Bundestag - „An Geschmacklosigkeit wieder selbst übertroffen“

Der 19. Deutsche Bundestag ist erstmals zusammen getreten. In vielerlei Hinsicht war diese konstituierenden Sitzung ungewöhnlich. Die meist diskutierten Passagen in einer Parlamentsschau

Erstmals gibt es sechs Fraktionen im Bundestag
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Als Alterspräsident eröffnete der FDP-Politiker Hermann Otto Solms die Sitzung des 19. Bundestages. Er sprach anstatt von Wolfgang Schäuble, der laut Geschäftsordnung eigentlich als Dienst ältester Parlamentarier gesprochen hätte. Wegen seiner Kandidatur zum Bundestagspräsidenten verzichtete Schäuble aber.

Solms richtete zunächst persönliche Worte an das Plenum:

„Ich freue mich ganz außerordentlich, dass gerade ich als Mitglied der Fraktion der Freien Demokraten die Sitzungsperiode des 19. Deutschen Bundestages eröffnen darf. Nach vier schwierigen Jahren in der außerparlamentarischen Opposition haben wir das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurückgewonnen. Jetzt können wir der liberalen Stimme im Deutschen Bundestag wieder Gehör verschaffen, und das war unsere zentrale Aufgabe und unser Ziel.“

Er schloss mit den Worten:

„Lassen Sie uns den Bürgerinnen und Bürgern beweisen, dass unsere Demokratie hohe Integrationskraft besitzt, dass wir nicht sprachlos gegenüber Hetze und Parolen sind, dass wir Provokationen Argumente entgegensetzen und dass wir ernsthaft Lösungen für die Probleme der Zukunft finden.“

Bernd Baumann kritisiert den alten Bundestag

Für die erstmals im Bundestag sitzende AfD-Fraktion sprach der Abgeordnete Bernd Baumann. Er kritisierte die Entscheidung des vergangenen 18. Bundestages, nicht mehr den ältesten, sondern Dienst ältesten Parlamentarier als Alterspräsidenten zu benennen. Nach alter Regelung hätte nämlich der wegen seiner Äußerungen zum Holocaust und den ehemaligen deutschen Ostgebieten umstrittene AfD-Bundestagsabgeordnete Alexander Wilhelm von Gottberg die erste Sitzung eröffnen dürfen. Der erste Antrag der AfD, zur alten Regelung zurückzukehren, wurde sogleich von allen Fraktionen abgelehnt.

Bernd Baumann (AfD): „Aber, meine Damen und Herren, seit 1848 ist in Deutschland Tradition, dass die konstituierende Sitzung natürlich vom ältesten Mitglied der Versammlung eröffnet wird.Das war eine Tradition von der Frankfurter Paulskirche bis Gustav Stresemann, von Adenauer über Brandt bis Kohl, ja bis zu der ersten Regierung Merkel. Alle Reichstage, alle Bundestage konnten dem Argument „Dienstalter“ nichts abgewinnen. Das ist ja auch klar. In 150 Jahren Parlamentsgeschichte blieb die Regel des Alterspräsidenten unangetastet. Unangetastet? Es gab eine Ausnahme: 1933 hat Hermann Göring die Regel gebrochen, weil er politische Gegner ausgrenzen wollte, damals Clara Zetkin. Wollen Sie sich auf solch schiefe Bahn begeben? Kommen Sie zurück auf die Linie der großen deutschen Demokraten! Dazu fordere ich Sie hier auf.“

Eine Geschmacklosigkeit

Darauf antwortete wenig später der FDP-Abgeordnete Marco Buschmann:

„Die AfD geriert sich – ganz bewährt – als Opfer einer finsteren Verschwörung. Das kennen wir zur Genüge, das haben wir oft genug erlebt. Ich wollte dazu eigentlich gar nichts mehr sagen.Aber, lieber Herr Kollege Dr. Baumann, indem Sie sich hier ernsthaft mit den Opfern Hermann Görings verglichen haben, haben Sie sich an Geschmacklosigkeit wieder selbst übertroffen.“

Für die SPD sprach Carsten Schneider und griff ähnlich wie Martin Schulz in der Elefantenrunde die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an:

„Ihr Politikstil, Frau Merkel, ist ein Grund dafür, dass wir heute eine rechtspopulistische Partei hier im Bundestag haben. Sie haben in diesem Wahlkampf jeden politischen Streit um die besseren Ideen und Konzepte, jede Debatte um die besten Argumente verweigert. Diese Vernebelungsstrategie mag in den vergangenen beiden Wahlkämpfen funktioniert haben. Diesmal führte sie aber dazu, dass die politischen Ränder stärker wurden denn je.“

Schneider forderte, dass sich Merkel künftig den Fragen der Parlamentarier stellen müsse:

„Deshalb beantragen wir, dass die Frau Bundeskanzlerin, so sie denn im Bundestag gewählt wird, sich viermal im Jahr einer direkten Befragung im Parlament stellt. Viermal im Jahr ist nicht zu viel. Und – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – wir wollen selbst festlegen, wozu wir die Regierung in der Regierungsbefragung befragen. Meine Damen und Herren, dagegen kann doch niemand sein.“

Mehr Kontrolle für das Parlament

Der Linken-Abgeordnete Jan Korte erinnerte zunächst an den Geist des Grundgesetzes:

„Wir sind dem Grundgesetz verpflichtet, das nicht einfach irgendein Gesetz ist, sondern das die humane und demokratische Antwort auf die Verheerung und die Leichenberge des NS-Faschismus gewesen ist. Das gilt es jeden Tag zu verteidigen.“

Er kritisierte wie Carsten Schneider zuvor, das Parlament habe noch nicht genügend Kontrollmöglichkeiten:

„Dazu gehört zwingend, dass die Fraktionen, besonders natürlich die Oppositionsfraktionen, hier Themen vorschlagen können, die zum Beispiel – so sie denn gewählt ist – der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung sehr unangenehm sind. Das ist ganz zentral.Ich will eines sagen: Was wirklich nicht geht, ist, dass es eine Befragung der Bundeskanzlerin lediglich in der Bundespressekonferenz gibt. Das geht nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.“

FDP, Grüne und Union lehnen Anträge ab

Für die CDU/CSU-Fraktion wies Michael Grosse-Brömer die für eine konstituierende Sitzung ungewöhnlichen Anträge von Linken, SPD und AfD zurück:

„Zwei Fraktionen sind neu ins Parlament gezogen. Diese neuen Abgeordneten werden jetzt mit teils umfangreichen Änderungsanträgen zur Geschäftsordnung begrüßt. Ich halte das weder für besonders stilvoll noch für sachlich gerechtfertigt und fair. Die neuen Kolleginnen und Kollegen hatten weder die Gelegenheit, sich mit Ihren Anträgen auseinanderzusetzen, noch hatten sie Gelegenheit, jemals live eine Regierungsbefragung oder das, was Sie ändern wollen, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen oder zu erfahren.“

Auch die Grünen wiesen die Reform-Forderungen der SPD zurück. Britta Haßelmann ärgerte sich darüber, dass die Sozialdemokraten die Grünen damit nur vorführen wollten:

„Meine Damen und Herren, ich wüsste nicht – deshalb kann ich das Gefeixe aus den Reihen der SPD gar nicht verstehen –, warum wir heute einfach Ihrem Antrag oder aber dem Antrag der Linken folgen sollten, der wiederum anders ist. Auch wir haben Vorschläge zur Regierungsbefragung und zur Fragestunde gemacht. Im Antrag der SPD finden sich unsere Punkte nicht in Gänze wieder. Warum haben Sie in Ihrem Antrag zum Beispiel auf die Abschaffung der Konsumtionsregel verzichtet? Das ist doch ein wichtiges Instrument, gerade für die Opposition.“

Schäuble und Stellverteter gewählt

Anschließend wurde Wolfgang Schäuble zum Bundestagspräsidenten gewählt. Als seine Stellvertreterinnen und Stellvertreter wurden Claudia Roth (Grüne), Thomas Oppermann (SPD), Hans-Peter Friedrich (CSU), Petra Pau (Linke) und Wolfgang Kubicki (FDP) gewählt. Der Kandidat der AfD, Albrecht Glaser, schaffte auch nach dem dritten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit. Glaser war von den anderen Parteien für Äußerungen zum Islam kritisiert worden, wonach er die Religionsfreiheit für Muslime infrage gestellt hatte.

In einer früheren Version des Artikels war zu lesen, dass Alexander Gauland als ältester Parlamentarier die erste Sitzung nach alter Regelung hätte eröffnen dürfen. Richtig ist, dass der AfD-Abgeordnete Wilhelm von Gottberg der derzeit älteste Parlamentarier ist. Wir danken unseren Lesern für den Hinweis.

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