70 Jahre Grundgesetz - Zeit für eine Riesenparty!

Im Mai hat das Grundgesetz 70-jähriges Jubiläum. Grund genug für eine bunte Feier mit gesundem Patriotismus, findet unser Gastautor Elio Adler. Die Werte des Grundgesetzes können ein emotionales Vakuum füllen und so ein verbindendes Gefühl aktivieren

Elio Adler wünscht sich einen gesunden Patriotismus wie bei Fußball-Weltmeisterschaft 2006 / picture alliance
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Autoreninfo

Elio Adler, 48, ist Gründer und Vorsitzender des Vereins „WerteInitiative – jüdisch-deutsche Positionen“, der sich als eine zivilgesellschaftliche Stimme jüdischer Deutscher versteht. Im Mai wurde er als „Botschafter für Demokratie und Toleranz“ vom gleichnamigen Bündnis ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Berlin. Foto: Privat

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Bitte, bitte keine Feierstunde! Wenn das Grundgesetz im Mai 2019 nun 70 Jahre alt wird, sollten wir das für bunte Feiern auf den Straßen, bürgernahe Events in Behörden und interessante Veranstaltungen in Schulen nutzen. Lasst uns eine Riesenparty anstatt einer Zeremonie im Bundestag mit Frack und Streichquintett veranstalten. Zeit für Inhalt, aber auch für Emotionen und gerne auch Pathos!

Viele Menschen erleben, dass Themen wie Sicherheit, Religion und Migration zu erheblichen Spannungen führen und drohen, unsere Gesellschaft zu spalten. Ohne die Bedeutung der Antworten auf diese Themen schmälern zu wollen, sollten wir unsere Aufmerksamkeit aber auch dahin lenken, was uns zusammenhält. Und das geht viel besser mit dem Herzen als mit dem Hirn. So, wie es in den Sommertagen der WM 2006 war, als sich sogar viele Fußball-Agnostiker dem Claim der Fußballweltmeisterschaft „Die Welt zu Gast bei Freunden“ angeschlossen haben. Denn „Freunde sein“ wollten wir schließlich irgendwie alle. Diese Möglichkeit haben wir 2019 wieder.

Verfassungspatriotismus? Nice try

Das Grundgesetz bietet eine geniale und zeitlose Basis für unser Zusammenleben, denn es ist in seinen Werten statisch, in derer aktuellen Anwendung jedoch anpassungsfähig. Es hilft ganz praktisch, wenn neue politische oder gesellschaftliche Fragestellungen aufkommen. An den sich daraus ergebenden Diskussionen sieht man wie relevant und prägend es für die Mentalität unserer Gesellschaft ist. Die kontinuierliche, tagesaktuelle Anwendung grundgesetzlicher Werte entwickelt die freiheitlich-demokratische Gesellschaftskultur stetig weiter und ermöglicht, dass in Deutschland die unterschiedlichsten Menschen ihre individuellen Lebensziele verfolgen können. Das Zusammenspiel dieser Gesellschaftskultur und des Rechtsstaates bietet dem Zusammenleben, zumindest theoretisch, einen sicheren Rahmen.

Und was tun wir? Wie verfallen reflexartig in historisch-moralische Panik, wenn wir positive Emotionen gegenüber unserer Form des gesellschaftlichen Miteinanders in uns entdecken. Lieber sublimieren wir die Antwort auf die Frage „Dürfen wir stolz auf unser Land sein?“ in blutarme Feierstunden, statt einen „gesunden“ Patriotismus zu leben. Gesund, weil er eben nicht mit kleinem, braunem Oberlippenbart und strammem Seitenscheitel daherkommt und weil er weder rassisch noch hybride-national konnotiert werden darf. Vielmehr brauchen wir einen Patriotismus, der auf dem, von zwischenmenschlichem Respekt und Offenheit geprägten, Wertekanon unseres Grundgesetzes beruht. Darauf könnten wir gemeinsam stolz sein. Dieses verbindende Gefühl kann jedoch regelmäßig nicht aktiviert werden. Das aus der Not des emotionalen Vakuums geborene Wort „Verfassungspatriotismus“ ist ein „nice try“, aber staubtrocken, unsexy, gefühlsbefreit und darum ungeeignet.

Emotionen zulassen, aber nicht missbrauchen

Wir sollten den Wert des Grundgesetzes mehr als nur rational kennen: wir sollten ihn fühlen! So hätten die unterschiedlichsten Extremisten, die versuchen, der Gesellschaft zuzusetzen, keine Chance. Und auch Politik(er)-Verdrossene, die sich von politischen Prozessen abgekoppelt oder ungehört fühlen, wären angesprochen: Sie fänden über den emotionalen Zugang wieder eine Einstiegsmöglichkeit in so etwas wie gesellschaftliche Teilhabe.

Ja, wir Deutschen haben aus gutem Grund Bauchschmerzen, wenn es um die Emotionalisierung einer gesellschaftspolitischen Ideologie geht. Zwei Weltkriege, die massenmörderische Nazizeit und auch der ebenfalls oft tödlich endende Gleichschaltungsversuch in der DDR warnen uns, wo Versuche des Staates hinführen können, die Emotionen der Bevölkerung zu beeinflussen. Dennoch dürfen wir kein emotionales Vakuum da belassen, wo eine ausgewogene, emotionale Kopplung an die Werte gemeinschaftlichen Zusammenlebens hingehört.

Gerade ich als Jude bin mir der Gratwanderung eines solchen Ansatzes bewusst. Aber auch gerade die meisten von uns Juden fühlen sich nur in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sicher und wissen: Ein solcher kann nur Bestand haben, wenn er emotional-positiv innerhalb seiner Bevölkerung gekoppelt ist und so täglich von der überwiegenden Mehrheit gelebt wird.

Keine Eintagsfliege, sondern ein Auftakt

Menschen möchten Emotionen. Die Glücksforschung hat gezeigt: Menschen möchten gemeinhin zu etwas Größerem gehören oder sogar dazu beitragen und Menschen möchten Gemeinsamkeit fühlen. Deswegen ist es wichtig, bei der Orchestrierung solcher Feierlichkeiten, keine Angst vor „Pathos“ zu haben, sondern ihn als Türöffner zur Gefühlswelt der Rezipienten zu verstehen. Wenn die freiheitlich-demokratische Gesellschaft hier zu wenig anbietet, dann zeigten die letzten Jahre, dass ihre Feinde diesen Freiraum füllen.

Wünschenswert wären „Bürgerfeste der Demokratie“ in vielen deutschen Städten und Material-Sets für Schulen und Vereine. Die Bundesregierung ist gefragt, voran zu schreiten. Ferner sollten Persönlichkeiten mit ihren individuellen Erfolgsgeschichten, im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sicht- und hörbar gemacht werden. Bundesweite, thematisch passende Veranstaltungen von Behörden, Organisationen und Ministerien wären ebenfalls dazu geeignet, dieses besondere Jubiläum in die Mitte unserer Gesellschaft zu tragen. Eine Riesenparty anlässlich 70-Jahre Grundgesetz wäre damit nicht eine Eintagsfliege, sondern könnte der Auftakt zu viel mehr sein.

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