1.Mai-Demos in Kreuzberg - Sehnsucht nach der Krawallnacht

Hans-Georg Lindenau hat die berühmte Kreuzberger Krawallnacht 1987 organisiert. Inzwischen ist die Luft aus den 1.Mai-Demos heraus. Aber Lindenau verdient sein Geld noch immer mit Revolutionsbedarf. Zu Besuch bei einem Unbeirrbaren

Revolutionsbedarf-to-go: Hans-Georg Lindenau hat ein Geschäft aus der Kreuzberger 1. Mai-Demo gemacht/ picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Der erste Kunde kommt vor zehn. Es ist ein dicker Junge mit einer Brille in einem freundlichen Gesicht. Seine Füße stecken in Turnschuhen, groß wie Elbkähnen. Ein Windbreaker in XXL soll es sein. In schwarz, ist doch klar. Was für eine Frage.

Das ist schließlich nicht irgendein Ort, das ist Kreuzberg. Der Mann rüstet sich für eine Demo aus. Es ist nicht irgendeine Demo. Es ist die Revolutionäre 1. Mai-Demo. Für Linksextremisten ist das wie Weihnachten. Und hier, im Laden für „Gemischtwaren und Revolutionsbedarf“, findet der Junge alles, was er dafür braucht. Pfefferspray, Sturmmasken, Fuck-Nazis-Aufkleber, Handschuhe. Die sind ganz wichtig. „Falls du heiße Sachen anfassen musst“, sagt Hans-Georg Lindenau augenzwinkernd. „Und du willst ja auch nicht deine DNA weitergeben.“

Hans-Georg Lindenau, in Berlin besser bekannt als HG, ist der Geschäftsführer dieses Ladens. Ehemaliger Hausbesetzer, Berufslinker, Erfinder der Kreuzberger Krawallnacht. Als der dicke Junge mit dem Windbreaker noch das Sandmännchen geguckt hat, hat er 1987 die erste 1. Mai-Demo in Berlin organisiert, die richtig aus dem Ruder lief. Die Bilanz: 254 verletzte Polizisten, angezündete Autos, geplünderte Geschäfte, ein Supermarkt, der in Flammen aufging.

Pflastersteine fliegen nur noch selten

Es war ein Fest für die linksextreme Szene, aber ein Trauma für die Polizei. Beamte, die damals im Einsatz waren, erinnerte Berlin an das im Bürgerkrieg zerstörte Belfast. Lindenau war mittendrin. Es war seine Idee, den Kiez abzuriegeln, damit die Polizei keine Verstärkung schicken konnte. Ohne ihn, sagt er, hätte es das alles nicht gegeben. Sein Blick wandert durch den Laden. Das ist sein Arbeitsplatz. Hier wohnt er auch. In zwei Räumen, die bis zur Decke vollgestopft sind mit Krimskrams und linker Kampfliteratur. Es riecht muffig. Es sieht aus wie in einem Museum für linke Alltagskultur. Kunden verirren sich hier nur noch selten hin. Es sind auch Skinheads und Neonazis darunter. Lindenau grinst. Er sagt, nirgendwo gäbe es das Pfefferspray so günstig wie bei ihm.

Vor dem 1. Mai ist immer etwas mehr los. Dabei ist die berühmte Revolutionäre 1.Mai-Demo schon lange nicht mehr das, was sie mal war. Molotow-Cocktails und Pflastersteine fliegen nur noch selten. Die Polizei, in Deeskalation geschult, hat die Lage im Griff. Konsequentes Durchgreifen. Das Gespräch mit den Beteiligten suchen. Mit dieser Doppelstrategie machen die Beamten gewaltbereiten Demonstranten schon seit Jahren einen Strich durch die Rechnung. Dass Geschäftsleute und Bürger seit 2003 ein „Myfest“ am Brennpunkt veranstalten, ist Teil dieser Strategie. Lindenau spuckt diesen Begriff aus wie einen alten Kaugummi. Er sagt, seit dieses „Lohnsklavenfest“ gefeiert werde, sei die Demo deutlich kleiner geworden.

Neuer Brennpunkt: Friedrichshain

Eine gute Nachricht für die Berliner. Aber aufatmen können sie nicht. Die linksextreme Szene wächst. Seit 2014 ist die Zahl ihrer Mitglieder um ein Fünftel auf 9000 gestiegen. Egal,ob sie im Hambacher Forst Bäume besetzen und „Bullen“ mit Kot bewerfen oder ob sie in Berlin Autos abfackeln, um gegen die Gentrifizierung zu protestieren – vor Gewalt schrecken sie nicht zurück. Linkextreme  fordern den Rechtsstaat noch stärker heraus als Rechte. Auf eine Gewalttat von rechts kommen zwei Gewalttaten von links.

In Berlin heißt der Brennpunkt jetzt aber nicht mehr Kreuzberg, sondern Friedrichshain. Der Nordkiez ist die letzte Bastion der autonomen Hausbesetzer-Szene. In diesem Jahr führt die „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ zum ersten Mal nicht an dem Laden für Revolutionsbedarf im Schatten der Oberbaumbrücke vorbei. Die Musik, sie spielt jetzt in der Liebigstraße und in der Rigaer Straße, dort, wo  der Verfassungsschutz das Herz der linksextremen Szene verortet. Dort, wo man dieser Tage keine Elektro-Roller mehr mieten kann, weil die Anbieter die Gegend aus Angst vor Schäden zur Sperrzone erklärt haben.

Den Bullenstaat zerschlagen

Der allgemeine Protest gegen steigende Mieten, er hat der linksextremen Szene Auftrieb gegeben. Lange hat sie nach einem Thema gesucht, das alle Berliner verbindet. Jetzt hat sie es endlich gefunden. „Kommt in den Mietenwahnsinn-Block“ steht auf einem der vielen Plakate, mit denen Hans-Georg Lindenau die Tafeln vor seinem Laden beklebt hat. Es ist ein Aufruf zu einer zweiten 1. Mai-Demo im Grunewald. „Wo eine Villa ist, da ist auch ein Weg.“ Lindenau lacht laut auf. Die Vorstellung, dass die Demonstranten den Bonzen jetzt einen Hausbesuch abstatten, gefällt ihm.

Seine Welt ist kleiner geworden, seit er 1988 diesen schweren Unfall  hatte. Seither sitzt er mit Rollstuhl. Kreuzberg, das ist jetzt sein Laden. Seine Kunden müssen sich die Ware selber aus den Ikea-Kisten klauben, die sich bis unter die Decke stapeln. Er sagt: „Sie sind meine Arme und Beine.“

Er ist jetzt 58. Aber sein Vokabular ist immer noch das Vokabular des rebellierenden Teenagers. Die Stadt von unten erkämpfen. Freiräume erkämpfen. Den Bullenstaat zerschlagen. Er schaut einen entgeistert an, wenn man ihn fragt, ob die Ziele der Demo nicht nur ein Vorwand sind, um es mal wieder richtig krachen zu lassen. Er sagt dann, dass er selten so eine „tendenziöse Frage“ gehört habe. „Das Gewaltmonopol liegt immer noch bei der Polizei.“ Die, platzt es aus ihm heraus, habe sich mit den Immobilienbesitzern verbündet. Zwecklos, ihm zu widersprechen. Lindenau hat sich häuslich eingerichtet in einem Paralleluniversum aus geplatzten Träumen und Verschwörungstheorien. Er glaubt nur noch, was er glauben will.

Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei

54 Mal wurde sein Laden schon durchsucht. Doch außer Schlagstöcken und linken Kampfblättern, die man als Anleitung zu Straftaten verstehen konnte, konnte die Polizei nichts Belastendes finden. Verfahren gegen Lindenau wurden wieder eingestellt. Es geht ihm wie vielen Linksextremen. Das Katz-und-Maus-Spiel mit den „Bullen“ ist zu seinem Lebensinhalt geworden. Widerstand als Adrenalinkick. „Schon Hitler hat die Polizei seinem politischen Diktat unterworfen“, ruft er einem noch zu. Aber da hat man seinen Laden für Revolutionsbedarf schon fluchtartig verlassen.

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