Amoklauf von Winnenden - „Ich hab hier drei Leichen – so verkauft man heute News“

Vor genau 10 Jahren tötete ein 17-jähriger Amokläufer 15 Menschen in Winnenden. Anton Jany hat für das ZDF vom Tatort berichtet. Was er dort erlebte, hat sein Vertrauen in den Journalismus erschüttert. Doch ist es überhaupt möglich, ethisch korrekt über Katastrophen zu berichten?

Trauerfeier für die Opfer von Winnenden: Damit die Hinterbliebenenen in Ruhe Abschied nehmen konnten, bekamen sie Polizeischutz / picture alliiance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Anton Jany hat sein Handwerk beim Südwestrundfunk (SWR) gelernt. Seit 1982 arbeitet er als freier TV-Journalist, unter anderem fürs ZDF.

Herr  Jany, Sie haben für das ZDF über den Amoklauf von Winnenden berichtet. Danach, so haben sie kürzlich in einem Interview gesagt, seien Sie kurz davor gewesen, Ihren Job als Reporter aufgeben. Warum?
Als ich aus Winnenden wieder abgereist bin, haben mich unterwegs die Ereignisse eingeholt. Ich musste ich von der Autobahn auf einen Parkplatz fahren. In diesen Momenten habe ich mich regelrecht ausgeweint, weil mich dieser Medienrummel so mitgenommen hat. In den Momenten auf dem Parkplatz habe ich ernsthaft überlegt, ob ich meinen Job an den Nagel hängen soll.

Der Amokläufer, ein 17-jähriger Schüler, hatte zehn Kinder erschossen. War der Anblick der toten Kinder nicht schlimmer als das Gerangel unter den Journalisten?
Von den Opfern haben wir gar nichts gesehen. Die Polizei hat damals den Tatort frühzeitig abgesperrt. Zum Glück. Im Kampf um die „geilsten“ Bilder hätte sich einige Kollegen womöglich auch noch auf die Toten gestürzt. Mir hat es so schon gereicht. Ich hatte den Eindruck, dieser Medienrummel war wie auf einer Kirmes. 
 
Kirmes?
Wenn Sie auf die Kirmes gehen, prasseln überall Töne, Bilder und Eindrücke auf Sie ein. Es war der europaweit größte Medienauflauf. Aus der ganzen Welt sind Teams angereist. Überall haben Kamerateams und Reporter die Trauerstellen belagert. Es gab kaum einen Bewohner, der unbehelligt blieb.
 
Was hat Sie am Auftreten Ihrer Kollegen gestört?
Es war vor allem die Art, wie die mit ihrem Gegenüber umgegangen sind. Ich habe zum Beispiel erlebt, wie ein Fotograf einem Kind einen Teddy und einen Geldschein zugesteckt hat. Das Kind sollte den Teddy für ein Foto zu den Hunderten Grabkerzen legen. Da waren Reporterinnen vom Privatfernsehen, die auf High Heels zwischen den Trauernden herumgelaufen und – pardon, ich muss das mal so sagen – nochmal Rouge aufgelegt haben, während nebenan Menschen hemmungslos weinten. Fotografen, die Trauernden Kommandos zugerufen haben wie beim Shooting im Studio. Es war ekelhaft.

Ähnliche Erfahrungen hatten Angehörige von Opfern ja schon 2002 beim Amoklauf von Erfurt gemacht. Was war diesmal anders?
Das kann ich nicht sagen. Ich war nicht in Erfurt dabei. Ich habe zwar schon über einige Katastrophen berichtet, auch über einen Flugzeugabsturz mit 30 Toten oder einen Großbrand in einer Behindertenwerkstatt. Winnenden war aber eine ganz eigene Geschichte. Da hat sich der Medienrummel regelrecht verselbständigt.
 
Weil die Polizei besonnen reagiert und den Tatort abgeriegelt hatte?
Ja, aber gerade deshalb hat dort der Kampf um die „geilste“ Schlagzeile und das „geilste“ Bild begonnen. Ich will jetzt kein Kollegen-Bashing treiben. Aber mein Eindruck war: Viele Journalisten oder solche, die sich dafür halten, haben von ethischen Richtlinien nichts mitbekommen. Da hat sich auch wenig geändert. Heute kaufen sich manche für 2.000 Euro eine fernsehtaugliche Kamera, und damit machen sie dann Fernsehbilder. Das sind diese selbsternannten Kameraleute, die in die Redaktion kommen und sagen: „Ich hab hier drei Leichen“ – und winken mit einem Datenträger. So verkaufen manche heute ihre News.

Sie arbeiten seit 1982 als Journalist. Welche Regeln haben Sie gelernt?
Erst einmal Respekt vor dem Gegenüber. Mein Chef beim Südwestfunk hat uns eingetrichtert, dass wir uns nicht so wichtig nehmen sollen als Journalisten und dass sich die Welt auch ohne spektakuläre Headlines weiterdreht. Dass wir den Menschen nicht nur Fragen stellen, sondern auch mit ihnen reden müssen. Das hat sich mir eingeprägt.

Was ist der Unterschied?
Wenn ich mit Menschen rede, dann funktionalisiere ich sie nicht. So mache ich meinen Job draußen: Ich rede mit Menschen, bevor die Kamera läuft. Dann habe ich auch ein Gefühl dafür, was die Menschen wollen.

Leiten Sie daraus die Forderung ab, dass ethische Richtlinien Bestandteil der journalistischen Ausbildung werden sollte?
Ja, unbedingt. Heute haben wir rund um die Uhr Nachrichten im Fernsehen und auch im Internet arbeiten Journalisten und solche, die sich dafür halten, 24 Stunden ohnr Unterbrechung. Der Begriff ist ja nicht gesetzlich geschützt. Jeder darf sich Journalist nennen, der mal etwas veröffentlicht hat. So drängen immer mehr Laien in den Beruf. Und ich glaube, die verseuchen den Markt.

Das Image des Journalismus war schon mal besser. Aber am meisten Kritik muss sich derzeit das ZDF gefallen lassen. Wie erklären Sie sich das?
Ich finde nicht, dass sich das ZDF am meisten Kritik gefallen lassen muss. Als Reporter erfahre ich draußen immer wieder Lob und Zustimmung für unsere Arbeit. Und ich bin sicher, dass wir, wenn es um qualitativ wertigen Journalismus geht, weit vorn rangieren in der Gunst der TV-Konsumenten.

In einem Interview mit dem Medienmagazin „Zapp“ hat der Leiter der Waiblinger Volkszeitung gesagt, auch öffentlich-rechtliche TV-Sender hätten ihm nach dem Amoklauf von Winnenden hohe Summen für Fotos der ermordeten Kinder angeboten. 
Davon ist mir nichts bekannt. Ich würde sogar sagen: Von uns hat das keiner gemacht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass von den Kollegen vom SWR jemand Geld geboten hat.

Über so ein Verbrechen zu berichten, ohne Bilder der Opfer zu zeigen, ist schwierig. Brauchten Sie selber gar keine Bilder?
Doch, ich habe in Erinnerung, dass wir bei den Kollegen der Zeitung danach gefragt haben, ob es Bilder gäbe. Das ist gängige Praxis im Alltagsgeschäft einer TV-Redaktion. Wir Öffenlich-Rechtlichen haben ja auch Formate wie „Hallo Deutschland“ oder „Brisant“, wo Emotionen mehr gefragt sind als in Nachrichtenformaten. Aber ganz klar: Von uns ZDF-Reportern wurde niemand gedrängt, bei Privatpersonen zu klingeln, um Fotos zu besorgen. Ich habe auch nicht das Internet durchforstet auf der Suche nach Bildern von Privatpersonen.

Anton Jany / privat

Was nützen denn die ethischen Grundlagen des Journalismus, wenn RTL-Kollegen bei den Hinterbliebenen im Wohnzimmer sitzen und der Focus eine Fotogalerie der Verstorbenen auf sein Cover gedruckt hat, während Sie nicht mal ein Foto haben. Gerät man da nicht unter Druck?
Das sorgt natürlich für einen gewissen Druck. Aber dieser Druck kam nicht vom ZDF oder von meiner Redaktion, sondern ....

... von der Konkurrenz?
Nein, man gerät als Reporter vor Ort irgendwie in einen Drive. Man muss funktionieren. Und irgendwann ist man vielleicht an so einem Punkt, an dem man es dann vielleicht auch gut fände, auch ein Bild zu haben; zum Beispiel von einem der Opfer. Das ergibt sich aus der Situation. Wir hätten das allerdings nicht ohne Verfremdung gesendet. Da bin ich mir sicher.

Als gab es doch Konkurrenzdruck.
Aber ich gehe doch nicht gezielt mit dem Vorsatz dorthin: Ich brauche ein Foto vom Opfer und vom Täter. Man hat die ersten Nachrichten-Sendungen bedient, und dann fragt man sich: Was könnte ich noch leisten? Wir haben uns damals sehr auf den Täter fokussiert.

Als Reaktion auf die vielen Beschwerden über die Berichterstattung aus Winnenden hat der Deutsche Presserat 2010 einen Leitfaden herausgegeben: „Berichterstattung über Amoklöufe – Empfehlungen an die Redaktion. Darin heißt es zum Beispiel: „Eine extensive, täterzentrierte und detaillierte Amokberichterstattung ist Katalysator für Nachahmungsphantasien amokgeneigter Menschen.“
Diesen Leitfaden kenne ich nicht. Wir haben beim ZDF eigene Leitlinien, wie wir mit so einem Fall umgehen.

Welche sind das?
Es sind Leitlinien, wie wir mit Persönlichkeitsrechten oder mit Fotos aus dem Internet umzugehen haben. Wenn wir heute das Foto eines Opfers oder eine Täters veröffentlichen, würden wir es entweder verpixeln oder den Abgebildeten unkenntlich machen.

Sie müssen sich selber nicht fragen, ob Sie in Winnenden etwas falsch gemacht haben?
Doch, natürlich. Ich mache meinen Job so, wie ich es gelernt habe. Doch mir ist bewusst, dass das dennoch immer eine Gratwanderung ist. Allein schon an so einem Tatort zu sein, ist manchmal bedrückend für die Angehörigen der Opfer. Wer von so einem Verbrechen betroffen ist, nimmt die Berichterstattung ganz anders wahr. Aber es gibt eben auch die andere Seite, die ein Recht auf Berichterstattung hat. Und die bedienen wir. So eine Tat wirft Fragen auf. Und die versuchen wir zu beantworten.

Machen Sie es sich nicht ein bisschen zu leicht, wenn Sie die Medien in gut und böse trennen – und die Bösen sind natürlich RTL und irgendwelche Paparazzi?
Das habe so nicht so gesagt.

Aber Sie haben schon gesagt, dass das ZDF ethische Leitlinien habe – und dass es Konkurrenten gäbe, denen es daran mangele.
Ich habe nur erzählt, was ich beobachtet habe. Dass der Markt um spektakuläre Bilder immer umkämpfter ist und dass immer mehr Menschen auf diesen Markt drängen, die die Grundlagen des Journalismus und Respekt vor dem Gegenüber nicht gelernt haben. Das war keine Medienschelte. Die kann ich mir gar nicht anmaßen, weil ich nicht weiß, ob andere Medien nicht auch eigene Richtlinien haben.

Beim Deutschen Presserat sind damals 80 Beschwerden über die Berichterstattung aus Winnenden eingegangen. Der Rat kann die betreffenden Medien aber nur rügen. Ist er ein stumpfes Schwert im Kampf gegen Sensationsjournalismus?
Könnte man meinen. Denn was ist so eine Rüge gegen die Summe  X, die ein Fotograf dafür bekommt, dass er es mit einem geilen Foto auf Seite eins einer Boulevardzeitung geschafft hat? Vielen Kollegen geht es doch mehr um die Kohle als um die Frage, ob sie nach ethischen Richtlinien arbeiten, mit denen sich immer weniger beschäftigen. 

2016 gab es den nächsten Amoklauf in München. Ein 18-jähriger Schüler tötete neun Menschen. Haben Sie den Eindruck, die Medien hätten irgendwas aus den Fehlern in Winnenden gelernt?
Nein, es war vielleicht sogar noch schlimmer. München war allgegenwärtig, der Zuschauer war live dabei, egal, ob auf Twitter oder im Fernsehen. Da kamen zwei Dinge zusammen: Einerseits der Kampf um die spektakuläre Nachricht – und andererseits die Veränderung in der Technik. Die Übertragungstechnik ist inzwischen  so ausgereift, dass wir innerhalb von zehn Minuten live in eine TV-Sendung geschaltet werden können.

Wozu braucht man die? Jeder Anfänger kann heute live mit dem Smartphone berichten.
Das kommt auch noch dazu – dieser Handy-Hype. Stellen Sie sich mal vor, den hätte es schon in Winnenden gegeben. Ich mag mir das gar nicht ausmalen. Das Internet und vielleicht auch die eine oder andere TV-Sendung wären überschwemmt worden mit Bildern von sterbenden Kindern.

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