Die Grünen und der Koalitionsvertrag - Mitgliederentscheid: Grüne Geburtsschmerzen

Morgen beginnt die Mitgliederbefragung der Grünen, die darüber entscheiden soll, ob die Partei in die Ampelregierung unter Olaf Scholz eintritt. Folgen die Mitglieder der Erzählung der Parteiführung?

Annalena Baerbock und Robert Habeck bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am Mittwoch in Berlin / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Sind die Grünen die Verlierer dieser Koalitionsverhandlungen? Wer den Koalitonsvertrag und die Verteilung der Ministerien nüchtern betrachtet, kommt nicht zu diesem Schluss: Der Klimaschutz ist das zentrale Projekt der Ampel, die Partei bekommt fünf Ministerien (eines mehr als die FDP), darunter das Außenministerium für Annalena Baerbock und ein sogenanntes Superministerium (Wirtschaft und Klimaschutz) für Robert Habeck.

Wer aber die Bewertungen des Koalitionsvertrags aus den Bewegungen liest, die die Grünen dorthin getragen haben, wo sie jetzt sind, kommt zu einem ganz anderen Schluss.

Unzufriedenheit in der ökologischen Bewegung

Nur ein paar Beispiele. „Neue Gaskraftwerke, neue Autobahnen und fossile Subventionen darf es dafür nicht mehr geben. Der Koalitionsvertrag ist vieles – klimagerecht ist er nicht“, schreibt Fridays for Future auf Twitter. „Fazit zum Koalitionsvertrag: Klimaschutz spielt endlich eine Rolle – aber eine Fortschritts-Koalition sieht anders aus“, heißt es von „Campact“.

Auch die Worte der Deutschen Umwelthilfe sind wenig ermutigend: Die Handschrift der Autokonzerne sei „unübersehbar“, so Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Es sei „unglaublich, dass die CSU-Autolobby-Politik nahtlos fortgesetzt werden soll“. Ähnlich harsch die Kritik von Greenpeace: Die Ampel lasse einen „ökologischen Aufbruch nur erahnen.“ Für die Verkehrswende sei der Vertrag eine Enttäuschung, so Vorstand Martin Kaiser.

Aufruf zum Ausstieg?

Monika Herrmann, grüne Bezirksbürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg und eine prominente Vertreterin der grünen Fundis, wurde gestern noch ein wenig deutlicher: „Meine Position: Ohne grünes Verkehrsministerium keine grüne Regierungsbeteiligung“, schrieb sie auf Twitter. Das Verkehrsministerium geht aber an die FDP. Ist das ein Aufruf zum Ausstieg aus der Koalition, bevor sie begonnen hat?

Es ist jedenfalls ein Vorgeschmack darauf, welche Härten die Grünen-Führung im Laufe des heute beginnenden Mitgliederentscheids erwarten dürften. Habeck und Baerbock könnten dabei zum Opfer ihres eigenen Erwartungsmanagements werden.

Die SPD ist froh, überhaupt diese Regierung führen zu können. Noch im Frühsommer standen die Zeichen auf Opposition. Die FDP steuerte zwar auf die Regierung zu, aber es war immer klar, dass sie Juniorpartner in einer Koalition werden würde und dann Kompromisse machen müsste. Die Grünen dagegen (und mit ihnen viele Medien) träumten im Frühling dieses Jahres noch von der Kanzlerschaft und von einem dann möglichen Durchregieren mit klarer grüner Handschrift. Getragen von dieser Euphorie, trommelten auch die oben genannten Umweltbewegungen für die Grünen. Vielleicht ein wenig zu laut.

Opfer des eigenen Erwartungsmanagements

Nun herrscht Katerstimmung. Das (vergleichsweise) schlechte Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl hat bereits Frust bei den Mitgliedern hinterlassen. Sollte jetzt auch noch der Eindruck entstehen, die Grünen hätten für die Regierungsbeteiligung ihre Ideale verraten, könnte der Mitgliederentscheid ein erster Dämpfer für diese so optimistisch angetretene Regierung werden.

Dass die Abstimmung scheitern wird, ist zwar unwahrscheinlich. Aber eine schwache Zustimmung könnte die Grünen gleich zu Beginn der Legislaturperiode zum Wackelkandidaten machen. Denn nicht FDP oder SPD, sondern die Grünen werden von den Umweltbewegten dieser Republik verantwortlich gemacht werden, wenn es nicht so schnell und radikal vorangeht, wie sich das manche vorstellen. Politisch haben sich auf der radikalökologischen Seite schon Parteien wie die Klimaliste formiert, die als Auffangbecken für ökologische Protestwähler bereitstehen.

„Sozialdemokraten und Grüne können jetzt stolz sein auf das, was sie in diesen Koalitionsvertrag hineinverhandelt haben“, hat FDP-Chef Christian Lindner gestern bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags im Berliner Westhafen gesagt. Es klang wie Schützenhilfe für die Realos in beiden Parteien. Ganz besonders die Grünen haben sie mehr als nötig. Denn während die Limousinen der zukünftigen Kanzler und Minister das Gelände verließen, brüllten ihnen weder Jungunternehmer noch Gewerkschaftsvertreter ihren Unmut entgegen. Sondern Aktivisten von Fridays for Future.

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