Ampelkoalition auf Bundesebene? - Brandt 1969, Baerbock 2021

Ab Herbst könnte eine Ampel-Koalition zwischen Grünen, SPD und FDP das Land regieren. Aber hätte das Bündnis auch das Potenzial zu einer Politik, die das Land grundlegend reformiert, wie es der sozialliberalen Koalition von 1969 gelang? Der große Knackpunkt ist die Finanzpolitik.

Mehr Charisma als Olaf Scholz: Annalena Baerbock / dpa
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Autoreninfo

Sven Prietzel ist promovierter Historiker. Seit 2018 arbeitet er als Referent für die FDP-Bundestagsfraktion und als Geschäftsführer für die FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz.

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Die Wahl von Willy Brandt zum Kanzler im Oktober 1969 bedeutete eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Erstmals, nach zwanzig Jahren und drei CDU-Kanzlern, gingen FDP und SPD ein Bündnis auf Bundesebene ein. Es war ein politisches Projekt, das die Reformstimmung in der Bevölkerung aufnahm und einen Aufbruch in ein neues, moderneres (West-)Deutschland markierte. Nicht umsonst wurde der Beginn der Koalition mit einer „zweiten Gründung“ oder „Umgründung“ der noch jungen Republik verknüpft.

Heute, über fünfzig Jahre später, gibt es in weiten Teilen der Gesellschaft wieder eine Sehnsucht nach Veränderungen. In der Corona-Krise wirkten die staatlichen Institutionen nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Für viele scheint das Land zudem nicht ausreichend gerüstet für die Herausforderungen des Klimawandels, der Digitalisierung und der globalen wirtschaftlichen Konkurrenz.

Brandt 1969, Baerbock 2021

Es stellt sich die Frage, ob die Langzeitregierungsparteien CDU und CSU nach 16 Jahren an der Macht noch die Innovationskraft und den Elan mitbringen, um diese Probleme anzugehen? Die „Ampel“ könnte die dynamischere, kreativere Alternative zu einer Regierung mit Unions-Beteiligung sein. Doch hat sie auch das Potenzial, einen ebensolchen politischen und gesellschaftlichen Wandel einzuleiten wie seinerzeit die Koalition unter Willy Brandt?

Der Weg zur Sozialliberalen Koalition war lange vor ihrem Entstehen bereitet worden. Galt im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg noch das Wahlkampfmotto Konrad Adenauers „Keine Experimente wagen!“, so hatten sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse bis in die 1960er Jahre deutlich gewandelt. Ein neues politisches Bewusstsein begann sich zu regen. Dies zeigte sich 1968 am Widerstand gegen die Notstandsgesetze, die in Ausnahmefällen die Aufhebung von Grundrechten ermöglichen sollten.

Wunsch nach neuen Wegen

Viele Bürger, Gruppen und Bewegungen, von den Gewerkschaften, über die FDP und bis zur Studentenbewegung, sahen in dem Gesetzesvorhaben einen Angriff auf zentrale Bürger- und Freiheitsrechte und demonstrierten gegen die Pläne der Regierung. Nicht wenige verbanden mit ihrem Protest eine Kritik an den verkrusteten Zuständen in Staat und Gesellschaft. Es gärte in Teilen der Bevölkerung. Davon blieb die politische Landschaft nicht unberührt.

Der Wunsch nach etwas Neuem, nach einem anderen Denken und Handeln, hatte sich auch in der SPD und der FDP ausgebreitet. In der Deutschland- und Außenpolitik wollten beide neue Wege gehen. Sie entwickelten Konzepte, die sich später in der von Egon Bahr geprägten Formel „Wandel durch Annäherung“ verdichteten. Zeitgleich setzten sich in der FDP innenpolitische Reformvorstellungen durch, die auf dem Freiburger Parteitag von 1971 in der Vision von einem „Sozialen Liberalismus“ gipfelten.

Beide Parteien nahmen gesellschaftliche Trends auf und bewegten sich programmatisch aufeinander zu. Die gemeinsame Sozialliberale Koalition war die geradezu logische Konsequenz. Gemeinsam setzten Frei- und Sozialdemokraten ab 1969 Reformen um, die Staat und Gesellschaft bis heute prägen. Die Liberalisierung des Ehe- und Familienrechts, der Ausbau des Sozialstaats und des Bildungswesens sind nur ein paar Beispiele.

Grüner Pragmatismus öffnet Koalitionsoptionen

Als 2019 tausende Schüler unter dem Slogan „Fridays for Future“ auf die Straßen gingen, konnte dies an die Studentenproteste der 1960er Jahre erinnern. Die Sorge um den Klimawandel mobilisierte und politisierte allerdings nicht nur die Jugend. Bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet sich schon seit längerem ein ökologisches Bewusstsein. Größter politischer Profiteur dieser Entwicklung sind die Grünen. Sie kanalisieren Teile des Protests und sind für viele Wähler die Partei der Ökologie schlechthin. Dass sie im politischen Alltag nicht so weit gehen, wie viele Klimaaktivisten es wünschen, offenbart den neuen grünen Pragmatismus, der die Partei nicht nur für die gesellschaftliche Mitte wählbar macht, sondern auch für zahlreiche Koalitionsoptionen öffnet.

Die aktuelle grüne Dominanz geht mit dem Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie einher. Die Grünen haben die frühere Vormachtstellung der SPD im linken Lager beendet. Das Charisma, das früher SPD-Kanzler Willy Brandt besaß, liegt heute eher bei Annalena Baerbock als bei Olaf Scholz. Der Linksdrift der Sozialdemokratie brachte ihr bislang keinen Erfolg. Gleichwohl sind nicht wenige Menschen besorgt um eine wachsende wirtschaftliche Kluft. Noch hat die SPD nicht gänzlich ihre Rolle als soziales Gewissen der Republik verloren.

Konzepte für smarten, effizienten Staat gefragt

In der Corona-Pandemie wirkten der Staat und seine Institutionen schwerfällig. Die Digitalisierung des Gesundheitssystems war offensichtlich nicht auf dem Stand, der zu einer frühen und effektiven Bekämpfung der Pandemie notwendig gewesen wäre. An den Schulen gab es weder die technischen, noch die personellen Voraussetzungen für einen digitalen Unterricht auf hohem Niveau. Dass Deutschland bei der Digitalisierung hinterherhinkt, war auch schon vor der Pandemie bekannt – Stichworte wie der Breitband-Ausbau und das digitale Bürgeramt genügen hier. In Anbetracht dieser Lage könnten künftig die Konzepte der FDP für einen smarten und effizienten Staat gefragter denn je sein.

Gleiches gilt für das wache Bewusstsein der Freidemokraten für Bürger- und Freiheitsrechte wie auch für ihre Grundüberzeugungen in Sachen Wirtschaftsfreiheit und Freihandel. Nach der Pandemie wird es darauf ankommen, die Eingriffe des Staats in die Freiheitsrechte der Bürger und in die Wirtschaft kritisch im Blick zu behalten und den globalen wirtschaftlichen Nationalismus zurückzudrehen. Die FDP könnte hier Wächter und Treiber zugleich sein.

Ampel funktioniert nur in Rheinland-Pfalz

Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zeichen stehen 2021 auf Wandel. Nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel scheinen Reformen und ein neuer Politikstil ebenso relevant, wie 1969, als die Union zwanzig Jahren lang den Kanzler gestellt hatte. Grüne, SPD und FDP wären mit ihren je unterschiedlichen Stärken und Schwächen womöglich in der Lage, eine Politik der Zukunft zu gestalten.

Noch fehlen allerdings genügend Vorbilder für ein Ampel-Bündnis, die beweisen, dass es funktionieren kann. Während seit den 1950er Jahren in mehreren Ländern verschiedene Sozialliberale Koalitionen regierten, gibt es aktuell nur eine „Ampel“ in Rheinland-Pfalz. Immerhin hat sich diese Koalition bewährt. In Schleswig-Holstein zeigen außerdem Grüne und Freidemokraten, dass sie zusammenarbeiten können.

Programmatisch liegen die „Ampel“-Parteien nicht mehr allzu weit auseinander. Die FDP erkennt die Notwendigkeit des Umwelt- und Klimaschutzes an, während die Grünen zuletzt ein ungeahntes Interesse an der Wirtschaft entwickelten. Unterschiedliche Auffassungen im Detail ließen sich wohl überwinden. In der Gesellschafts- und der Bildungspolitik sind ohnehin kaum Unterschiede in den aktuellen Programmen von FDP, Grünen und SPD auszumachen.

Knackpunkt Finanzpolitik

Die potentielle Eintracht könnte jedoch empfindlich gestört werden. Denn in der Finanzpolitik, von der am Ende Wohl und Wehe jeder Regierung abhängt, vertreten die „Ampel“-Partner vollkommen unterschiedliche Ansichten. Nirgendwo sonst bestehen solche programmatischen Differenzen. In ihren Wahlprogrammen fordern die Grünen und die Sozialdemokraten nicht weniger als eine Investitions- und Ausgabenpolitik, die auch vor der Schuldenbremse nicht Halt macht. Dagegen stehen die Freidemokraten für Haushaltsdisziplin und ein Zurück zu ausgeglichenen Staatsfinanzen.

Nach der Corona-Krise, die zu einer Rekordverschuldung des Staats führte, dürften sich solche Gegensätze weiter verschärfen und zu einer schweren Hypothek für eine „Ampel“-Koalition werden. Um zu sehen, zu welchen Konflikten der Streit um das Geld führen kann, lohnt sich erneut der Blick auf die Sozialliberale Koalition. In der Wirtschaftskrise der frühen 1980er Jahre trugen die gegensätzlichen Auffassungen von SPD und FDP im Umgang mit der Staatsverschuldung wesentlich zum Scheitern ihrer politischen Partnerschaft bei. Ob eine „Ampel“ an diesem Punkt eine größere Durchhaltefähigkeit an den Tag legt, muss sich zeigen.

Im Beitrag vertritt der Autor ausschließlich seine persönlichen Ansichten und nicht die der FDP-Fraktionen.

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