Altenheime als Hotspots - „Die Verordnung über Schnelltests für Mitarbeiter kam viel zu spät“

Noch immer hat sich jeder zweite Corona-Tote zuvor in einem Alten-und Pflegeheim infiziert. Dabei hat die Regierung die Alten längst im Visier. Im Interview erzählt die Leiterin eines Altenheims in Berlin, warum sie der Politik nicht mehr vertraut und auf ihr eigenes Krisenmanagement setzt.

Ohne negativen Test kommt keiner mehr rein / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Clarissa Meier ist Leiterin und Geschäftsführerin des Seniorendomizils An der Panke in Berlin-Wedding. Dort betreuen 75 Mitarbeiter 96 Bewohner. 

Frau Meier, Pflegeheime waren schon in der ersten Welle Hotspots der Pandemie. Jeder zweite Corona-Tote hat in einem Heim gelebt. Jetzt schützen sich Einrichtungen selbst mit Schnelltests und Masken, und trotzdem rafft das Virus dort ganze Etagen weg. In Berlin-Friedrichshain hat es gerade zehn Bewohner eines Pflegeheims erwischt. Was denken Sie, wenn Sie solche Meldungen lesen. 
So etwas ist natürlich krass. Mir läuft es da eiskalt den Rücken herunter. Man bekommt ja selbst Angst. Bei uns ist bis jetzt Gott sei Dank alles gut gegangen. 

Was machen Sie anders als andere?
Wir haben unsere Mitarbeiter zum Beispiel schon getestet, bevor das gesetzlich vorgeschrieben wurde. 

Aber auch die Schnelltests bieten ja keinen hundertprozentigen Schutz. 
Genau, das ist der Punkt. Wir können uns bemühen, wie wir wollen. Die Bewohner, die es noch können, dürfen das Heim verlassen, wann sie wollen. Von 96 Menschen sind das bei uns zwölf. Und darunter sind auch welche, die vielleicht nicht genau wissen, was sie tun – und die uns damit in unnötige Gefahr bringen. 

Wie sieht es mit Besuch aus? Konnte der Weihnachten auch kommen und gehen, wie er wollte? 
Ja, zu Weihnachten waren sogar zwei oder drei Personen pro Einwohner erlaubt. Das hätte bedeutet, dass wir pro Tag 300 Leute hätten durchlaufen lassen müssen. 

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Aber so viele sind nicht gekommen? 
Nein, das wäre auch gar nicht gegangen. Es sind nur 20 Bewohner, die regelmäßig Besuch bekommen. Für die Leute, die fit sind, haben wir einen eigenen Besuchsraum im Haus eingerichtet mit allen erforderlichen Maßnahmen, wie zum Beispiel mit einer Plexiglasscheibe. Die, die bettlägerig sind oder im Sterben liegen, bekommen ihren Besuch aufs Zimmer. Der muss natürlich entweder einen negativen Corona-Test vorweisen, oder wenn er den nicht hat, machen wir das. 

Wer ist "wir"? 
Also, an Weihnachten habe ich das gemacht, damit meine Mitarbeiter, die auf der Station
tätig sind, nicht ständig hoch- und runterfahren müssen, Kittel an, Kittel aus. Eine Viertelstunde auf das Ergebnis warten. Das ist sehr aufwendig. 

Wer hat Ihnen beigebracht, wie man richtig schnelltestet? 
Eine Ärztin. Ich komme mit dem Stäbchen in die Nase, und da, wo es unangenehm ist und Sie das Gefühl haben, Sie halten es nicht mehr aus, da bleibe ich zehn Sekunden. Das ist nicht angenehm, aber ganz ehrlich: Es ist jetzt auch kein Beinbruch. Und es gibt uns so viel Sicherheit. 

Auch, wenn der Test mitgebracht wurde und Sie nicht wissen, ob geschultes Personal am Werk war?
Ehrlich gesagt, hatten wir diesen Fall noch nicht. Ich glaube, die Angehörigen wissen, dass wir genau sind. Falls doch mal einer mit einem Test kommen würde, würde ich sagen: Seien Sie mir bitte nicht böse, aber ich möchte lieber meine eigenen Tests machen. 

Clarissa Meier / privat 

Handhaben das alle Heime so streng?
Nein, es gibt tatsächlich immer noch Heime, die ohne FFP2-Masken oder Schnelltests ausgestattet sind. Meine Mitarbeiter erzählen mir das immer. Viele sind in digitalen Fortbildungsforen unterwegs, da erfährt man krasse Geschichten. 

So ein Test kostet neun Euro. Wer bezahlt den denn? 
Es gibt einen sogenannten Pflegefallschirm, da kann man die Kosten einreichen und bekommt die von der Gesundheitsbehörde zurückerstattet. So wurde es uns jedenfalls zugesagt. Ich weiß noch nicht, ob das klappt. Aber die eingereichten Kosten für Masken und Schutzausrüstung wurden bislang alle erstattet. Das hat bislang ganz gut geklappt. Leider ist die Verordnung, dass sich das Personal alle zwei Tage testen lassen muss, viel zu spät gekommen. Viele wussten gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. 

Das heißt, es hängt in erster Linie von der Eigeninitiative der Einrichtung ab, wie gut Bewohner und Personal geschützt werden? 
Ich möchte da keinen Stab über andere Heime brechen, aber aus meiner Sicht ist es so. Jede einzelne Pflegefachkraft muss diese Verantwortung übernehmen. Unser Heim hat natürlich den Vorteil, dass wir kurze Wege haben, weil alle Entscheidungsträger unter einem Dach sitzen. 

Weil Sie zugleich Leiterin und Geschäftsführerin sind? 
Genau, ich muss niemanden fragen, ob es okay ist, dass wir das Geld für die Schnelltests erstmal auslegen. Ich entscheide das einfach, weil es mir mein gesunder Menschenverstand gebietet. Wir waren im März bereits gut mit Ausrüstung versorgt und haben uns auch zusätzlich ohne Zusage einer Kostenerstattung noch weiter mit sehr teurem Material eingedeckt. Da es damals keine Schutzkittel zu bestellen gab, haben wir vorsorglich sogar Mülltüten für alle Fälle bestellt. 

Schon vor Corona war das Pflegepersonal überlastet. Wie schaffen Ihre Mitarbeiter ihr Pensum unter den neuen Sicherheitsbedingungen? 
Dadurch, dass wir uns von Anfang an um den Schutz des Personals bemüht haben, sind die Mitarbeiter voller Vertrauen. Sie sind über sich hinausgewachsen. Sie haben aber auch keine andere Wahl. Sollen sie sagen: Ich bleibe zu Hause, denn ich habe Angst? Wir hatten fast keine Krankschreibungen. Aber wir sind da die absolute Ausnahme. 

Dabei gab es bei Ihnen vor zwei Monaten Alarm im Heim. Die Tochter einer Bewohnerin war positiv auf Corona getestet worden. Was hat das bei Ihnen ausgelöst? 
Wir haben erstmal alles abgesperrt und waren sehr besorgt, weil es das erste Mal war, dass wir so dicht mit dem Virus in Berührung gekommen waren. Wir haben den Fall dem Gesundheitsamt gemeldet, so wie vorgeschrieben. Das soll dann eigentlich Mitarbeiter schicken und alle durchtesten. Bis dahin sollen wir die Mitarbeiter in Quarantäne schicken. 

Theoretisch. Wie sah es in der Praxis aus? 
Erstmal haben wir unter der angegebenen Notruf-Nummer niemanden erreicht. Auch Emails kamen wieder zurück. Es war ein heilloses Durcheinander. Dann war die Meldung endlich draußen. Aber bis heute hat sich zu dieser Meldung hier niemand gemeldet. Es ist NICHTS passiert. 

Können Sie dem Gesundheitsamt jetzt noch vertrauen? 
Nein, aber ehrlich gesagt habe ich schon damit gerechnet, dass das passieren würde. Als ich im März die Bilder der Särge in New York gesehen habe, war mir klar, diese Krise kann nicht von der Politik gelöst werden. Jeder muss seine Schäfchen selbst ins Trockene bringen. Toi, toi, toi. Das haben wir bisher geschafft. 

Am Anfang gab es Applaus für Pflegepersonal. Fühlen Sie sich für Ihre Arbeit heute noch wertgeschätzt? 
Ach, dieses Geklatsche war eine tolle Geste. Aber noch toller waren die 1.500 Euro, die an unsere Mitarbeiter ausgezahlt wurden. Auf den Intensivstationen der Krankenhäuser gibt es Pfleger, die bis heute noch keinen einzigen Cent davon gesehen haben. 

Eine angemessene Entschädigung für die Mehrbelastung? 
Nein, natürlich nicht. Ja, wir haben zu wenig Pflegekräfte, und wir müssen besser bezahlt werden. Keine Frage. Aber dass versucht wurde, uns redlich zu unterstützen, muss man auch mal anerkennen. 

Was haben Sie denn getan, um Ihre Mitarbeiter zu motivieren? 
Zum Beispiel haben wir kostenlos heißen Kakao verteilt und für jeden eine schöne Weihnachtstüte packen lassen. Wir haben in der ersten Welle containerweise Klopapier gekauft, damit sie nach Feierabend nicht noch in 4, 5 Supermärkte fahren und sich dem Infektionsrisiko aussetzen mussten. Das waren so kleine Gesten halt. 

Ist das die Regel in Ihrer Branche? 
Ich kann nicht für die ganze Branche sprechen, alle kämpfen auf ihre Weise und nach ihren Möglichkeiten. Aber was wollen sie von Heimen erwarten, die in der Hand von Aktiengesellschaften sind? Ich glaube, viele von denen haben gezögert, FFP2-Masken anzuschaffen, weil sie das Geld dafür hätten auslegen müssen. Es war nicht klar, ob die gesetzlichen Krankenkassen die refinanzieren. Aus kaufmännischer Sicht ist das nachvollziehbar. Aber wir arbeiten hier mit Menschen. 

Wurden Ihre Bewohner schon geimpft? 
Nein, wir haben noch keinen Termin für unsere Bewohner, aber ich rechne stündlich damit. Die ersten Mitarbeiter hingegen wurden schon geimpft. Ich habe morgen um zwölf einen Termin. Ich hoffe, das Schlimmste ist dann überstanden. Aber ein Rest Angst bleibt.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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