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Für die neue Bundesregierung gibt es viel zu tun. Zehn Vorschläge für zehn Politikfelder

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Sebastian Haslauer für Cicero
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Energie 

Mit der Energiewende, deren zentraler Punkt zum einen der Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende des Jahres 2022 ist, zum anderen aber auch eine erhebliche Reduktion des CO2-Ausstoßes aus fossilen Kraftwerken, hat sich die Bundesrepublik eine enorme Aufgabe gestellt. In den nächsten vier Jahren muss es vor allem darum gehen, den Anteil der erneuerbaren Energien (EE) aus Sonne und Wind weiter auszubauen, aber gleichzeitig das Ausmaß der bisherigen Subventionierung einzudämmen. Denn zwar sinkt der Strompreis an der Börse in Leipzig – doch bei den Verbrauchern kommt davon nichts an, weil sie erhebliche Umlagen mitbezahlen müssen: allein für die Erneuerbare-Energien-Umlage fast 25 Milliarden Euro jährlich. Das aber belastet private Haushalte und den Produktionsstandort Deutschland.

Erste Schritte sind bereits getan: Feste Einspeisevergütungen für Anbieter von EE-Strom gibt es nur noch für bestehende Anlagen. Wer heute ein Windrad in die Landschaft stellt, bekommt den damit erzeugten Strom zu Preisen vergütet, die im Zuge von Auktionsverfahren ermittelt werden. Ein zweiter wichtiger Punkt: Bisher produzierte dank fester Erlöse jeder Windmüller oder Fotovoltaikanlagenbesitzer so viel Strom, wie die Anlage hergibt – unabhängig davon, ob er gerade gebraucht wird. Künftig muss auch der EE-Strom dem Marktprozess unterliegen. Und schließlich gilt es, den in manchen Zeiten im Überfluss vorhandenen Strom aus Wind und Sonne klug zu nutzen. Das Problem dabei ist bisher, dass die verschiedenen Energieträger unterschiedlich besteuert werden.

Klimapolitisch geboten ist außerdem eine Reform des europäischen Emissionshandels. Hier sollten mehr Bereiche als bisher in den Handel einbezogen werden. Politisch vernachlässigt wurde in den vergangenen Jahren das Thema Versorgungssicherheit beim Erdgas. Trotz der Spannungen mit Moskau ist Europa von russischen Gaslieferungen via Pipelines abhängig. Alternative Lieferländer und Pipelines dafür sind nicht in Sicht. Darüber wird sich jede Bundesregierung mehr Gedanken machen müssen. Alexander Marguier

 

Steuern

In kaum einem Politikfeld ist der Reformstau so groß wie bei den Steuern. Gerade die Steuern, die für die Bürger die größte Belastung darstellen und das meiste Geld in die Staatskasse spülen, weisen die größten Mängel auf: die Lohn- und Einkommensteuer und die Mehrwertsteuer. Bei der Einkommensteuer sind die Lasten inzwischen deutlich ungerechter verteilt als zu Beginn der Amtszeit von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Schuld daran ist der progressive Steuertarif, der eigentlich für eine gerechte Besteuerung nach Leistungsfähigkeit sorgen soll. Heute aber wird den Normalverdienern eine zu hohe Last aufgebürdet, weil sie trotz nur mäßig gestiegener Einkommen höheren Steuersätzen unterworfen werden. Auch deswegen kann Schäuble mit der schwarzen Null glänzen. Seit er im Amt ist, wuchs das Aufkommen aus der Einkommensteuer um fast 60 Prozent auf mehr als 270 Milliarden Euro.

Unbedingt notwendig ist deshalb ein gestreckter Steuertarif, der die mittleren Einkommen entlastet und nahtlos die „Reichensteuer“ von 45 Prozent einschließt, die seit 2010 für Jahresbezüge von mehr als 250 000 Euro erhoben wird. Im Interesse solider Staatsfinanzen wäre es sinnvoll, den Solidarzuschlag nicht ersatzlos zu streichen, sondern diese Mittel für die Finanzierung eines Tarifs einzusetzen, der sich endlich wieder an der Leistungsfähigkeit orientiert. In der Sache eigentlich einfacher, aber wegen hartnäckiger Lobby kaum leichter ist die Reform der Mehrwertsteuer. Ursprünglich sollte der ermäßigte Mehrwertsteuersatz (heute 7 Prozent) nur für Waren und Leistungen gelten, die das Grundbedürfnis decken: Lebensmittel, Bücher, Zeitungen, Kultur. Heute zählen aber auch Schnittblumen, Hotelübernachtungen, Trüffel dazu. Dagegen kosten Schulessen, Babywindeln, Medikamente den vollen Satz von 19 Prozent. Würde der ganze Irrsinn beseitigt, könnte der ermäßigte Satz erheblich gesenkt oder sogar ganz gestrichen werden. Das würde vor allem den Bürgern helfen, die wegen mangelnden Einkommens gar keine oder nur sehr wenig Einkommensteuer zahlen. Wilfried Herz

 

Außenpolitik

Eine Türkei und ein Russland, die sich dem Autoritarismus und Revisionismus verschrieben haben. Terrorismus, „Islamischer Staat“ und Konflikte im Nahen Osten sowie in Afrika. Ein US-Präsident, dessen Verlässlichkeit sich auf die täglich abgefeuerten Twitter-Meldungen beschränkt. EU-Staaten wie Polen und Ungarn, die demokratische Freiheiten torpedieren. Dazu ein China, das stärker in die Weltordnung eingreifen wird. Und, ja, der Brexit.

Die deutsche Außenpolitik wird künftig immer mehr gefordert sein, kurzfristig multilaterale Bündnisse schmieden zu müssen, um Krisen begegnen zu können. Aber kann oder soll eine neue Regierung eine Rolle, die der Economist als die des „widerwilligen Hegemons“ bezeichnete, aufrechterhalten? Kann sich eine deutsche Regierung auch in Zukunft ein Zögern bei Einsätzen gegen Terrormilizen wie den IS leisten, wenn sie als verlässlicher Partner gelten will? Und wird der Weg der Kanzlerin im diplomatischen Spiel mit den Schreihälsen und Eskalierern, Nerven zu wahren und im Gespräch klare Prinzipien zu vertreten, künftig für ein effektives Krisenmanagement ausreichen? Putin hat mit seinem militärischen Eingreifen in der Ost­ukraine und der Annexion der Krim die europäische Friedensordnung heftigen Schockwellen ausgesetzt.

Die deutsche Außenpolitik ist nicht allein. Mit dem selbstbewussten Emmanuel Macron, Frankreichs neuem Präsidenten, hat sie einen verlässlichen Partner, der gewillt ist, die EU zu modernisieren, zu stärken und Bedrohungsszenarien unter Einbeziehung der UN und der Nato entgegenzutreten. Der im Unheil deutscher Geschichte entstandene Pazifismus ist sinnvoll. Allerdings darf er nicht zum eigenen Sicherheitsrisiko werden. Es geht nicht um eine Militarisierung der Außenpolitik, sondern um aufgeklärtes, machtstrategisches Denken im Sinne einer wehrhaften Demokratie und ein verstärktes internationales Engagement. Die deutsche Außenpolitik wird nicht umhinkommen, sich der vielfach eingeforderten Verantwortung in einer immer dynamischer und heikler werdenden internationalen Ordnung zu stellen. Ingo Petz

 

Europa 

Jean-Claude Juncker und Emmanuel Macron sind schon ganz ungeduldig. Der Chef der EU-Kommission und der französische Staatspräsident können es kaum erwarten, ihre Reformideen mit der nächsten Bundesregierung zu diskutieren. 
Wie soll die EU künftig aussehen? Junckers fünf Szenarien für die EU-Reform reichen vom Rückbau der Union zu einer reinen Freihandelszone bis hin zum Ausbau zum Superstaat. Die größten Chancen dürfte jedoch das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten haben, das Kanzlerin Angela Merkel bereits auf den Weg gebracht hat. Vor allem in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung wollen Deutschland und Frankreich vorangehen. In der Flüchtlingspolitik hingegen zeichnen sich schon jetzt neue Spannungen ab. Von der Frage, ob es gelingt, hier eine gemeinsame Linie zu finden, könnte die Zukunft der EU letztlich mehr abhängen als von Junckers Visionen.

Macron wartet mit einem anderen schwierigen Dossier auf: der Reform der Eurozone. Dabei geht es um so knifflige Fragen wie die Schaffung eines eigenen Eurobudgets, die Einsetzung eines Eurofinanzministers und dessen Kontrolle durch ein Europarlament. Auch gemeinsame Schuldtitel stehen auf der französischen Agenda – allerdings zur Finanzierung neuer Projekte, nicht zur Begleichung alter Schulden. Die Bundesregierung stand diesen Ideen bisher reserviert bis ablehnend gegenüber. Aus Berlin kommt der Vorschlag, einen Europäischen Währungsfonds zu gründen, der für mehr Disziplin in der Eurozone sorgen soll.
Ein weiteres Thema ist der britische EU-Austritt, der Brexit. Bis Ende März 2019 haben Großbritannien und die EU noch Zeit, einen gütlichen Scheidungsvertrag auszuhandeln. Allerdings sind sie jetzt schon im Verzug. Sollten sie sich nicht rechtzeitig einigen, droht eine neue Brexit-Krise – und möglicherweise eine Verlängerung der Verhandlungen. Dies würde aber auch die Europawahl im Mai oder Juni 2019 überschatten. Normalerweise soll diese Wahl ohne die Briten stattfinden – und mit einer runderneuerten Europäischen Union. Ob das klappt, ist ungewiss. Eric Bonse

 

Digitalisierung 

Wer in Estland sein Auto anmelden möchte, der braucht sich erst gar nicht vom Sofa zu erheben. Von der Bestellung bis zum Losfahren geht alles digital. Der deutsche Volkssport „Warten auf der Zulassungsstelle“ ist in Estland unbekannt. Wie ist es dazu gekommen? Mittels einer Reform von oben. Bereits 2000 hatte die Regierung landesweit flächendeckend Internet und ein E-Government-System aufgebaut. Alle Schulen wurden ans Netz gebracht. Seither haben die Bürger im Alltag gemerkt: Es funktioniert; es macht das Leben einfacher, schneller und billiger. 

Doch Deutschland hinkt digital hinterher. In Sachen digitaler Verwaltung liegt man hierzulande auf Platz 20 im Ranking der EU-Mitgliedstaaten. Und auch beim Thema Industrie 4.0 regiert hierzulande eher die Angst. Die Digitalisierung wird viele Jobs überflüssig machen. Doch warum wird dieser Fakt als Bedrohung und nicht als Handlungsaufforderung verstanden? Hier ist auch der Staat gefragt. Wie kann man den einst in der Industrialisierung entwickelten Sozialstaat umbauen, damit er auch in der Ära der Digitalisierung fundamentale ökonomische Unwägbarkeiten absichern kann? Sodass möglichst viele immer wieder und ein Leben lang die Option haben, an den Möglichkeiten der Digitalisierung teilzuhaben? Stattdessen dreht sich der Wahlkampf mal wieder um andere Themen, allen voran die Dauerbrenner Steuersenkungen (CDU) und mehr Sozialleistungen (SPD). Doch würde die Digitalisierung von oben vorangebracht, verlöre sie ihren diffusen Schrecken, und die Köpfe wären frei für konkrete Konzepte. Würde der Industrieriese Deutschland zum digitalen Vorreiter Estland aufschließen, ergäbe sich die Chance, die Digitalisierung zu gestalten, anstatt sich nur vor ihr zu fürchten. Und mehr Geld wäre dann auch noch da: Estland spart aufgrund der Digitalisierung in der Verwaltung und in der Privatwirtschaft pro Jahr 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland wären das 60 Milliarden Euro. Damit könnte man sogar das arme Berlin schuldenfrei machen. Constantin Wißmann

 

Rente 

Die Renten bleiben auch in der neuen Legislaturperiode eine Baustelle. Zu viele der 30 Millionen, die als Arbeitnehmer Rentenbeiträge zahlen, und auch der 20 Millionen Rentner sind derart verunsichert, als dass Regierung und Parlament die Ängste um die Alterssicherung ignorieren könnten. 

Tatsächlich reicht die gesetzliche Rente seit der einschneidenden Reform zu Beginn dieses Jahrtausends nicht mehr, um den Lebensstandard im Alter zu sichern. Auch spätere Korrekturen haben an diesem Tatbestand substanziell nichts geändert. Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass die gesetzliche Alterssicherung der Deutschen auch international kein wirklich gutes Bild abgibt. So bekommen die Alten hierzulande im Durchschnitt eine Rente, die nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen gerade die Hälfte ihres letzten Einkommens vor dem Ruhestand erreicht. Damit liegt sie deutlich unter dem Durchschnitt aller Industrieländer. 

Notwendig ist eine Reform der Reform. Sicherheit für das Alter bedeutet auch für die Jungen ein erhebliches Maß an Freiheit. Eher untauglich sind jedoch die Vorschläge zum Ausbau des sogenannten Drei-Säulen-Modells – die Ergänzung der gesetzlichen Renten durch Betriebsrenten und privates Sparen. Damit werden zwar die Kosten verlagert, aber sicherer wird die Vorsorge damit nicht. 

Das System der umlagefinanzierten Rente – die Jungen zahlen die Renten für die Alten und erwerben damit eigene Ansprüche – ist flexibel genug, um auch die demografischen Probleme der Zukunft zu bewältigen. Dazu müssten die Stellschrauben – Beitragssätze und Rentenniveau, die Dauer der Rentenzahlung und der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt – neu justiert werden. Und endlich sollte der Einstieg in die Bürgerversicherung vollzogen werden: eine harmonisierte Altersvorsorge für alle, einschließlich der Selbstständigen, Beamten und nicht zuletzt der Politiker, in der ungerechtfertigte Privilegien keinen Platz mehr haben. Ein System wird umso sicherer, je breiter das Risiko gestreut wird. Wilfried Herz

 

Verkehr

Der Dieselskandal hat der jetzigen wie der kommenden Bundesregierung zwei Probleme beschert. Eines muss sofort gelöst werden. Das andere duldet keinen Aufschub. Die Besitzer von 15 Millionen Diesel-PKW in Deutschland wollen so schnell wie möglich wissen, ob sie ihre Fahrzeuge weiter nutzen dürfen. Sie fragen, ob sie den Schaden selbst tragen müssen, ob die Hersteller in die Pflicht genommen werden oder ob der Staat einspringt.

Das zweite Problem ist kniffliger. Die Diesel-Betrugsaffäre macht deutlich, dass die Autoindustrie und die Mobilität der Menschen vor einem technologischen Großumbruch stehen. Das Elektroauto braucht weniger Arbeitsplätze als die bisherigen Fahrzeuge, und wo moderne Mobilitäts- und Carsharing-Systeme zum Tragen kommen, werden weniger Autos gebraucht. Keine guten Aussichten für die wichtigste deutsche Industrie, in der 300 000 Arbeitsplätze direkt vom Auto abhängen. Die Lösung darf nicht heißen, den Verbrennungsmotor mit politischen Hilfen zu schützen. Das Ende des Verbrenners muss beschleunigt werden. Politische Vorgaben für den Kohlendioxidausstoß der Autos, wie sie seit Herbst wieder in Brüssel diskutiert werden, müssen so streng sein, dass es für die Autoindustrie einen Anreiz gibt, klimafreundliche Alternativen zu suchen. Wo Autos elektrisch fahren sollen, muss der Strom für diese Fahrzeuge klimaneutral werden. Davon ist Deutschland, wo nur ein Drittel der Elek­trizität aus regenerativer Energie kommt, weit entfernt. Die Stromnetze – in den Städten zum großen Teil Sache der Stadtwerke – reichen nicht aus, um Millionen von E-Autos nachts aufzutanken. Es muss ein bundesweites Netz von Ladestationen mit vereinheitlichten Abrechnungssystemen an den Autobahnen geben. 

Am wichtigsten aber ist: gute Förderung von Technologien durch steuerliche Erleichterungen für Forschung und Entwicklung. Wo eine Industrie wegbricht, müssen neue entstehen. Menschen, die in der bisherigen Autoindustrie ihre Arbeit verlieren werden, müssen so ausgebildet sein, dass sie in anderen Branchen wieder Anschluss finden. Karl-Heinz Büschemann

 

Einwanderung

Einwanderung und Migration werden zu den großen politischen Themen der kommenden Legislaturperiode gehören. Das europäische Chaos der vergangenen Jahre führt nur zu Verdruss und bedroht die Existenz der Europäischen Union. Völlig klar ist, dass endlich eine tragfähige europäische Lösung erarbeitet werden muss, bei der die EU-Länder nicht versuchen, sich ständig gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. 

Populär bei allen deutschen Parteien ist die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz, auch wenn es die Union mit Rücksicht auf den konservativen Partei­flügel nicht so nennt. Doch wer Einwanderungsgesetz sagt, wer die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt regulieren will, mit festen Quoten und mit transparenten Verfahren, der muss auch seine Außengrenzen schützen und die illegale Einwanderung, soweit es geht, unterbinden. Arbeits- und Armutsmigranten müssen wissen, dass das Asylrecht kein Schlupfloch nach Europa mehr ist. Und das heißt: Asylverfahren müssen direkt an den europäischen Außengrenzen durchgeführt werden – fair, aber zügig. Wer Anspruch auf politisches Asyl hat, darf einreisen und sich überall in Europa niederlassen. Für Bürgerkriegsflüchtlinge gibt es bestimmte Kontingente. Verteilungsquoten innerhalb Europas nützen allerdings wenig, weil die Migranten eben nicht nach Kroatien, Polen oder Ungarn wollen, sondern nach Frankreich, Schweden oder eben Deutschland.

Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, wird unmittelbar zurückgeschickt. 
Neben der Steuerung der Migration und ihrer strikten Begrenzung wäre die konsequente Integration dritter Pfeiler einer europäischen Lösung – und zwar ökonomisch ebenso wie kulturell. Im Übrigen gehört zu einer realistischen Einwanderungs- und Migrationspolitik auch eine Obergrenze. Die muss nicht zwangsläufig bei 200 000 liegen. Für Europa kann sie deutlich höher sein und flexibel angepasst werden. Aber wer behauptet, Migration ohne Obergrenze steuern zu können, macht sich selbst und seinen Wählern etwas vor. Christoph Seils 

 

Entwicklungspolitik 

Brunnen bohren, Ackerbau optimieren, Schulen bauen. So sah Entwicklungshilfe in Afrika lange aus. Viele Jahrzehnte und viele Hunderte Milliarden später ist der Kontinent mit seinen 54 Staaten, in denen mehr als 1,2 Milliarden Menschen leben, immer noch das Problemkind der Welt. Zwar verzeichnet die afrikanische Wirtschaft seit der Jahrtausendwende Wachstumsraten von bis zu 5 Prozent im Jahr, was in manchen Staaten wie dem Senegal eine besser verdienende Mittelschicht hervorgebracht hat. Aber den Volkswirtschaften gelingt es nicht, die rapide steigende Bevölkerung in Lohn und Brot zu bringen, so vor allem die jungen Leute. Bis 2050 wird sich die Bevölkerungszahl voraussichtlich verdoppeln, 2,5 Milliarden Menschen werden dann in Afrika leben. 

Für Europa – und damit auch für Deutschland – sind das hinsichtlich künftiger Migrationsszenarien alarmierende Zahlen, die Angela Merkel dazu veranlasst hatten, Afrika zum Schwerpunkt des G-20-Treffens in Hamburg zu machen. Schon früher in diesem Jahr hatte Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit einem Marshallplan für Afrika die Eckpfeiler einer neuen Entwicklungspolitik umrissen. Er sieht unter anderem vor, Staaten, die sich hinsichtlich von strukturellen Fortschritten bei Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit hervortun, entsprechend stärker mit Finanzmitteln unter die Arme zu greifen.

„All diese Initiativen gehen grundsätzlich in eine richtige Richtung“, sagt Christine Hackenesch vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). „Künftig muss aber noch viel mehr in den sozioökonomischen Strukturwandel und in die Förderung von demokratischer Regierungsführung investiert werden, um langfristige Erfolge bei den Transformationsprozessen erzielen zu können.“ Mit anderen Worten: Wenn Rechtsstaatlichkeit und Regierungsführung funktionieren, kommen – so die Hoffnung – auch die internationalen Investoren. Die brauchen viele afrikanische Staaten dringender denn je, um die benötigten Jobs in der Produktions- oder Dienstleistungsindustrie schaffen zu können. Ingo Petz

 

Verteidigung

Zwei große Aufgaben werden die verteidigungspolitische Agenda der nächsten Wahlperiode bestimmen: eine bessere Ausstattung der Bundeswehr und die europäische Verteidigungsunion. Der erste Punkt betrifft Personal wie Material gleichermaßen. Egal, wer das Land während der nächsten vier Jahre regiert: Mit der einstigen Mangelwirtschaft, in der kaum noch Ersatzteile oder Munition angeschafft wurden, wird Schluss sein müssen.

Die neuen geopolitischen Herausforderungen setzen der noch unter Verteidigungsminister Thomas de Maizière gepflegten Vorstellung ein Ende, wonach eine zu 70 Prozent ausgestattete Bundeswehr ausreichen würde, um voll leistungsfähig zu sein. Inzwischen heißt das Ziel „strukturgerechte Vollausstattung“, was Investitionen in Höhe von schätzungsweise drei Milliarden Euro erfordert. Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt müsste demnach von derzeit 1,2 Prozent auf 1,5 Prozent steigen. Das viel beschworene Zwei-Prozent-Ziel hingegen halten fast alle Experten für illusorisch, weil es für die Verwendung derart hoher Mittel keinen vernünftigen Plan gibt. Im Prinzip beschlossene Sache hingegen ist die personelle Aufstockung der Bundeswehr von derzeit 185 000 auf 200 000 Soldaten innerhalb der nächsten Wahlperiode.

Weil „die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten“, nach den Worten der Bundeskanzlerin „ein Stück vorbei“ sind, ist eine bessere Zusammenarbeit der EU-Länder in Sachen Verteidigung das Gebot der Stunde. Das Ziel einer europäischen Verteidigungsunion, im Fachjargon „Permanent Structured Cooperation“, wird für die nächsten vier Jahre prägend sein. Konkret läuft das auf eine europäische Armee hinaus, zumindest auf eine deutlich effektivere Kooperation der nationalen Wehrkräfte. Kollektive Verteidigung bleibt Aufgabe der Nato, aber wenn es um Interventionen geht, die im europäischen Interesse sind, sollen diese neuen Strukturen zum Tragen kommen. Insbesondere Frankreich und Deutschland werden sich da in den nächsten Jahren als Schrittmacher bewähren müssen. Alexander Marguier

 

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