Angela Merkel - Die Mikado-Kanzlerin

Kisslers Konter: Für Angela Merkel zählt der islamistische Terror zum Alltag in deutschen Städten. Nicht nur wegen dieser Aussage wäre eine erneute Kanzlerschaft Merkels schlecht für unser Land. Fünf Lehren aus ihren jüngsten Auftritten

Angela Merkel sucht im Reagieren ihr Heil, um nicht für falsche Aktionen haftbar gemacht zu werden / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Werte werden beschworen, wenn man sie vermisst. In amoralischen Zeiten haben Wertedebatten Hochkonjunktur. Sie geben das Entbehrte als vorhanden aus, um nicht für den Mangel verantwortlich gemacht zu werden. Nicht anders verhält es sich mit politischen Großbegriffen wie Frieden, Freiheit, Sicherheit. Sie müssen als verschollen oder gefährdet gelten, sobald sie in der Arena des Redens Dauergäste sind. Insofern ist es ein mehrdeutiges Signal, wenn Angela Merkels jüngste Einlassungen um Werte, um Frieden, Freiheit, Sicherheit kreisen. So heikel steht es um unser Land.

Vor dem Terror sind wir alle gleich

Zunächst indes werfen zwei sonderbare Formulierungen ein bezeichnendes Licht auf die Bekenntnisse der Bundeskanzlerin, auf jenes kürzere in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am 20. November und jenes längere in der Generaldebatte des Deutschen Bundestags am 23. November. Bei „Anne Will“ teilte Merkel die deutsche Bevölkerung in „die, die vor Kurzem zu uns gekommen sind,“ und die, „die schon länger bei uns leben“. Im Bundestag ließ sie sich mit dem abgründigen Satz vernehmen, der Terror sei „Teil des Alltags unserer Städte“.

Beides gehört zusammen. Vor dem islamistischen Terror sind wir alle gleich, die einen, die früher Deutsche hießen, und die anderen, die man früher Ausländer nannte. Der „internationale Terrorismus“ (Merkel) ist der große Gleichmacher, er sorgt für eine Äquidistanz des Schreckens und erschafft Deutschland neu als Schicksalsgemeinschaft der Bedrohten, jenseits von Kultur, Geschichte, Verfassung. Wir erleben die Geburtsstunde eines neuen Deutschlands, in dem die Gefahr an Leib und Leben „Alltag“ wurde. Die kalte Denkfigur verkennt: Unter denen, „die vor Kurzem zu uns gekommen sind“, befinden sich neben Opfern auch Täter.

Die Frage, ob diesen nicht leichtfertig der Weg zu uns eröffnet wurde, dürfte über Merkels Wahlergebnis entscheiden, weshalb sie von Merkel nicht gestellt worden ist. Ganz abgesehen von dem philosophischen Rätsel, worin denn die Schnittmenge bestehen soll zwischen Altansässigen und Neumigrierten, wenn beide sich „bei uns“ treffen, beide also einem unbekannten „Wir“ gegenüberstehen. Die Schicksalsgemeinschaft der Bedrohten muss eine Gruppe anonymer Staatenloser sein.

Integrationsprobleme als Wirtschaftsfragen

Klarheit schenkte die CDU-Vorsitzende in ihren beiden Selbsterklärungen auch. Erstens präsentierte sie „soziale Marktwirtschaft als gesellschaftliches Modell“ (Bundestag), als Hauptwert, noch vor dem „freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat“, „CDU-Politik war immer soziale Marktwirtschaft, Leitplanken zu finden“ („Anne Will“). Das geht weit über die Organisation des rechten Wirtschaftens hinaus. Merkel will auch Integrations- und Identitätsprobleme auf ökonomische Weise lösen, als Wirtschaftsfragen. Dazu passt die in beiden Monologen überrepräsentierte „Digitalisierung als ein zentrales Thema“ (Bundestag). Merkel will in ihre vierte Amtszeit als „eKanzlerin“ starten mit der Lizenz zur Marktwirtschaft. Ob dadurch der Alltag sicherer wird?

Zweitens zeigte sich die Kanzlerin einmal mehr als Politikerin, die reagiert, nicht agiert. Ihr ganzer Politikstil, ja ihr Menschenbild beruht auf der Überzeugung, dass es wichtiger ist, das Falsche zu unterlassen als es sich mit dem Richtigen zu verderben. So gewinnt man Mikado-Spiele. Im ZDF-Sommerinterview vom 10. Juli erklärte sie bereits, Politiker müssten „reagieren auf die Dinge, die passieren“. Sie befasse sich „mit den Realitäten“. Nun, bei „Anne Will“, hieß es, „meine Politik passe ich der Wirklichkeit an.“ Womit man sich befasst, das fand man vor. Woran man sich anpasst, dem ordnet man sich unter. So entsteht ein Schutzzaun um das Gebiet des Politischen. Was Merkel gelingt, war dann kluge Reaktion auf das Vorgegebene, ein Geschmeidigkeitsgewinn auf steiniger Strecke. Was misslingt, ist Triumph der Mächte, die wider sie waren. So wird die eigene Rolle zugleich aufgeblasen und verzwergt. Im Scheitern ist Merkel Objekt der Verhältnisse, im Obsiegen wird sie Merkel, überlebensgroß.

Ihre Politik kennt nur Getriebene

Drittens sang die Kanzlerin abermals das hohe Lied der Offenheit. Ihm sollen, als Prinzip und aus Prinzip, allheilende Kräfte zukommen. „Wir müssen offen sein, offen, hinzuhören, aber auch offen in unseren Antworten“ („Anne Will“); „Offenheit wird uns mehr Sicherheit bringen als Abschottung“ (Bundestag). Woraus sich ein geometrisches, aber auch ein ästhetisches Problem ergibt. Das offene ist das auslaufende Gefäß, die offene ist die verschwimmende Kontur. Offene Antworten sind neue Fragen, und offene Gebiete, offene Staaten wären rechtsfreie Räume. Die Grenze macht das Eigene, der Abschluss den Inhalt. Hier zeigt sich der Preis einer bloß reagierenden Mikado-Politik: Sie kennt keine Akteure, nur Getriebene.

Füllwörter ohne Füllung

Darum ist – viertens – das Bekenntnis zu Ordnung und Orientierung unglaubwürdig. Deutschland sei, erklärte die Kanzlerin in der Pressekonferenz mit Barack Obama am 17. November, „in der Lage, seinen Beitrag zu leisten, um die Ordnung, die wir lieben, (…) weltweit aufrechtzuerhalten“.   Im Bundestag warb sie dafür, „unsere Werte, die wir für richtig und wichtig halten, (…) gemeinsam mit unseren Partnern (…) in die Welt zu tragen“, und verlangte „die Akzeptanz unserer gesellschaftlichen Ordnung“ von allen Asylbewerbern. Bei „Anne Will“ wollte sie durch eine „Politik von Maß und Mitte Halt und Orientierung geben“. Es blieben Füllwörter ohne Füllung, Rauten ohne Zentrum. Man mag sich darüber streiten, ob die neue Rolle als Weltstreifenpolizist alten deutschen Größenwahn kaschiert; doch dass Orientierung und Ordnung ein stabiles Grenzenbewusstsein verlangen, ist unstrittig. Gerade davon will Merkel nichts wissen.

Wenn sich die Kanzlerin im Bundestag also – fünftens – auf eine deutsche „Erfahrungsgeschichte“ beruft, endet diese nicht bei der sozialen Marktwirtschaft. Es ist auch eine spezifische Erfahrung mit den eingangs knapp aufgerufenen Werten „Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Achtung der Menschenwürde für jeden und jede, Frieden“. Merkel gab die Rolle der Erinnerungskünstlerin, die einem vergesslichen Volk historische Lektionen erteilen muss. Der pädagogisches Gestus kehrte wieder in einem Kathederdeutsch, wonach „uns“ – welches „uns“ aber? – die Bereitschaft ausmache, mit dem und den Anderen, Unbekannten, Fremden zusammenzuleben. Der Rekurs auf „weniger kontrollierte“ Online-Medien an dieser Stelle lässt die Umrisse eines regierungsgeprüften Journalismus mit staatsmoralischem Mehrwert erahnen.

Die Belehrerin des Volkes

Wie also beantwortete Merkel ihre bei „Anne Will“ selbstgestellte Frage, „kann ich dem Land noch etwas Neues geben?“ Mit einem Nein beantwortete sie sie – zumindest wenn man das Gehörte in Relation setzt zum Bekannten, und bekannt klang hier das Meiste. Noch immer gilt der Satz aus dem Wahlkampfendspurt 2013, frontal in die Kamera gesprochen: „Sie kennen mich.“ Ja, wir kennen die machterfahrene Frau, die im Reagieren ihr Heil sucht, um nicht für falsche Aktionen haftbar gemacht zu werden, kennen die Prophetin der Offenheit, die Belehrerin eines Volkes, die Marktwirtschaftlerin, die Identität in der Schicksalsgemeinschaft der Bedrohten verspricht und im Internationalismus der Wohlmeinenden. Kennt Merkel aber die Höchstinstanz ihrer Politik, die Wirklichkeit?

Einen kleinen Gruß schickte diese Wirklichkeit dann noch, mitten hinein in die Bundestagsrede. Zeitgleich stand zu lesen, dass ein Paketdienst sich weigere, in bestimmten Berliner „Problem-Kiezen“ Express-Sendungen auszuliefern. Die Bedrohungen des Personals hätten überhandgenommen. Ob dieser Teil des Alltags unserer Städte wohl auf jene zurückzuführen ist, die schon länger bei uns leben, oder auf jene, die vor Kurzem zu uns gekommen sind? Wir werden es nie erfahren.

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