Angela Merkel - Die postulierte Vernunft

Warum es nun ausgerechnet aus dem Inneren der Union heraus zu einem Ende der Macht von Angela Merkel kommt, beschreibt der Politikwissenschaftler Philip Manow. Der jetzige Abstieg der Kanzlerin entspricht ihrem einstigen Aufstieg

Angela Merkels Machtstil – Vernunft statt linker oder rechter Politik? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

So erreichen Sie Bastian Brauns:

Anzeige

Die Wut in diesen Tagen scheint besonders groß, insbesondere gegen die Politikerin – und damit oft vermengt – gegen die Person Angela Merkel. Ausgesprochen unemotional liest sich ein kluger, analytischer Essay von Philip Manow auf Zeit Online zur Merkel-Dämmerung. Denn einerseits kommt der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen angenehm sachlich ganz ohne einen Angriff auf die Person Angela Merkel aus („Denn Merkel soll hier für eine gewisse Konstellation oder Machtformation stehen, nicht für eine Person.“). Andererseits gelingt es Manow, zu erläutern, wie es innerhalb einer Dekade dazu kommen konnte, dass hierzulande zwar nach wie vor eine große Anzahl von Menschen ganz gemäß des Kanzlerinnen-Wahlkampfslogans gut und gerne lebt, es zugleich aber solch ungeheure Verwerfungen gibt.

Manow schreibt: „Wenn man aber die tiefgreifende gesellschaftliche Polarisierung in Rechnung stellt, die dieser historischen Formation namens Merkel nicht von außen geschah, sondern die sie aus sich heraus, aus ihrem Politikmuster der je situativen 'Vernünftigkeit' entwickelte, aus ihrer Ideologie des Post-Ideologischen, gibt es gute Gründe, ihr Ende nicht allzu sehr zu bedauern.“

Denn als herausragendes Kriterium von Merkels spezifischer Machtformation beobachtet Manow sehr treffend: Es ist plötzlich nicht mehr um rechts oder links in der Politik gegangen – was nicht zuletzt auch die SPD mit ihren Agenda-Reformen mitbesorgt hatte – sondern es ging um angeblich vernünftiges und unvernünftiges Handeln. Diese Verschiebung hat viele gesellschaftliche Bereiche beeinflusst, laut Manow auch den Journalismus:

„An die Stelle von Journalismus trat die Vorstellung, Politik sei eigentlich gar nicht mehr nach links und rechts, sondern nur noch nach Vernunft und Unvernunft kodiert; und die jeweils letzte Wendung aus dem Kanzleramt sei zwingend als Emanation ebenjener Vernunft zu verstehen. Beweis: die aktuellen Umfragewerte! Diese neue Kurzschlüssigkeit aus öffentlicher Meinung, Regierungshandeln und veröffentlichter Meinung wurde zu Merkels großer Verbündeten.“

Auf diese Weise sei das Kanzleramt mehr und mehr als „Garant geschmeidiger Rückkopplungen im Dienste des moralischen Selbstbilds weiter Teile der Mittelschicht“ erschienen. Die bereits umfangreich diskutierten Stichworte Fukushima und Atomausstieg, Aussetzung der Wehrpflicht und die Flüchtlingskrise stehen laut Manow eben für jene „substanziellen Koordinatenverschiebungen“, von denen die Flüchtlingsentscheidung vom September 2015 ohne Zweifel die weitreichendste und folgenschwerste gewesen sein soll.

Und so begrüßt Manow es, egal wie lange Merkel sich noch an der Macht halten kann, dass „das Ende der Situationsvernunft“ gekommen ist.

Anzeige