Ehemaliger ukrainischer Oppositionschef - „Wir sind jetzt Feinde“

Jurij Bojko, bis Februar 2022 Fraktionschef der größten als prorussisch geltenden Oppositionsfraktion im ukrainischen Parlament, spricht im Interview über seine Versuche, Putin umzustimmen – und mögliche Wege zu einem Kriegsende in der Ukraine.

Protestaktion während der ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019, bei denen Jurij Bojko (rechts) als Kandidat gegen Wolodymyr Zelenskyj antrat / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Jurij Bojko ist seit 2007 Abgeordneter des ukrainischen Parlaments. Unter Präsident Wiktor Janukowitsch war er Energieminister und bis 2014 Vizepremierminister. 2019 kandidierte er für die Partei „Oppositionsplattform für Leben und Frieden“ (Nachfolgepartei von Janukowitschs „Partei der Regionen“) für das Präsidentenamt, bis Februar 2022 führte er die Partei und war Fraktionsvorsitzender im Parlament. Die Partei wurde im Frühjahr verboten, die Fraktion aufgelöst.

Herr Bojko, die Ukraine befindet sich nun schon seit über einem Jahr im Krieg mit Russland. Sie haben sich Ihr ganzes politisches Leben lang für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland eingesetzt. Wie hat sich der 24. Februar auf Ihre Überzeugungen ausgewirkt?

Bis zum 24. Februar letzten Jahres habe ich mich für die Normalisierung der Beziehungen zu Russland und für die Beilegung des Konflikts im Osten des Landes durch die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen eingesetzt. Aber der 24. Februar hat das Land und uns gespalten. Einige Abgeordnete flohen nach Russland, andere nach Europa, aber wir sind hiergeblieben, weil dies unser Land ist. Wir glauben, dass die Russen die Aggressoren sind. Ich persönlich habe nicht geglaubt, und unsere Regierung hat auch nicht geglaubt, dass die Russen angreifen würden. Ich dachte, sie würden bluffen.

Ihre Partei ist jetzt verboten, Ihre Fraktion wurde aufgelöst, spielen Sie überhaupt noch eine Rolle in der Politik?

Von 44 Personen gibt es noch eine Gruppe von 22 Abgeordneten. Außerdem gibt es eine weitere Abgeordnetengruppe mit 17 Personen, der 11 unserer ehemaligen Abgeordneten beigetreten sind, während der Rest aus anderen Fraktionen kam. So halten wir unsere Gruppe „Plattform für Leben und Frieden“ aufrecht, das Wort „Opposition“ haben wir aus unserem Namen gestrichen. Uns war von Anfang an klar, dass wir die Regierung unterstützen mussten, denn die Situation war besonders am Anfang schwierig. Und wir hatten keine andere Wahl.

Haben Sie versucht, gegen das Verbot Ihrer Partei zu klagen?

Jurij Bojko

Wir haben im Sommer geklagt, aber ohne Erfolg. Dann haben wir es nicht mehr versucht.

Sehen Sie eine Zukunft für Ihre Partei?

Während des Krieges denken wir nicht über politische Angelegenheiten nach. Wir sind mit humanitärer Hilfe, der Unterstützung des Militärs und dem Schutz von Abgeordneten beschäftigt. Einer unserer Abgeordneten aus einem Regionalparlament war elf Monate unter russischer Besatzung in Berdjansk. Er ist vor kurzem zurückgekehrt. Wir haben nicht über Politik nachgedacht. Uns ist jetzt nicht danach. Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir nachdenken.

Aber bis zum 24. Februar waren Sie die wichtigste Oppositionskraft im Parlament, und die zweitgrößte Fraktion.

Jetzt gibt es in unserem Land keine Opposition im eigentlichen Sinne mehr. Petro Poroschenko sagt, er sei die Opposition, aber er versucht eher, sich selbst zu finden. Das liegt aber nicht an politischen Widersprüchen, sondern an seinen persönlichen. Er hat Angst, dass er wegen seiner Geschäftsprojekte mit Viktor Medwedtschuk (führende Figur von Bojkos Partei und Putin-Vertrauter, der festgenommen und im Zuge eines Gefangenenaustauschs nach Russland ausgewiesen wurde) verfolgt wird. Sie waren fünf Jahre lang Partner. Und das ist der Grund, warum er einen politischen Konflikt simulieren will: Wenn er angegriffen wird, kann er sagen, dass es ein Angriff auf die Opposition ist. Das ist seine Motivation. Und so sollte sich die Opposition während des Krieges nicht verhalten. Wir werden siegen, dann können wir auch über Koalitionen und Opposition sprechen.

Gab es einen Fall, in dem Sie nicht für das von der Regierung vorgeschlagene Gesetz gestimmt haben?

In der letzten Sitzung hat die Fraktion „Diener des Volkes“ (Zelenskyjs Partei) dem eigenen Abgeordneten Truchin das Mandat entzogen. Er war betrunken am Steuer erwischt worden und hatte dem Polizisten Geld angeboten, damit er ihn gehen lässt. Er wurde verurteilt. Aber auch das Mandat wurde ihm entzogen. Ich habe dagegen gestimmt, weil Truchin, als in Swjatogorsk Krieg herrschte, selbst unter Einsatz seines Lebens humanitäre Hilfe geleistet hat. Ich denke, es war falsch, einem Polizisten Geld zu geben, aber er wurde bestraft, warum sollte man ihm das Mandat entziehen?

Ansonsten stimmen Ihre Abgeordneten praktisch für alle von der Regierung eingebrachten Gesetze. Gibt es eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen der Präsidentenpartei und Ihnen: Ihr werdet für unsere Vorschläge stimmen und wir lassen euch in Ruhe? 

Was meinen Sie damit, dass wir in Ruhe gelassen werden? Wir hatten drei Personen, die ihr Mandat aufgegeben haben, davor waren es zwei weitere. Es gab Strafverfahren gegen einige Abgeordnete. Ich denke, es ist ein großer Verdienst von Arachamia (Davyd Arachamia, Fraktionschef „Diener des Volkes“), dass wir uns im Parlament halten. Nicht, weil er uns etwas versprochen hat, sondern weil er mit allen kommuniziert und nicht arrogant ist. Ich habe mit niemandem eine Vereinbarung getroffen. Wir unterstützen auch den Parlamentssprecher Stefanchuk. Wir haben Glück mit ihm, denn in Kriegszeiten vermeidet er unnötige Konflikte. Das ist wichtig. Es gibt keinerlei Vereinbarung, aber wir verstehen, dass man keine Provokationen veranstalten sollte.

Sind Sie die ganze Zeit über in der Ukraine geblieben?

Ja. Ich habe das Land zweimal aus humanitären Gründen für jeweils fünf Tage verlassen.

In den ersten Tagen des Krieges tauchte ein Video auf, in dem das Militär Sie anhielt, aus dem Auto zwang und, sagen wir, nicht gerade höflich behandelte. Gab es diese Situationen immer wieder?

Es gab verschiedene Situationen, vor allem am Anfang. Ich habe dafür Verständnis. Immerhin: Ich wurde nicht erschossen (lacht). Es gab einen Fall, in dem mich das Militär anhielt. Ein Soldat öffnete die Tür, schaute auf den Rücksitz und fragte: „Ich hoffe, Sie haben Janukowitsch nicht mitgebracht?“

Gab es persönliche Drohungen gegen Sie?

Ja. Aber das ist eine Folge des Krieges im Land, das muss man verstehen.

Viele Ukrainer nennen Sie einen pro-russischen Politiker.

Vor dem 24. Februar habe ich aufrichtig daran geglaubt, dass wir eine Einigung mit Russland erzielen können, und ich habe alles getan, um dies zu erreichen. Als der 24. Februar kam, als Tschernihiw und Charkiw bombardiert wurden, war es damit vorbei. Jetzt bin ich der Meinung, dass wir Feinde sind.

Wer trägt die Schuld an diesem Krieg?

Der russische Präsident ist schuld, denn er hat angegriffen. Wie es dazu gekommen ist, was dem vorausging, ist eine andere Frage. Aber als er das Land um 4 Uhr morgens angriff und Städte bombardierte, wurde alles klar. Wir nehmen zur Kenntnis, wie Putin jetzt seine Gründe erklärt. Aber es bleibt eine Tatsache, dass man, wenn man angegriffen hat, die Schuld trägt.

Hätte der Krieg verhindert werden können?

Er hätte verhindert werden können, aber alles ist auf diese Situation zugelaufen. Wenn Putin sich nicht von diesen – seiner Meinung nach – Drohungen hätte provozieren lassen, wäre nichts passiert. Er hat auf seine Falken in seinem inneren Zirkel gehört. Ich habe ihm 2017 persönlich gesagt, dass 70 Prozent unserer Bevölkerung bereits glauben, dass wir uns im Krieg mit Russland befinden. Deshalb darf eine Eskalation des Kriegs nicht zugelassen werden. Aber er hörte auf diejenigen, die ihm sagten, dass das russische Militär mit Blumen begrüßt werden würde. Wir hatten eine interessante soziologische Umfrage im Jahr 2020: In Charkiw fragten wir die Menschen, was sie von einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland halten und ob sie zu Russland gehören wollen. 70 % waren für eine Normalisierung, nur 7 % waren dafür, ein Teil Russlands zu werden. Das sagt alles.

Wie ist die Einstellung gegenüber den Russen heute?

Sie ist negativ. Was für eine Einstellung können Sie haben, wenn Ihre „Befreier“ Ihr Haus bombardiert haben? Sie haben ja gerade den Osten des Landes zerstört, der im Prinzip für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland war.

Wie sieht ein mögliches Ende dieses Krieges aus?

Es wird Verhandlungen zwischen den Amerikanern und den Russen geben. Denn die Lage in der Welt insgesamt spitzt sich zu. Die Chinesen haben einen Friedensplan ausgearbeitet, um dann, wenn der Plan abgelehnt wird, das Recht zu haben, Waffen an die Russen zu liefern. Später wird die Situation eine neue Stufe erreichen und die Frage aufwerfen, wie nah wir an einer globalen nuklearen Konfrontation sind. Es wird Gespräche mit den Russen darüber geben, wie man sie beenden kann.

Und wo bleiben die Europäer?

Die Deutschen haben viel getan, um der Ukraine zu helfen. Das Gerede, dass die Deutschen zu wenig getan haben, ist Unsinn. Angela Merkel hat damals alles getan, um die Minsker Vereinbarungen zu unterzeichnen und eine Massentragödie zu beenden. Die Deutschen haben eine Million Menschen aufgenommen, darunter meinen minderjährigen Sohn, der in Köln ein Praktikum macht. Die Deutschen liefern Waffen, und sie sind nach den Amerikanern der zweitgrößte Geldgeber. Und einige unserer Regierungsbeamten erklären, dass die Deutschen noch dies und jenes schulden. Das ist nicht richtig. Die Europäer helfen uns sehr, aber sie wollen nicht, dass sich der Konflikt weiter verschärft. Die Europäer sind daran interessiert, den Krieg zu beenden, die Amerikaner sind es noch nicht.

Präsident Zelenskyj sagte in seiner Rede zum Jahrestag des russischen Überfalls, dass 95 Prozent der Ukrainer an den Sieg glauben. Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind ein einfacher Mann und werden gefragt: Glauben Sie an den Sieg? Natürlich werden Sie mit Ja antworten. Wie sollte es anders sein?

Dann anders gefragt: Wie soll der Kompromiss aussehen, den Zelenskyj seinen Bürgern sozusagen als Sieg „verkaufen“ kann?

Es sollte ein finanzieller Ausgleich sein, es sollte ein Beitritt zur Europäischen Union sein. Es sollte auch die Aufnahme in die NATO sein, denn das bedeutet eine Sicherheitsgarantie. Dann sollte es einen Vertrag mit Russland geben. Bezüglich der besetzten Gebiete: Niemand ist bereit, die Gebiete, die Russland nach dem 24. Februar erobert hat, den Russen zu überlassen. Sprechen wir über die Gebiete, die vor dem 24. Februar von den Russen kontrolliert wurden – dem könnten die Ukrainer zustimmen. Aber die Zeit für Kompromisse ist noch nicht gekommen. Ich bin sehr besorgt über die Position Chinas. Das Land hat bereits eine Entscheidung getroffen, die sich auf die Gesamtsituation in der Welt auswirken wird.

Ihre Partei vertrat früher eine prinzipielle Position zur NATO. Würden Sie jetzt, wenn sich die Frage stellt, für einen NATO-Beitritt stimmen?

Heute ja. Früher waren wir für einen blockfreien Status der Ukraine. Aber jetzt ist das eine Sicherheitsgarantie für uns.

Das Interview führte Moritz Gathmann

 

Anzeige