Reaktion auf Merkel-Interview - „Die Kanzlerin trägt selbst die Verantwortung“

Der Fernsehauftritt Angela Merkels am Montagabend hat teilweise harsche Kritik nach sich gezogen. Im Interview erklärt der FDP-Politiker und Infektiologe Andrew Ullmann, welche Fehler sich die Kanzlerin zurechnen lassen muss, warum es beim Impfen nicht rundläuft – und wie ein sinnvoller Weg aus dem Lockdown aussehen sollte.

Angela Merkel am Montagabend im Gespräch mit Tina Hassel und Rainald Becker / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, internistische Onkologie und Infektiologie. Seit 2017 vertritt er die FDP im Bundestag.

Herr Ullmann, Bundeskanzlerin Merkel hat gestern im ARD-Interview zum Thema Impfstoff-Beschaffung gesagt, es sei „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“. Teilen Sie diese Einschätzung?

Nein. Wir merken ja tagtäglich, dass es ruckelt. Für mich stellt sich die Frage, was die Kanzlerin mit „im Großen und Ganzen“ meint. Meint sie damit die Politik der EU und der Bundesregierung und schiebt die Verantwortung auf die unteren Ebenen, in die Länder und die Kommunen? Das wäre nicht richtig und sachlich falsch. Wenn Kritik kommt, dann sollte man sie auch ernst nehmen und nicht mit einer Floskel abtun oder sie auf subtile Weise anderen zuschieben. Ich kann die Aussage der Bundeskanzlerin soweit nachvollziehen, dass sie keinen Schuldigen direkt benennen möchte oder kann, denn alle Beteiligten bei der Beschaffung stehen ihr durchaus nahe. Die Kanzlerin hat Ursula von der Leyen und Jens Spahn in die Verantwortung gehoben und dafür trägt sie selbst eben die Verantwortung. Als Alternative zur Fehleraufarbeitung bleibt daher nur die Aussage, dass alles perfekt sei. Die richtige Vorgehensweise wäre, mit einer guten Fehlerkultur zu arbeiten, die Fehlentscheidungen offen benennt und zukünftig ähnliche Fehler vermeidet. Denn Transparenz schafft Akzeptanz und nicht umgekehrt.

Was genau werfen Sie der Bundesregierung vor? Die Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen sind ja tatsächlich begrenzt.

Meine Kritik gilt vor allem dem Impfmanagement. Auch wenn wir aktuell zu wenig Impfdosen haben, schaffen wir es nicht einmal, diese zu verimpfen. Die Bundesländer trauen den Zusagen der Bundesregierung zu den Lieferterminen nicht mehr. Das ist ein ganz großes Problem. Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass von Bundesländern bewusst Impfdosen zurückgehalten werden, um die notwendige Zweitimpfung auch bei Lieferproblemen durchführen zu können. Dadurch wird unser Impfprozess gebremst, und die zur Verfügung stehenden Dosen werden nicht effizient eingesetzt. Wenn die Bundesregierung in einer solchen Situation das Vertrauen nicht nur in Teilen der Bevölkerung aufs Spiel setzt, sondern das Vertrauen der einzelnen Landesregierungen nicht mal vorhanden ist, dann liegt einiges im Argen.

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Mit Blick auf Großbritannien sagte die Kanzlerin, dort habe das Vakzin von AstraZeneca deshalb schneller verimpft werden können, weil es extrem schnell zugelassen worden sei. Die EU hingegen habe es vorgezogen, gründlicher zu prüfen. Was sollte in einer Lage wie dieser Priorität haben: Gründlichkeit oder Schnelligkeit?

Ich halte das ordentliche europäische Zulassungsverfahren für richtig und wichtig. Wir erreichen dadurch Vertrauen bei der Bevölkerung. Das wird uns in der langen Frist noch viel bringen. Dennoch darf das ordentliche Zulassungsverfahren weder auf Kosten der Geschwindigkeit gehen noch als Ausrede dienen. Die Lieferprobleme mit AstraZeneca traten ja hauptsächlich nach der Zulassung auf. Der Vertrag bestand hingegen schon deutlich länger. Was mich bei dem ganzen Prozess zutiefst verstört hat, war, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA den Impfstoff für alle Erwachsenen zulässt, aber die Ständige Impfkommission in Deutschland eine andere Empfehlung ausspricht. Das sollte nicht passieren. Verwunderlich für mich war auch, dass die EMA erwartet, dass der AstraZeneca-Impfstoff bei älteren Menschen genauso funktioniert wie bei jüngeren, wenngleich die Datenlage nicht ausreichend ist. Möglicherweise hat die EMA andere Daten, die bislang nicht veröffentlicht wurden, deshalb sollten zukünftig im Rahmen der Transparenz alle Studiendaten, die der EMA zur Verfügung stehen, auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Denn Transparenz schafft Vertrauen.

Andrew Ullmann / privat

Ein anderer Punkt, den Merkel im gestrigen Interview vorbrachte, bezog sich auf die Verhandlungen mit den Impfstoff-Herstellern. Diese hätten sich auch deswegen in die Länge gezogen, weil man es abgelehnt habe, die Unternehmen von sämtlichen Risiken mit Blick auf mögliche Nebenwirkungen ihrer Vakzine freizustellen. Ist das ein plausibles Argument?

Mir fehlt leider der Einblick in die Verträge, um das seriös beurteilen zu können. Aber ich halte es für wahrscheinlich, dass das nicht der entscheidende Punkt war. Mir stellt es sich so dar, als wären bei der EU regelrechte Krämerseelen am Werk gewesen, die blind vor Risiken die Chancen nicht gesehen haben.

Sie sind selbst Professor für Infektiologie. Wie bewerten Sie angesichts der aktuellen Impfstoff-Engpässe die Lage? Muss mit einem weiter andauernden Lockdown gerechnet werden?

Ich finde die Oberflächlichkeit, wie die Diskussion um Pandemieschutzmaßnahmen geführt haben, sehr unglücklich. Auch ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie reden wir nur über „Lockerungen“ und „Verschärfungen“. Wir sollten stattdessen über die Wirksamkeit von Maßnahmen reden. Durch Impfungen wird sich die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen natürlich verändern. Das müssen wir gründlich analysieren und diskutieren.

In Ländern wie Italien oder Spanien wird derzeit schon wieder gelockert; in Italien sind Restaurants wieder geöffnet. Ist das Leichtsinn oder die richtige Konsequenz aus sinkenden Infektionszahlen?

Wir müssen verantwortungsvoll mit Pandemieschutzmaßnahmen umgehen. Freiheiten müssen wieder zurückgegeben werden, sobald dies verantwortbar ist. Dabei müssen auf jeden Fall die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden. Irland hat ein abschreckendes Beispiel vorgelegt. Die vorläufigen Lockerungen im Gastronomiebereich und in den Kontaktbeschränkungen kurz vor Weihnachten haben dort zu einem exponentiellen Anstieg in den Infektionszahlen geführt. Wir müssen die lange Frist im Blick behalten, aber natürlich auch gesellschaftliches Leben wieder vermehrt zulassen. Vor allem aber müssen wir die Bürgerinnen und Bürger auf diesem Weg mitnehmen. Denn es liegt auch in großen Teilen am Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen, wie sich die Lage entwickelt.

Und daran hapert es?

Maßnahmen, an die sich keiner mehr hält, sind sinnlos. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, die Bürgerinnen und Bürger von der Sinnhaftigkeit der Maßnahmen zu überzeugen, sonst ist das alles für die Katz.  Hygienevorkehren werden länger wichtig bleiben, und die müssen nicht nur überzeugen, sondern auch gezieltere Kontrollen sind da notwendig. Umsetzung und Einhaltung der Hygieneregeln zum Beispiel in Gastronomien und Geschäften könnte Perspektiven eröffnen, ein wenig Normalität zurück zu gewinnen. Doch die Pandemie bleibt für uns Menschen ein Marathonlauf.

Von Seiten der Bundesregierung heißt es, Lockerungen seien erst ab einem Sieben-Tage-Inzidenzwert von mindestens unterhalb 50, eigentlich sogar erst unterhalb 30 vertretbar, wenn man das Risiko eines abermaligen exponentiellen Wachstums der Virus-Verbreitung vermeiden wolle. Ist das realistisch?

Ich würde es unabhängig von einem bestimmten Grenzwert betrachten. Nachdem die vulnerablen Gruppen eine höhere Durchimpfung haben, werden andere Parameter wichtiger werden, wie etwa Zahl der stationär behandelten Patienten. Aber dann geht es ja auch um das Narrativ, das wir verbreiten. Es geht ja nicht darum, dass wir ab einem bestimmten Inzidenzwert Infektionen wieder zulassen wollen. Wir alle müssen Infektionen vermeiden und unsere Hygienekonzepte entsprechend anpassen. Mit einem guten Hygienekonzept können Handel und auch Gastronomie wieder geöffnet werden, ohne dass Infektionen stattfinden. Nachdem die vulnerablen Gruppen eine höhere Durchimpfung haben, werden andere Parameter wichtiger werden, zum Beispiel Zahl der stationär behandelten Patienten.

Im Moment wird kaum noch über gesellschaftliche und wirtschaftliche Kollateralschäden des Lockdowns gesprochen. Gerade Sie sind in Ihrer Eigenschaft als Professor für Infektiologie einerseits und Bundestagsabgeordneter andererseits eigentlich prädestiniert, um hier ein ausgewogenes Verhältnis zu finden. Können Sie es definieren?

Es liegt in der Verantwortung der Politik, den Moment zu gestalten und die Zukunft im Blick zu behalten. Die Bundesregierung hat jedoch nur den Moment im Blick, hangelt sich von Tag zu Tag und erstarrt immer wieder beim Blick auf die reinen Zahlen. Ein vollumfänglicher Lockdown ist eine Notbremse, aber keine Dauerlösung. Ich verstehe nicht, warum nicht längst Pläne auf dem Tisch liegen, wie wir Handel und Gastronomie verantwortlich öffnen können. Selbst wenn man sich dann entscheidet, dies zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht durchzuführen. Pläne bringen nur etwas, wenn sie im Vorhinein erarbeitet werden.

Ihr Pragmatismus in allen Ehren, aber irgendwie dringen Sie ja damit nicht wirklich durch. Hat man in Ihrer Partei Angst davor, in die Querdenker-Ecke gestellt zu werden?

Nein, Angst davor habe ich nicht. Die Freien Demokraten sind die einzige wichtige Opposition im Deutschen Bundestag, seit die Grünen faktisch in die Bundesregierung eingetreten sind. Zumindest machen sie den Eindruck. Wir hingegen hinterfragen Maßnahmen der Bundesregierung auf ihre Wirksamkeit und Rechtsstaatlichkeit. Das ist die Aufgabe der Opposition. Das ist die Grundlage einer liberalen Demokratie. Wir stellen kreative Ideen nach vorne, ohne die Gefahr dieser Krankheit oder Pandemie zu leugnen. In dem Maße macht das keine andere Fraktion im Deutschen Bundestag.

Der Virologe Hendrik Streeck hat unlängst den Vorwurf erhoben, die Bundeskanzlerin würde sich einseitig beraten lassen – wer nicht auf Drosten-Linie sei, sei nicht erwünscht. Ist da etwas dran?

Das ist schwer zu beantworten. Niemand ist davon frei, dass er lieber Meinungen hört, die der eigenen nahestehen. Ich halte daher nichts von diesen geheimen Beratungen im Kanzleramt. In einer Krise nationaler Tragweite darf die Öffentlichkeit nicht ausschließlich durch heimliche SMS an die Bild-Zeitung hergestellt werden. Wir brauchen öffentliche Anhörungen und Debatten. Transparenz schafft Vertrauen, Geheimniskrämerei zerstört es. Im Übrigen schätze ich beide Virologen sehr.

Noch eine Frage an den Infektiologen Ullmann: Wie gefährlich sind die Virus-Mutanten, die sich derzeit ausbreiten? Laufen die sich auch irgendwann aus, wie man aus den jetzt wieder sinkenden Infektionszahlen in Portugal und Großbritannien schlussfolgern könnte?

Zu der Wirkung der Mutanten haben wir noch ein großes Unwissen. Die ersten Meldungen aus Portugal und Irland waren sehr erschreckend. Wir müssen aber dabei im Blick behalten, welche Pandemieschutzmaßnahmen jeweils vorher gelockert oder nicht eingehalten wurden. Die Übertragungswege der Mutanten haben sich nicht verändert. Auch dass Viren mutieren, ist biologisch nichts Ungewöhnliches. Durch eine Beschleunigung des Impfprozesses müssen wir den Mutanten jedoch den Nährboden entziehen und darauf achten, dass der Pool für Mutationen verringert wird. Aber nur durch besseres Wissen können wir handeln, deshalb ist es essenziell, dass klinisch relevante mutierte Viren rasch erfasst werden – das heißt konkret, alle positiven Proben von Menschen, die im Krankenhaus aufgenommen worden sind, geimpft wurden oder bereits eine Infektion erlitten haben, sollten auf Mutationen im Virus-Genom untersucht werden. Wenn wir diese nicht rechtzeitig entdecken, fangen wir in der Pandemie wieder von vorne an.

Letzte Frage: Steht uns ein Corona-Sommer bevor, oder kann man sich darauf freuen, dann wieder unbeschwerter durchs Leben zu gehen?

Eine verlässliche Aussage dazu kann niemand treffen. Derzeit gehe ich noch von einer Entspannung im Sommer aus. Es gibt aber zu viele Einflussfaktoren, die dies noch verhindern können. Daher ist es wichtig, dass für verschiedene Szenarien Pläne diskutiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen eine Perspektive und sie brauchen transparente Debatten. Ich habe bereits im letzten Frühjahr einen Stresstest fürs Gesundheitssystem, die Wirtschaft, die Schulen, die Pflege beziehungsweise Altenheime, Wohngemeinschaften und Kindertagesstätten gefordert. Mindestens eine Szenarien-Analyse für den Sommer sollte jetzt durchgeführt werden.

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