gespalten, die AfD im Aufwind, das politische Gleichgewicht in Deutschland völlig zerstört und Europa massiv geschwächt. Das ist die Bilanz einer Bundeskanzlerin, die als Abwrackerin in die Geschichte eingehen wird.

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie ab 28.7. 2018 am Kiosk oder in unserem Onlineshop ab 27.7. 2018 erhalten.













 

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