Zentralasien - Spiel ohne Regeln

Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – Die Staaten Zentralasiens befinden sich in einer Phase des tiefgreifenden Umbruchs. Doch Europa verliert in dieser Region den Anschluss

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Unlängst war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch in Usbekistan. Aber: reicht das? / picture alliance
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Edda Schlager arbeitet als Korrespondentin in Zentralasien.

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Es ist eine riesige Region, noch dazu strategisch bedeutsam und voller Ressourcen. Trotzdem bleibt der derzeitige Umbruch vom breiten europäischen Publikum fast unbemerkt. Was umso verwunderlicher ist, als die EU dort eigentlich wichtige Interessen verfolgen müsste. Die Rede ist von Zentralasien – ehemaliger Hinterhof des Sowjet­reichs und Transitraum, den China überbrücken muss, um seine neue Seidenstraße gen Westen zu bauen. Die fünf Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, allesamt unabhängig seit 1991, umfassen ein Gebiet knapp halb so groß wie Europa. Rund 70 Millionen Menschen leben dort, ein Großteil davon muslimisch.

Kasachstan – 18 Millionen Einwohner und rohstoffreichstes der fünf Länder – erlebt zurzeit eine bisher ungekannte Protestwelle. Vor allem in den beiden größten Städten Almaty und der Hauptstadt Nur-Sultan (bis vor kurzem noch Astana) protestierten im Juni Hunderte Bürger friedlich gegen das autoritäre Regime; das wiederum reagiert mit Verhaftungen und Internetblockaden. Nach Schätzungen von Amnesty International wurden im Zuge der Proteste mehr als 2000 Menschen von der Polizei festgehalten. Innenminister Yerlan Turgumbayev beschuldigte die Demonstranten, den Anweisungen fremder Kräfte zu folgen und das Land destabilisieren zu wollen.

Bahnt sich in Kasachstan ein neuer Maidan an? Schwer zu sagen. Doch in der Tat gerät hier gerade ein Regime ins Wanken, das es gewohnt war, der internationalen Gemeinschaft und der eigenen Bevölkerung demokratische Strukturen vorzugaukeln, sich tatsächlich aber nur geschickt quasidemokratischer Instrumente bediente. In Kasachstan ist der moderierte Machttransfer von einem der letzten Diktatoren sowjetischer Couleur an die nächste Generation in vollem Gange. Das minutiös geplante Schauspiel scheitert jedoch gerade krachend an der neuen Protestbewegung. „Oyan, Qazaqstan!“ – „Wach auf, Kasachstan!“ – lautet deren Motto.

Weder Opposition noch kritische Medien

Im vorigen März war der langjährige Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, überraschend zurückgetreten, bei einer Ansprache unterzeichnete er live im Fernsehen seine Rücktrittserklärung, viele Kasachen waren regelrecht geschockt. Fast 30 Jahre lang hat Nasarbajew Kasachstan regiert. Ans Ruder gekommen war der ehemalige Stahlkocher 1989 noch als kommunistischer Generalsekretär der kasachischen Teilrepublik. Seitdem hat er die Geschicke Kasachstans gelenkt, sich als Stabilitätsgarant inszeniert. Verfassungsänderungen zum persönlichen Machterhalt und vorzeitige Neuwahlen standen so regelmäßig auf der Tagesordnung wie die Beseitigung potenzieller Rivalen. Die politische Opposition und kritische Medien wurden systematisch ausgeschaltet. 

Nach Nasarbajews Rücktritt war Senatssprecher Kassym-Jomart Tokajew verfassungsgemäß auf den vakanten Präsidentenposten nachgerückt. Die erste politische Entscheidung Tokajews bestand darin, die Hauptstadt Astana zu Ehren Nasarbajews in Nur-Sultan umzubenennen. Dariga Nasarbajewa, die älteste Tochter des Ex-Präsidenten, rückte auf Tokajews Platz als Senatssprecherin nach – potenzielles Sprungbrett auf den Präsidentenposten zu einem späteren Zeitpunkt. Die Wahlen zur Legitimation des Interims erst planmäßig im kommenden Jahr stattfinden zu lassen, schien den Politdramaturgen in Nur-Sultan wohl zu riskant. So wurde Tokajew am 9. Juni bei vorzeitigen Neuwahlen mit 70,76 Prozent der Stimmen als Nachfolger Nasarbajews bestätigt. Erstmals im unabhängigen Kasachstan trat auch ein Oppositionspolitiker als Kandidat an – immerhin 16 Prozent konnte er holen, ein absolutes Novum.

Doch viele Beobachter sehen in der Zulassung von Amirzhan Kossanov zur Wahl eher ein Ventil für den wachsenden Unmut der Bürger als echten demokratischen Wettbewerb. „Die Wahlen sind nicht ernst zu nehmen“, sagt Roman Zakharov, ein 30-jähriger Künstler aus Almaty. „Die Kandidaten waren Marionetten. Bei Kossanov ging es nur um die Teilnahme, dass er nicht gewinnen würde, war von vornherein klar.“ Zakharov nimmt an den Protesten teil, die von der urbanen Jugend in den beiden größten Städten des Landes ausgehen. Initialzündung war ein Banner, das am Rande des Almaty-Marathons am 21. April aufgetaucht war. „Der Wahrheit kann man nicht davonlaufen“, prangte da plötzlich an der Laufstrecke. Die beiden Aktivisten, die ihn aufgehängt hatten, wurden verhaftet und zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Dutzende ähnliche Aktionen, viele mit Witz und Courage ausgeführt, setzten die Sicherheitsbehörden in Kasachstan zunehmend unter Druck. 

Noch weit von Demokratie entfernt

Von einem kasachischen Frühling, dem Aufbrechen der autoritären Strukturen hin zu einem demokratischen Staat, ist Kasachstan noch weit entfernt. Denn die Ziele der Proteste sind bisher zu diffus, die Bewegung ist nicht organisiert. Und Alt-Präsident Nasarbajew ist zwar formell zurückgetreten, doch besetzt er noch so viele politische Ämter, dass er die Fäden der kasachischen Politik weiter in der Hand hält: Er ist Chef des Sicherheitsrats auf Lebenszeit, bleibt Vorsitzender der Regierungspartei Nur Otan sowie Mitglied im Verfassungsrat. Trotz der Wahl Tokajews, so der kasachische Analyst Satpajew, sei dieser nicht als langfristiger Nachfolger Nasarbajews vorgesehen. „Der Machttransfer“, so Satpajew, „hat noch gar nicht begonnen. Das wird erst passieren, wenn Nasarbajew die politische Bühne endgültig verlässt, wenn sein Nachfolger langsam beginnen wird, das System auf sich auszurichten.“

Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierte nach den Wahlen, das Potenzial für politische Reformen sei bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen in Kasachstan „aufgrund der mangelnden Achtung von Grundfreiheiten und weitverbreiteten Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung nicht ausgeschöpft worden“. EU-Ratspräsident Donald Tusk dagegen gratulierte Tokajew zu seinem Sieg. Kritik am harschen Vorgehen der kasachischen Behörden gegen die Proteste? Fehlanzeige. 

Der 23-jährige Medizinstudent und Bürgerrechtsaktivist Daniyar Khassenov aus Almaty ist fassungslos über das Schweigen der EU. Auf Twitter wandte er sich direkt an Tusk: „Während wir verfolgt werden, schweigen Sie. Bitte helfen Sie den Behörden nicht, uns zu unterdrücken.“ Khassenov ist Mitinitiator eines offenen Briefes an Tusk, den mehr als tausend Menschen in Kasachstan unterzeichnet haben. „Wir wollen“, so Khassenov, „dass die EU die Wahlen als illegitim bezeichnet, weil grundsätzliche Wahlrechte verletzt wurden.“ Schon zuvor war Tusk in Zentralasien auf Kritik gestoßen. Denn im Mai hatte der EU-Rats­präsident die Region besucht, um für die neue Zentralasienstrategie der Europäischen Union zu werben. Dabei hatte er den tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon für dessen „Stärke, Mut und guten Willen“ gelobt, den dieser angeblich an den Tag lege, um „Sicherheit, aber auch Menschenrechte und Freiheiten zu gewährleisten“. Rahmon, der Tadschikistan seit 1994 als Präsident regiert, ist wie Nasarbajew ein im Sowjetsystem sozialisierter Funktionär, der in den Jahren der Unabhängigkeit seines Landes zum Diktator wurde. Auch er hat die Opposition systematisch ausgeschaltet und bereitet die Machtübergabe an seinen Sohn als dynastischen Nachfolger vor. 

Neue EU-Strategie

Für die EU könnten die Ereignisse in Kasachstan und die Kritik an Ratspräsident Tusk zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen. Denn eigentlich war sein Besuch in Tadschikistan, Kasachstan und Usbekistan als Sympathietour geplant. Am 15. Mai hatte die EU ihre neue Strategie für Zentralasien verabschiedet. Das Papier soll die Grundlage für die Zusammenarbeit der EU mit den zentralasiatischen Ländern in den nächsten Jahren sein. Bereits 2007 hatte die EU unter der Ratspräsidentschaft Deutschlands ein solches Papier verfasst. Die aktuellen politischen Entwicklungen in der Region, so die EU, hätten nun eine Auffrischung erforderlich gemacht.

Anlass für die neue EU-Strategie sind vor allem die Reformen in Usbekistan. Im September 2016 war der usbekische Diktator Islam Karimow gestorben. Als einer der schlimmsten Despoten weltweit hatte er mit seinem repressiven Regime das Land wirtschaftlich und politisch isoliert. Nachfolger Karimows wurde dessen früherer Premierminister Shavkat Mirziyoyev, der dem Land eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Reformen verordnet hat. Mirziyoyew ließ inhaftierte Journalisten, Menschenrechtler und des religiösen Extremismus angeklagte Regimekritiker frei, erleichterte die Reisefreiheit deutlich und reformierte die Währungspolitik. Er will den Außenhandel liberalisieren, staatliche Betriebe privatisieren, den Handel erleichtern. „Wir kennen unsere Schwächen“, sagt Laziz Kudratov, Vizeminister für Investitionen und Außenhandel – wohl wissend, dass die Umsetzung all dieser Pläne nicht in kurzer Zeit machbar ist. „Aber wir arbeiten daran, weitere Barrieren abzubauen.“ Bis zum Jahr 2022, so Kudratov, wolle Usbekistan zu den Top-20-Ländern im „Doing Busi­ness“-Ranking gehören, deshalb würden die Bedingungen für Investoren verbessert. 

Aus Sicht des usbekischen Politikberaters Yuliy Yusupov sind dafür aber etliche Hürden zu überwinden: „Korrupte Behörden und staatliche Einmischung sind nach wie vor die größten Reformbremsen in Usbekistan.“ Yusupov betreibt das usbekische Zentrum für wirtschaftliche Entwicklung und arbeitet unter anderem für die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Wie viele internationale Beobachter zweifelt auch er daran, dass Mirziyoyev sich tatsächlich um politisches Tauwetter bemüht. Ihm könnte auch reichen, das autoritäre Regime nur ein wenig zu modernisieren. Wirtschaftlich, sagt Yusupov, habe Mirziyoyev eigentlich keine Wahl: Die Bevölkerung in Usbekistan wächst rasant, mehr als die Hälfte der Bewohner sind unter 30 Jahre alt. Eine berufliche Perspektive sehen viele nur im Ausland; Usbekistan lebt zum großen Teil von Rücküberweisungen seiner Arbeitsmigranten in Russland, der Türkei oder in Kasachstan. Das Land braucht also dringend Investoren. Doch die staatlichen Institutionen funktionierten nicht, so Yusupov. „Formal gibt es zwar ein Parlament, aber das erfüllt seine Aufgaben nicht. Es ist nur Fassade. Ein unabhängiges Rechtssystem existiert auch nicht.“

Gleiche Rechte und Wertschätzung?

Dennoch ist das Interesse an der Zusammenarbeit mit Usbekistan derzeit groß, auch in Deutschland. Unlängst war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dort zu Besuch, mit ihm reiste eine Delegation deutscher Unternehmen – man hofft auf gute Geschäfte. „Die neue usbekische Regierung hat jetzt mit einer konsequenten Öffnungspolitik und einem hohen Reformtempo die Weichen richtig gestellt“, sagt Michael Harms, Vorsitzender der Geschäftsführung des Ost-Ausschusses – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft (OAOEV). „Die Entwicklung im Land ist äußerst spannend, und die Konkurrenz aus Fernost schläft nicht.“

Das bilaterale Handelsvolumen Deutschlands mit Usbekistan lag 2018 bei rund 700 Millionen Euro, 90 Prozent davon entfielen auf deutsche Exporte. Zum Vergleich: Der deutsche Handel mit Kasachstan überschritt im Jahr 2018 ein Volumen von fünf Milliarden Euro. Eines der deutschen Unternehmen mit erwartungsfrohem Blick auf Usbekistan ist die Straßenbaufirma Papenburg, deren Gründer Günter Papenburg ebenfalls mit Steinmeier unterwegs war. Der Mittelständler aus Hannover hat in Zentralasien schon einige Hundert Kilometer Straßen gebaut. Papenburg schätzt die wirtschaftlichen Perspektiven in Usbekistan so positiv ein, dass kürzlich ein Joint Venture mit einem staatlichen usbekischen Partner gegründet wurde. „Wir wollen hier nicht nur Straßen bauen“, sagt Eleonora Bachtiosina, Geschäftsführerin von Papenburg in Usbekistan, „sondern auch die Baustoffe produzieren.“ Rund sechs Millionen Euro will das Unternehmen dafür investieren. Allerdings hat Papenburg seit vielen Jahren Erfahrungen in Osteuropa und Zentralasien und betrachtet die vollmundigen Versprechungen der Usbeken deshalb durchaus auch skeptisch. „Wir werden sehen, welche Möglichkeiten der usbekische Staat uns wirklich bietet“, sagt Bachtiosina. „Die Usbeken müssen das alles erst einmal umsetzen.“

Immerhin sorgen die Reformen in Usbekistan in ganz Zentralasien für Aufwind. Denn als eine zusammenhängende Region haben sich die zentralasiatischen Staaten bisher kaum gesehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – in der die Länder wirtschaftlich eng verzahnt waren – hatten sie zunächst nach der jeweils eigenen Identität gesucht. Probleme wie der austrocknende Aralsee wurden auch deshalb nicht gelöst, weil wenig Interesse an regionaler Zusammenarbeit bestand. Das soll sich jetzt ändern, so der usbekische Vize-Außenminister Dilshod Akhatov: „Gleiche Rechte, Wertschätzung und das Interesse an vernünftigen Kompromissen“ sollten die neue Regionalpolitik Usbekistans prägen. „Ziel ist es, Zentralasien zu einer Region der Stabilität, Sicherheit und florierender Entwicklung zu machen.“

Die Basis für eine vertrauensvolle Beziehung

Das ist insofern bemerkenswert, als Usbekistan und Kasachstan seit Jahrzehnten um die Führerschaft in Zentralasien konkurrieren. Zu Sowjetzeiten lag diese beim bevölkerungsreicheren und industrialisierten Usbekistan. Doch weil Despot Karimow sein Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion abschottete, Nasarbajew hingegen Kasachstan für internationale Investoren öffnete, um die riesigen Öl- und Rohstoffvorkommen zu erschließen, löste Kasachstan den Nachbarn schnell ab. Nasarbajews Außenpolitik, teure PR-Kampagnen und das Engagement bei der Lösung des Syrienkonflikts sorgten in den vergangenen Jahren für eine stärkere Präsenz und ein gewisses Renommee Kasachstans auf dem internationalen Parkett. Doch selbst Kasachstan begrüßt jetzt die usbekischen Impulse für eine neue regionale Identität in Zentralasien, wie der kasachische Vize-Außenminister Roman Vassilenko betont: „Entweder wir gewinnen alle zusammen, oder wir gehen gemeinsam unter.“ 

Abgesehen von den derzeitigen politischen Spannungen in Kasachstan ist der Zeitpunkt für die EU also eigentlich günstig, um sich in Zentralasien stärker zu engagieren. Doch worauf läuft deren Zentralasienstrategie überhaupt hinaus? Unter den nebulös anmutenden Schlagworten „Partnerschaft für Resilienz“, „Partnerschaft für Wohlstand“ und „Besser zusammenarbeiten“ hat die EU alle Bereiche zusammengefasst, um den zentralasiatischen Ländern in Sachen „Gute Staatsführung“ auf die Beine zu helfen: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratieentwicklung, Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Sicherheitsarchitektur, Wirtschaftsförderung, Zivilgesellschaft. Bevormunden, so der EU-Sonderbeauftragte für Zentralasien, Peter Burian, wolle man die Länder aber auf keinen Fall: „Die zentralasiatischen Staaten sollen selbst entscheiden, wie sie zusammenarbeiten wollen.“

Kurz nach Veröffentlichung der europäischen Zentralasienstrategie wurde allerdings schon Kritik an ihr laut. Das amerikanische Magazin The Diplomat fragte beispielsweise: „Was gedenkt Europa wirklich zu unternehmen, um in den Schwerpunktbereichen Fortschritte zu erzielen?“ Konkrete Antworten fand The Diplomat nicht. Angesichts der jüngsten Auftritte von Donald Tusk und des lauten Schweigens zu den Repressionen gegenüber den Protesten in Kasachstan erscheint das Profil Europas in Sachen Zentralasien tatsächlich ausgesprochen dürr. Immerhin Kasachstans Vize-Außenminister Vassilenko nimmt die EU in Schutz: „Die EU erscheint völlig unberechtigt als schwacher Partner – vielleicht weil sie aus 28 Ländern besteht“, so Vassilenko. „Aber die EU spielt nach transparenten Regeln, und das ruft Respekt hervor, denn genau das ist die Basis für eine vertrauensvolle Beziehung.“ Dass Vassilenko so deutlich auf die transparenten Spielregeln der EU abhebt, dürfte daran liegen, dass andere Partner der zentralasiatischen Länder genau diese vermissen lassen. Russland und China sind die beiden Großmächte, die ihre Claims in der Region unmissverständlich abgesteckt haben.

China investiert

Russland betrachtet die fünf zentralasiatischen Republiken, die mehr als 70 Jahre zum Sowjetimperium gehörten, nach wie vor als Einflusssphäre. Hunderttausende Migranten aus Zentralasien arbeiten in Russland als billige Arbeitskräfte. Kasachstan ist Gründungsmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion und sieht diese ausschließlich als wirtschaftlichen Zusammenschluss, Russland jedoch verbindet damit auch klar politische Ambitionen. „Obwohl Russland für die zentralasiatischen Staaten bisher wichtigster Wirtschaftspartner ist, spielen umgekehrt für Russland politische und Sicherheitsinteressen eine wichtigere Rolle“, so Peer Teschendorf, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau, der mehrere Jahre lang das Büro der Stiftung in Zentralasien geleitet hat. Der Kreml wolle „hier einen Einflussraum und einen Sicherheitspuffer haben, der Bollwerk ist gegenüber dem Islamismus, von dem sich Russland bedroht fühlt“.

„China allerdings“, so Luca Anceschi, Politologe und Zentralasienexperte an der Universität von Glasgow, „formuliert seine Interessen in der Region präziser und strukturierter als Russland. Dabei geht es um Energie, Infrastruktur, Zölle – das ist ein klarer Rahmen.“ Trotzdem sei Russland über die gemeinsame Historie mit Zentralasien verbunden. „Und diese Verbindungen würde ich nie unterschätzen“, so Anceschi.

China interessiert sich vor allem für Zentralasiens Energieressourcen; Turkmenistan mit den viertgrößten Erdgasreserven der Welt, ist Chinas wichtigster Erdgaslieferant. Vor allem aber das Projekt der neuen Seidenstraße treibt China in Zentralasien voran. Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan sind wichtige Transitländer, um künftig Waren aus China auf dem schnellen Landweg nach Europa zu schaffen.

China baut in der Region deshalb Autobahnen, Bahnlinien, Häfen und riesige Logistikzentren. Allein in Kasachstan betrugen die chinesischen Auslandsinvestitionen im Jahr 2018 mehr als 15 Milliarden US-Dollar. Allerdings setzen chinesische Firmen ihre Projekte in Zentralasien mit chinesischen Arbeitern und chinesischer Finanzierung um; auch die Gewinne fließen zum großen Teil nach China. Obwohl die zentralasiatischen Länder ihre Wirtschaftsmodelle deshalb nicht nachhaltig modernisieren können und sich einseitig von China abhängig machen, sieht Zentralasienspezialist Anceschi in der Partnerschaft mit China ein rentables Modell – und zwar für zentralasiatische Diktatoren: „Diese Art von Investitionen erlauben den Erhalt von lokalem Autoritarismus. China ist wie ein Geschenk des Himmels für die Nasarbajews, Tokajews und andere, weil sie schnell Geld verdienen und ihr Regime verlängern können.“

Scharnierfunktion der Region

Die EU hingegen betont zwar gern ihren fairen Umgang mit Zentralasien, hat aber natürlich auch eigene Interessen: Europa braucht Öl und Gas. Die von der EU massiv geförderte Nabucco-Pipeline, die weiter nördlich verlaufen sollte, wurde 2013 zwar eingestellt. Aber über den südlichen Gaskorridor könnte turkmenisches Gas künftig an Russland vorbei über die Türkei nach Europa fließen. Auch sicherheitspolitisch sind die zentralasiatischen Länder wichtig. Denn wenn auch meist autoritär geführt, sind sie bisher noch politisch stabil und ein Puffer zum krisengeschüttelten Mittleren Osten.

Dennoch ist fraglich, ob sich Europa neben China und Russland in Zentralasien wird behaupten können. „Ganz realistisch gesehen“, so Teschendorf von der Friedrich-Ebert-Stiftung, „hat Europa im Moment nicht die Kraft, sich in einer Region, an die es nicht direkt angeschlossen ist, zu engagieren.“ Zumal die Konflikte innerhalb der EU selbst zu viel Energie kosteten. „Ich sehe in den nächsten Jahren keine Chance, dass sich Europa aktiver in Zentralasien einbringt, obwohl es sinnvoll sein könnte, weil die Region eine Scharnierfunktion hat.“ Eine halbherzige Zentralasienstrategie der EU wird an diesem Dilemma vermutlich nichts ändern.

 

Dieser Text erschien in der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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