AfD im Bundestag - Politik im Widerspruch

Seit sechs Monaten sitzt Joana Cotar für die AfD im Bundestag. Sie hält stolze Reden, feiert die provokanten Auftritte der neuen Fraktion und windet sich ob der Richtungskämpfe in der Partei

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Seit Joana Cotar zum Bundestag gehört, steht sie im Rampenlicht. Die dunklen Seiten der AfD scheint sie nicht zu sehen / Jörg Brüggemann
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Lena Guntenhöner ist freie Journalistin in Berlin.

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Die rechte Schulter nach vorne gedreht, ein Bein eingeknickt, den Kopf leicht schräg, so posiert Joana Cotar hoch oben über dem Plenarsaal des Bundestags für die Kamera. Sie brauche inzwischen Autogrammkarten, sagt die AfD-Bundestags­abgeordnete stolz. Außerdem wollen sie gleich noch ein Video für Facebook zum Thema Dieselfahrverbote drehen. Die 44-jährige Germanistin und Politologin hat längst verstanden: Bilder machen Politik. Und sie weiß, welche Knöpfe sie drücken muss, welche Symbole sie lieber meidet. Als sie ihre Hände zur Merkel-Raute formt, fällt ihr selbst lachend auf, „dass das nicht gut ankäme vor AfDlern“. Was für Merkel der Hosenanzug ist, ist für Cotar die Kombination aus schwarzer Hose, weißem T-Shirt, schwarzem Blazer und schwarzen Pumps.

Zur AfD gehörte Joana Cotar von Beginn an. Früher einmal sei sie CDU-Mitglied gewesen, erzählt sie, doch irgendwann hätten diese Partei und auch die anderen ihr nichts mehr geboten. Als sie dann im Februar 2013 von der Gründung der AfD erfahren habe, sei sie noch am gleichen Tag eingetreten.

Die Häutungen der AfD

Die selbstständige Eventmanagerin baute die AfD Hessen mit auf, zuerst als Kreissprecherin, dann als Sprecherin des Landesverbands. Seit 2016 sitzt sie im Kreistag von Gießen. Am 24. September vergangenen Jahres zog sie über die hessische Landesliste als eine von 94 AfD-Abgeordneten in den Bundestag ein. Zwar bemüht sich Cotar selbst sehr um einen gemäßigten Ton, in der Sache jedoch vertritt sie stramm die Parteilinie: Zuwanderung stoppen, zurück zum Europa der Vaterländer, gegen die schwarz-rot-grüne Meinungsdiktatur.

Das Fotoshooting für die Autogrammkarten findet in der Bibliothek
des Bundestags statt

Es war eine andere Partei, in die Joana Cotar vor fünf Jahren eingetreten ist. Eurokritisch war die AfD, eher rechts, aber professoral, bieder und bürgerlich. Inzwischen ist die Partei sehr viel radikaler geworden, provokativ, populistisch und antibürgerlich – die Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik war das einzige Thema, mit dem sie im Bundestagswahlkampf ihre Wähler mobilisieren konnte. Die beiden Häutungen der AfD, die mit dem Abgang der Parteichefs Bernd Lucke und Frauke Petry vollzogen wurden, hat Cotar mitgemacht. Ihre Mitgliedschaft in der Nichts-ist-alternativ­los-Partei hält sie auch weiterhin für „alternativlos“. Die vielen Widersprüche, die die AfD in sich vereint, die kleinen und auch die großen, scheinen sie nicht zu stören. Der Erfolg heiligt die Mittel.

Der Einzug der AfD in den Bundestag markiert eine Zäsur. Ob es sich bei ihr um eine normale Partei handelt oder nicht, darüber rätseln Politik, Medien und Gesellschaft allerdings noch. Sie diskutieren über den richtigen Umgang mit den antidemokratischen Provokationen, den rassistischen und islamfeindlichen Sprüchen aus den Reihen der AfD, den Attacken auf die etablierten Parteien und den falschen Versprechen an die Wähler. Hitziger geht es im Bundestag in jedem Fall zu.

Als Cotar beim Fotoshooting ihre Hände zur Merkel-Raute formt, erschrickt sie

Zwölf Wochen nach der Bundestagswahl ist vieles in der Fraktion noch provisorisch. Joana Cotar teilt sich ein vorläufiges Büro mit ihrem Fraktionskollegen Uwe Schulz, der wie sie aus Hessen kommt und von einem Wahlkampfplakat an der Wand herablächelt. Im Eingang stehen Koffer und Reisetaschen. An zwei Schreibtischen arbeiten sie hier zu sechst. Die Jamaika-Sondierungen sind geplatzt, ob es erneut eine Große Koalition geben wird, steht Mitte Dezember noch in den Sternen. Cotar hat gerade ihre erste Rede im Bundestag gehalten, gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das sie ein „unsägliches Zensurgesetz“ nennt.

AfD profitiert von Facebook wie keine andere Partei

Als eine ihrer ersten Bundestagsinitiativen hat die AfD dessen Aufhebung beantragt. Aufregend sei ihre Jungfernrede gewesen, „aber zwischendrin hat es dann angefangen, richtig Spaß zu machen“, sagt sie. Für ihren Vorwurf, die etablierten Parteien hätten „die Abschaffung der Meinungsfreiheit in den sozialen Netzwerken“ beschlossen, erntet sie missbilligende Zwischenrufe aus dem Plenum und ein müdes Lächeln auf der Regierungsbank. Von ihrer Fraktion gibt es Standing Ovations.

Das Netz-DG, das auch außerhalb des AfD-Kosmos kontrovers diskutiert wird, war schon im Wahlkampf ihr Thema. Das liegt nahe, denn Joana Cotar war Facebook-Administratorin der AfD Hessen und seit 2016 auch der Bundes-AfD. Natürlich sei sie bei Facebook mit Hass konfrontiert gewesen, räumt sie ein, aber es gebe eine Netiquette, die auch veröffentlicht sei. „Und wenn da was nicht passt, dann wird gelöscht, klar.“ Ein Blick auf die AfD-Facebook-Seite verrät allerdings, dass eine solche Netiquette nicht existiert.

Anfang des Jahres kann Joana Cotar endlich ihr Büro im Bundestag beziehen.
Das Türschild ist auch fertig

Im Internet ist die AfD omnipräsent, keine andere Partei kann in den sozialen Medien da mithalten. Auf 394 000 Gefällt-mir-Angaben kommt sie bei Facebook, das sind mehr als SPD und CDU zusammen haben. Und auf 110 000 Follower bei Twitter. In zahlreichen digitalen Kanälen und Online-Foren hat sie es geschafft, eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Hier kann die AfD ihre Wähler mit emotionalen Botschaften direkt ansprechen und Menschen mobilisieren, die die klassischen Medien schon lange nicht mehr erreichen. Cotar hat das Potenzial von Facebook und Twitter für die AfD früh erkannt. Und sie weiß das Internet auch für sich persönlich zu nutzen. Jeden Tag veröffentlicht sie mehrere schmissige Posts und steigert so die Zahl ihrer Freunde und Follower.

Öffentlichkeitsarbeit ist das eine, konkrete politische Arbeit das andere. Nach dem Einzug in den Bundestag musste sich die AfD dort in der praktischen Politik beweisen. 92 Abgeordnete gehören nach dem Weggang von Frauke Petry und Mario Mieruch noch zur Fraktion. Die AfD stellt die Vorsitzenden Stephan Brandner im Rechtsausschuss, Sebastian Münzenmaier im Tourismusausschuss und, als stärkste Oppositionspartei, Peter Boehringer im Haushaltsausschuss. Nur ihr Posten im Bundestagsvizepräsidium bleibt weiter unbesetzt. Die Fraktion hält an ihrem Kandidaten Albrecht Glaser fest, obwohl er in drei Wahlgängen durchgefallen ist. Die anderen Bundestagsfraktionen werfen ihm vor, er wolle nicht zwischen Muslimen und Islamisten unterscheiden. Nach den ersten 100 Tagen im Bundestag präsentiert der Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann stolz die „Leistungsbilanz“: drei Gesetzesentwürfe, 17 Anträge, 52 kleine parlamentarische Anfragen, zwei aktuelle Stunden. Will die AfD-Fraktion es mit den etablierten Oppositionsparteien in Sachen parlamentarischem Fleiß aufnehmen, muss sie aber noch deutlich zulegen. Linke und Grüne waren im selben Zeitraum deutlich aktiver.

Anfängerfehler

Zur Wahrheit gehört auch, dass die AfD immer noch viele Fehler macht. So stimmte ausgerechnet Baumann „aus Versehen“ für den Familiennachzug von Flüchtlingen. Und Cotars Anfrage an die Bundesregierung zum Netz-DG war so formuliert, dass diese mit einem einfachen Ja habe beantwortet werden können, erzählt sie und lacht. Gerade am Anfang sei es ein bisschen so gewesen, „als würde man bei einem Großkonzern anfangen zu arbeiten, und dann legt man los ohne job description, ohne Ahnung, was man zu tun und zu lassen hat“. Englische Formulierungen mischt Cotar oft in ihre Sätze, auch wenn die AfD sich sonst gerne darüber aufregt, dass Anglizismen die deutsche Sprache gefährden. Für die vielen Fehler macht die Fraktion das „Ad-hoc-Parlament“ verantwortlich, in dem Anträge von mehreren Hundert Seiten, über die dann am nächsten Tag abgestimmt werden müsse, erst abends zuvor verschickt würden. In diesem konkreten Fall sei das allerdings nicht so gewesen, stellte Britta Haßelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, klar.

Mitte Dezember kritisierte der AfD-Abgeordnete Stefan Keuter in seiner Rede die automatische Diätenerhöhung scharf. Die Abgeordneten der anderen Parteien stellte er als Günstlinge dar, die nicht zum Wohle des deutschen Volkes die Geschicke des Landes lenkten, sondern sich als Volksvertreter ein „süßes Leben“ machten.

Haßelmann wiederum verlor bei aller Empörung über das Gesagte nicht die Fakten aus dem Blick. „Am 13. Oktober ist im Vorältestenrat zum ersten Mal darüber gesprochen worden, dass der automatische Mechanismus zur Anpassung der Diäten laut Abgeordnetengesetz verlängert werden muss – kein Widerspruch, keine Wortmeldung, kein Wortbeitrag der AfD. Am 11. Dezember in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer wieder kein Widerspruch, keine inhaltliche Anmerkung!“ Zuletzt habe sie von Journalisten gehört, dass die AfD sich auch noch darum habe kümmern müssen, dass die Sache im Plenum überhaupt zur Sprache kommt. „Was für ein Blödsinn, die haben noch nicht einmal einen Antrag auf Aussprache gestellt. Der kam von der CDU/CSU. Wer meint, uns hier im Parlament vorführen zu können, der muss früher aufstehen.“

Trotz allem gleichauf mit der SPD

Das tun sie in der AfD tatsächlich. Schon vor Beginn der Plenumssitzungen machten Abgeordnete Fotos von den leeren Sitzen der anderen Parteien und posteten sie später mit hämischen Kommentaren versehen bei Twitter. Die eigene Fraktion wollte immer möglichst vollzählig im Parlament erscheinen, um die „Demokratie zu stärken“. Mittlerweile lichten sich die Reihen dann doch etwas, und auch Cotar räumt ein, dass ihre Fraktion die vollständige Präsenz bei allen Bundestagssitzungen nicht ewig durchhalten könne. Der Bundestag sei ein Arbeitsparlament und „keine Bühne für Show-Veranstaltungen“, die Arbeit finde nicht allein im Plenum statt, sagt auch Britta Haßelmann. „Aber offenbar hat die AfD das nicht verstanden, oder sie will es nicht verstehen.“

Mit ihrem Büro ist Joana Cotar nicht zufrieden, weil es zu einem Innenhof geht und keine Frischluft bietet

Ein paar Wochen später wusste die AfD-Fraktion dann schon deutlich besser, wie es im Bundestag so läuft, und griff beherzt in die Kiste der parlamentarischen Geschäftsordnungstricks: Als ihr Kandidat Roman Reusch nicht in das Parlamentarische Kontroll­gremium gewählt wurde, provozierte die Fraktion noch in derselben Bundestagssitzung am Abend einen Hammelsprung. Damit wollte sie zeigen, dass zu wenig Abgeordnete anwesend und das Parlament somit nicht beschlussfähig sei. Die Sitzung wurde vorzeitig beendet; der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland sprach von einer „Revanche“ für die vorherige Ablehnung. Im zweiten Wahlgang wurde Reusch dann gewählt.

Zu schaden scheint all das der AfD nicht. Umfragen sehen die Partei momentan gleichauf mit der SPD. Und auch Cotar blickt optimistisch in die Zukunft, von einem Rechtsdrall ihrer Partei will sie nichts wissen. Als der Vorsitzende der AfD Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, Mitte Februar in seiner Rede zum politischen Aschermittwoch Türken als „Kameltreiber“ und „vaterlandsloses Gesindel“ beschimpft und sogar einen Hitlergruß andeutete, reichte es ihr dann aber doch. „Mit zwei Sätzen reißen solche Menschen die monatelange Arbeit der Basismitglieder vor Ort ein.“ Deshalb habe sie dem Bundesvorstand eine Mail geschrieben, in der sie Ordnungsmaßnahmen und eine Ämtersperre für Poggenburg forderte.

Einfache Schmalzstullen gibt es bei der AfD-Veranstaltung in Kaufungen – als Beleg dafür, wie sparsam die Partei ist

Ein Parteiausschluss sei nicht so einfach, sagt sie, das sehe man ja an der SPD und Sebastian Edathy. Von innerparteilichen Sanktionen war zunächst nichts zu hören, im Gegenteil. Mit der von ihm geforderten Aufhebung des Kooperationsverbots mit Pegida konnte Poggenburg einen weiteren Sieg für sich verbuchen. Als seine Parlamentskollegen im Magdeburger Landtag ihn zum Rückzug zwingen, meldet sich Cotar doch noch mal zu Wort, spricht von „guten Nachrichten“. Der Umgang mit dem Rechtsaußen zeigt ein grundsätzliches Dilemma der AfD: Mit dem Mantra vom innerparteilichen Meinungspluralismus, wonach jeder alles sagen darf, hat sich die Partei selbst der Möglichkeiten beraubt, gegen solche Provokationen konsequent vorzugehen.

Cotars eigener Migrationshintergrund

Dass es die Mehrheit der AfD ist, die so denkt wie sie, da ist sich Cotar immer noch sicher. „Wir machen doch genauso für die gut integrierten Türken in Deutschland Politik“, sagt sie. Unter „integriert“ versteht sie „jemanden, der gerne hier lebt, der Deutschland als seine Heimat betrachtet, der normal arbeiten geht – so jemand wie ich, ich bin ja auch nicht hier geboren“.

Ein Aufpasser mit Binde und AfD-Uhr sorgt bei der Veranstaltung in Kaufungen
für Recht und Ordnung

Fünf Jahre war Joana Cotar alt, als sie mit ihrer Mutter, einer Siebenbürger Sächsin, von Rumänien nach Deutschland zog. Der Vater und der Bruder kamen ein Jahr später nach. Ihre Familie sei unter dem sozialistischen Ceau­sescu-Regime verfolgt worden, erzählt sie, „mit Folter und allem, was dazugehört“. Ihr Vater habe wegen Volksverhetzung im Gefängnis gesessen. In Deutschland wurde ihnen aufgrund der Herkunft zwar gleich der deutsche Pass ausgestellt, einfach war es trotzdem nicht. Die rumänischen Studienabschlüsse der Eltern wurden nicht anerkannt, der Vater habe dann eine Möbelfirma eröffnet, die Mutter als Hilfslehrerin gearbeitet. Noch heute hört man Cotars rollendes R heraus, das typisch für Siebenbürger Sachsen ist. Geheiratet hat sie später einen Schweizer Aktienhändler.

Wie kann es sein, dass jemand mit einer Migrationsbiografie heute gegen Zuwanderung und Familiennachzug ist? Man müsse da unterscheiden zwischen denen, die wirklich verfolgt werden, und denen, die sich ein wirtschaftlich besseres Leben erhofften, sagt Cotar. Aber diese Entscheidung solle nicht in Deutschland, sondern in Asylzentren vor Ort, zum Beispiel in Afrika gefällt werden, unter der Kontrolle der EU oder der Vereinten Nationen. Das klingt zwar nicht nach „weniger EU“ und deckt sich mit Ideen, die auch in anderen Parteien und in Brüssel diskutiert werden. Cotar jedoch muss auch die Hardliner ihrer Partei zufriedenstellen und erklärt anschließend: „Ganz ehrlich, mein Vater oder mein Bruder, die würden ihre Familien im Leben nicht im Kriegsgebiet im Stich lassen. Ich habe null Verständnis für die jungen Männer, die hierherkommen.“ Im Wahlkampf hatte sie zudem gefordert, das individuelle Grundrecht auf Asyl abzuschaffen, und auch schon mal ganz pauschal verkündet: „Asylbewerber sind krimineller als Deutsche.“

Als Anfang März einige AfD-Landtags- und Bundestagsabgeordnete ins vermeintlich friedliche Syrien reisen, um wenige Kilometer von der Kriegsfront entfernt ihre Forderung nach einer Rückkehr der Flüchtlinge zu untermauern, windet sich Cotar wieder. Sie will sich erst äußern, wenn sie mit den Partei­freunden selbst geredet hat.

Schlammschlachten in der AfD

Matthias Körner, der SPD-Kandidat im Bundestagswahlkreis Gießen/Alsfeld, kennt Cotar sowohl aus dem Kreistag als auch aus dem Wahlkampf. Er hat beobachtet, wie die AfD-Frau agiert. Bei einer Podiumsdiskussion in einem Gießener Gymnasium, also vor traditionell eher linkem Publikum, fiel ihm auf, „dass sie ein feines Gespür für den Saal hat“. Da habe sich Cotar libertärer als die AfD-Programmatik gegeben, davon gesprochen, man müsse „Fluchtursachen bekämpfen“, wo doch die AfD die Entwicklungszusammenarbeit gar nicht verstärken wolle.

Das Publikum, vor dem Joana Cotar aus
Berlin berichtet, ist eher alt und bürgerlich

Kaufungen bei Kassel an einem Freitagabend im Februar, eine Gemeinde, in der auch Fremde nachts auf der Straße gegrüßt werden. Mitten im Ort steht zwischen Kneipen und Fachwerkhäusern ein Gefängnis, eine legendäre Kommune gibt es dort ebenfalls. Cotar und ihr Kollege Uwe Schulz berichten vor AfD-Mitgliedern und Sympathisanten darüber, wie es so läuft in Berlin. Vor der Halle stehen etwa 50 Demonstranten, die von der Linken-Jugendorganisation „Solid“ zum Protest aufgerufen worden waren. Die Polizei ist mit zwölf Einsatzwagen und einer Hundestaffel da. Drinnen sitzen etwa 50 Zuhörer, überwiegend ältere Männer in Hemden oder Wollpullovern. Zu essen gibt es Schnittchen und einfache Schmalzstullen. Das bescheidene kulinarische Angebot soll als Beleg dienen für eine, wie Cotar und Schulz beteuern, „Falschmeldung“ der Bild-Zeitung über horrende Cateringkosten in der AfD-Bundestagsfraktion.

Irgendwann komm Cotar an diesem Abend auf den Abgang von Ex-Parteichefin Frauke Petry zu sprechen. Der habe der Fraktion gutgetan, es gebe seitdem einen „ganz neuen Zusammenhalt“. Von Lagerkampf oder Personalquerelen berichtet sie nicht. So ganz friedlich geht es in der AfD-Fraktion wohl doch nicht zu. Zwischen Fraktionschefin Alice Weidel und dem Parlamentarischen Geschäftsführer Bernd Baumann soll es Streit geben, ebenso wie zwischen Weidel und dem Chef der AfD Thüringen, Björn Höcke. Und auch in den Landesverbänden Niedersachsen und Sachsen-Anhalt rumort es. Der Geschäftsführer der Bundestagsfraktion Hans-Joachim Berg ist infolge der Schnittchenaffäre, die wohl doch keine Erfindung der Bild-Zeitung war, zurückgetreten. Und der AfD-Abgeordnete Jens Maier hat, wie selbst Cotar bestätigt, seiner Fraktionskollegin Verena Hartmann im Bundestag zugerufen: „Wir machen dich fertig.“

Vor der Halle in Kaufungen demonstrieren
überwiegend junge Leute gegen die AfD

Dass es in der Politik nicht immer kuschelig zugeht, hat auch Cotar selbst erst lernen müssen. 2014 trat sie nach einem Streit mit dem hessischen Landesvorsitzenden Gunther Nickel aus dem AfD-Landesvorstand zurück. „Beim nächsten Parteitag durfte der Herr aber einpacken, und ich sitze noch hier“, sagt sie heute mit sichtlicher Genugtuung. Man müsse eben ein dickes Fell haben, was leider vielen Frauen nicht gegeben sei. Eine Quote hätten sie bei der AfD trotz eines Frauenanteils von knapp 11 Prozent in der Bundestagsfraktion aber nicht nötig.

All die Widersprüche und Paradoxien

Anfang März ist auch das neue Büro im Jakob-Kaiser-Haus endlich bezogen. Die erste Besucher­gruppe war bereits da, die erste Mitarbeiterin wurde schon wieder entlassen. Bald jedoch soll das Team in Berlin und Gießen vollzählig sein. Joana Cotar ist Mitglied im Ausschuss Digitale Agenda und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Jetzt, wo es endlich eine neue Regierung gibt, ist die Schonfrist für die AfD vorbei.

Bilder machen Politik, weiß die neue Abgeordnete. Also lässt sie sich von der Fotografin ins rechte Licht setzen

Eine Wohnung in Berlin hat Cotar immer noch nicht, und das wird auch so bleiben. Sie habe genug zu tun und keine Lust, ständig Absagen von potentiellen Vermietern zu bekommen, weil sie von der AfD sei. Stattdessen übernachtet sie im Hotel. Leisten kann sie sich das. Der neue Job bringt ein monatliches Bruttogehalt von 9500 Euro sowie eine steuerfreie Kostenpauschale von 4300 Euro ein, eine Bahncard 100 und kostenlose Lufthansa-Flüge innerhalb Deutschlands. So vehement die AfD die Verschwendungs- und Selbstbedienungsmentalität der anderen Parteien im Bundestag anklagt, so selbstverständlich nimmt sie viele Privilegien bereits in Anspruch. „So ein hauseigener Fahrdienst ist schon ganz angenehm“, findet Cotar inzwischen. Fast scheint es, als würden ihr die vielen Widersprüche und Paradoxien, in denen sich die AfD und auch sie selbst verstrickt haben, gar nicht mehr auffallen.

Wenn Joana Cotar an den Wochenenden zurück in ihre Heimat im hessischen Langgöns fährt und die große Politik hinter sich lässt, dann entspannt sie mit Serien wie „Star Trek“ oder mit Filmen, die sie alle im Originalton sieht. Einer ihrer liebsten ist „Wer die Nachtigall stört“, eine oscarprämierte Literaturverfilmung mit Gregory Peck aus dem Jahr 1962. Er prangert den Rassismus und die Vorverurteilung eines Schwarzen in einer amerikanischen Kleinstadt zur Zeit der Großen Depression in den USA an.

Fotos: Jörg Brüggemann

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.












 

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