Pro-russische Kundgebungen in Deutschland - Werden die 9.-Mai-Demos aus Moskau gesteuert?

Am Montag feiert Russland den Sieg über Nazi-Deutschland. Auch in Deutschland sind bundesweit 40 pro-russische Kundgebungen geplant. Interne Chats der Organisatoren legen nahe, dass sie ihre Anweisungen direkt aus der russischen Botschaft erhalten. Damit hängt offenbar auch das plötzliche Verschwinden der Autokorsos zusammen. Cicero liegen Sprachnachrichten aus einer geschlossenen Chatgruppe vor, die aufhorchen lassen.

Eine Teilnehmerin der Aktion „Unsterbliches Regiment“ legt im vergangenen Jahr Blumen am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park nieder / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sorgten pro-russische Autokorsos in deutschen Großstädten für Furore. Die Behörden reagierten mit strengen Auflagen, teils wurden sie sogar verboten. Bis der Spuk Ende April ein plötzliches Ende fand. Zufall oder Taktik? Und wer steckt dahinter?

Cicero hatte exklusive Einblicke in eine interne Chatgruppe der Organisatoren. Aus dort ausgetauschten Audionachrichten geht hervor, dass die pro-russischen Demonstrationen in Deutschland offenbar aus einem russischen Konsulat heraus gesteuert wurden. Die Autokorsos wurden demnach auf Anweisung aus einem russischen Konsulat eingestellt, um Großversammlungen zum „Tag des Sieges“ (9. Mai) ungestört vorbereiten zu können.  

„Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit dem Konsulat“

In einer Audionachricht vom 23. April ist ein Mann zu hören, der Russisch mit starkem deutschem Akzent spricht. Er klingt nervös, und sein Russisch ist mit Fehlern gespickt. Für die Adressaten hat er aber eine wichtige Nachricht. Hier die Übersetzung seiner Ansprache an die Mitglieder der geschlossenen Autokorso-Telegram-Gruppe: 

„Ich habe nicht gesagt, dass es in Berlin keine Parade geben wird. Das ist bei euch falsch angekommen. Wir haben das Autokorso in Berlin, in Dresden und in Hannover abgesagt. Für morgen, also Sonntag, war ein Autokorso (geplant). Mit dem Konsulat hatte ich heute Morgen ein Gespräch, wo die folgende Vermutung zur Sprache kam: Sie befürchten, dass die Autokorsos am 7. und 8. Mai verboten werden sollen.“ 

Und weiter: 

„Um ihnen keinen Vorwand dafür zu liefern, die ‚pro-russischen‘ und ‚kriegsbejahenden‘ Korsos zu verbieten, wurden wir gebeten, alle Autokorsos bis zum 7., 8. und 9. Mai abzusagen, damit bis dahin nichts geschieht. Damit der Feiertag nicht gestrichen wird. Ich hoffe, das alles richtig ausgedrückt zu haben. Also kommt gerne aus Köln oder aus anderen Städten her (nach Berlin). Bis jetzt ist noch alles in Ordnung. Deswegen haben wir die Autokorsos für morgen abgesagt – zunächst in Berlin, dann für die nächste Woche in Dresden und auch den morgigen Korso in Hamburg. Es heißt, in Bremen würden noch dreißig Autofahrer einen Korso veranstalten. Ich habe versucht, die Leute telefonisch zu erreichen, damit sie das Autokorso absagen und damit niemand bis zum 8. oder 9. Mai auf die Straße geht – bislang leider ohne Erfolg. Und damit wir keine Autokorsos, Märsche usw. auf eigene Faust veranstalten. Damit die Medien nicht wieder die Russophobie anheizen. Es soll nichts in die Richtung geschehen, was irgendwie den 8. oder 9. Mai gefährden könnte. Danach können wir weiter handeln, aber bis dahin müssen wir erst einmal alle stillhalten.“

Offenbar ging nach den Anweisungen alles sehr schnell: Nach Welt-Recherchen ist der für den 24. April geplante Autokorso in Berlin kurzfristig abgesagt worden. „Zu den Gründen der Absage äußerte sich die Polizei auf Nachfrage nicht“, so die Welt.

Ist Rolf H. der Mittelsmann?

Wer ist der Mann, dessen Stimme in der Audiodatei zu hören ist? Alles weist darauf hin, dass es sich um Rolf H. (Name geändert; d.R.) handeln könnte, der in mehreren Medien bereits als Organisator der pro-russischen Autokorsos aufgetreten war. In Interview mit ntv vom 6. April nennt er als Motiv der pro-russischen Demonstration, dass man gegen die „Diskriminierung der russischsprachigen Leute“ auf die Straße gehe – eine Formel, die sich quasi bei allen Organisatoren derartiger Demonstrationen findet. 

Oft verbieten sie den Demonstranten, mit der Presse zu reden – das dürfen nur die Organisatoren, die sich nach Welt-Recherchen vor allem aus pro-russisch eingestellten Deutschen rekrutieren. Die meisten der entsprechenden Vereine wurden erst nach der russischen Krim-Annexion im Jahr 2014 gegründet, so die Welt. Es stand von Anfang an der Verdacht im Raum, dass russische Generalkonsuln oder die russische Botschaft bei den pro-russischen Demonstrationen und Korsos im Hintergrund die Fäden ziehen – und die Tonspur ist ein starkes Indiz dafür, dass das der Fall ist. 

„Wir sind im Krieg“

Dass die Anweisungen von oben kommen, beweist ein weiterer Screenshot aus der Telegram-Gruppe, zu der nur ausgewählte Mitglieder Zugang haben. Darin sind sogenannte Georgsbänder zu sehen, die schon seit der Sowjetzeit für den Sieg über Nazi-Deutschland stehen. Inzwischen werden sie im Sinne eines großrussischen Nationalismus vereinnahmt – was die Bändchen in den Farben der russischen Nationalfahne daneben noch einmal belegen. In Großbuchstaben heißt es in der Nachricht vom 2. Mai an die Mitglieder der internen Gruppe:

„EIN GESCHENK DES GENERALKONSULATS FÜR ALLE GÄSTE ZUM TAG DES SIEGES“

„HERZLICH WILLKOMMEN, LIEBE FREUNDE“

Georgsbänder, Screenshot aus der Telegram-Gruppe
Textnachricht zu den Georgsbändern aus der gleichen Telegram-Gruppe

Ein User, der von sich behauptet, ein russischstämmiger Bundeswehroffizier zu sein, träumt von der Unterwanderung staatlicher Strukturen durch pro-russische Kräfte. Er schreibt: 

„Die deutsche Armee im Jahr 2022 besteht aus 180.000 Soldaten und Offizieren, von denen zwar etwa 40.000 Jungs Russisch mit (deutschem) Akzent sprechen, die aber bis auf die Knochen Schaschlik, Zadornov (ein russischer Komiker, Anm. d. Red.) und sowjetische und russische Filme lieben. Sie respektieren die Traditionen der russischen Kultur und Lebensweise, viele besuchen regelmäßig russisch-orthodoxe Kirchen in deutschen Städten wie Dresden, Berlin und Leipzig. Fast alle haben in der Bundeswehr und bei den Blauhelmen im Kosovo, in Afghanistan und in anderen Krisengebieten gedient. In Spezialeinheiten dienen ‚Johanesse‘ (Iwans), ‚Michaels‘ (Michails), ‚Alexe‘ (Alexejs und Alexanders) mit deutscher Staatsbürgerschaft. Oder auch solche, die russische oder andere postsowjetische Pässe haben und die in der französischen Fremdenlegion dienten. In den Reihen der Polizei gibt es etwa 50 Tausend solcher Männer und Frauen mit russischem Geist und russischer Moral. Sie werden von der deutschen Regierung nicht entlassen oder abgeschoben, weil sie Bürger der BRD sind. Die Politiker sind sich dessen wohl bewusst, sprechen aber nicht darüber.“

Ein anderer User wiederum sieht die hier lebenden Russen mit Deutschland im „Krieg“ – zu pro-ukrainischen Demonstrationen hierzulande schreibt er: 

„Es handelt sich nicht um eine Initiative irgendwelcher verrückter Flüchtlinge. All dies geschieht mit Unterstützung der staatlichen Strukturen. Wir haben es hier mit dem deutschen politischen Sektor zu tun. Und das sind nicht nur ein paar Idioten mit gelben und blauen Fahnen. Sie warten nur darauf, dass wir aggressiv werden, damit sie uns mit gutem Gewissen den Garaus machen können. Unterschätzt nicht, mit wem wir es wirklich zu tun haben. Freunde, macht euch klar: Wir befinden uns im Krieg.“

Es wäre einigermaßen lapidar, wenn es allein bei der ersten Tonspur und bei den Telegram-Nachrichten der User geblieben wäre. Aber es war auch eine weitere Tonspur in einer anderen Gruppe zu finden, die den Verdacht zusätzlich erhärtet: Sie weist direkt zur russischen Botschaft in Berlin und verrät einiges über die Organisationsstrukturen zu den 9.-Mai-Demonstrationen – deren Kopf der bereits erwähnte Rolf H. ist.

„Der Organisator aus Berlin hat gerade noch einmal mit der Botschaft Rücksprache genommen“

Auf der zweiten Tonspur, deren exaktes Aufnahmedatum leider nicht genau rekonstruiert werden kann, ist ein Mann zu hören, der fehlerfrei Russisch spricht und offenbar Anweisungen direkt aus Berlin erteilt. Hier seine Audionachricht als übersetztes Transkript: 

„Allen einen guten Morgen. Noch einmal eine kleine und kurze Nachricht: Der Organisator aus Berlin hat gerade noch einmal mit der Botschaft Rücksprache genommen. Das ‚Unsterbliche Regiment‘ und der Treptower Park – das sind zwei parallele Versammlungen. Deswegen ist die Mitteilung über das ‚Unsterbliche Regiment‘ zuerst rausgegangen. Und da müssen wir Wort für Wort die Regeln berücksichtigen. Was das Treffen im Treptower Park angeht: Offiziell – wie Sie richtig gesagt haben – entscheidet jeder für sich selbst. Und offiziell nimmt auch jeder die Verantwortung auf sich selbst. Man darf nur nicht das Georgsband in Form eines V- oder Z-Buchstabens binden. Alles andere bleibt weiterhin in Kraft.“

Diese Audionachricht deutet auf mehrere relevante Aspekte hin. Erstens: Dass die russische Botschaft offenbar sehr genau die strengen Auflagen des Senats zum 8. beziehungsweise 9. Mai beobachtet und dass sie penibel darauf achtet, dass die Demonstranten diese Auflagen auch einhalten. Und zweitens: Obwohl das „Unsterbliche Regiment“ und die Versammlung am Sowjetischen Ehrenmal, offiziell gesehen, zwei separate Veranstaltungen sind, haben sie ein und denselben Organisator, der „gerade noch einmal mit der Botschaft Rücksprache genommen hat“. Es kann sich beim „Organisator“ um niemand anderen handeln als Rolf H.

Selbstverständlich sind diese Veranstaltungen nicht im Namen der russischen Botschaft oder eines russischen Generalkonsulats angemeldet worden, sondern von Rolf H. als Privatperson. Deshalb heißt es auch in der Tonspur, dass offiziell „jeder die Verantwortung auf sich selbst“ nehmen würde, was die Einhaltung der Auflagen angeht. Hinter den Kulissen übt aber die russische Botschaft Druck auf die Demonstranten aus, damit sie den Behörden bloß keinen Vorwand liefern, gegen sie vorzugehen. Genau wie das russische Generalkonsulat in der vorigen Tonspur.

Was ist das „Unsterbliche Regiment“?

Es ist kein Zufall, dass hier ausgerechnet von dem „Unsterblichen Regiment“ die Rede ist. 2010 fand auf Initiative der damaligen Moskauer Vize-Bürgermeisterin Ljudmila Schwezowa die erste derartige Versammlung in Moskau statt, in der die Teilnehmer Porträts der Kriegsveteranen aus ihren Familien hochhalten.

Die morbide Ikonographie spricht spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 eine klare Sprache: Das „Unsterbliche Regiment“ der Kriegstage symbolisiert heute die Wehrfähigkeit Russlands, deren Kontinuität auf den Zweiten Weltkrieg zurückgeführt wird. Das postsowjetische Gedenken an den Verteidigungskrieg der Sowjetunion ab 1941 wird auf diese Weise exklusiv von Russland vereinnahmt – kein Wunder also, dass auch Putin immer wieder auf derartigen Demonstrationen zu sehen war, die prominent auf dem Roten Platz in Moskau vertreten sind.

Daraus wurde schnell eine „patriotische“ russlandweite Bewegung mit einer aggressiv-militaristischen Agenda, die seit 2015 im weltweiten Maßstab Demonstrationen organisiert. Unter anderem in Berlin, wo das „Unsterbliche Regiment“ für den 9. Mai dieses Jahres angemeldet wurde. Die Versammlung trägt den sperrigen Titel „Rotarmisten-Gedächtnis-Aufzug zum Gedenken an die gefallenen sowjetischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs“. Die vom Anmelder erwartete Teilnehmerzahl: etwa 1300 Menschen. Da die Anmeldung privat lief, ist der offizielle Anmelder nicht genau zu ermitteln – aber alle Indizien sprechen dafür, dass es sich um Rolf H. handeln muss. Der Kreis schließt sich.

Für den Treptower Park wiederum sind laut Senat mehrere Veranstaltungen angemeldet worden, von denen nicht klar ist, welche von ihnen in der Audiodatei genau gemeint ist. Vermutlich dürfte Rolf H. aber mit mehreren Veranstaltern in Kontakt sein, die darauf achtgeben, auf die Anweisungen der russischen Botschaft zu achten.

Im Fokus der Sicherheitsbehörden

Cicero fragte bei der Pressestelle des Bundesverfassungsschutzes nach, was ihm über die Verbindungen zwischen den Organisatoren der pro-russischen Demonstrationen und dem russischen Staat bekannt sei. Dort hält man sich aber zunächst – aus nachvollziehbaren Gründen – bedeckt. Die Antwort des Bundesverfassungsschutzes auf die Cicero-Anfrage lautet folgendermaßen: „Die Veranstaltungslage zum 9. Mai 2022 steht im besonderen Fokus der deutschen Sicherheitsbehörden. Derzeit sind deutschlandweit rund 40 Veranstaltungen angemeldet. Die Sicherheitsbehörden des Bundes stehen hierzu mit den Ländern in engem Austausch.“

Vermutlich werden nach dem 9. Mai weitere Details über die Organisationsstrukturen der pro-russischen Demonstrationen bekannt werden, die weitere Indizien für die die Verbindungen der Organisatoren zum russischen Staat liefern könnten.

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