Xi Jinpings Reform-Agenda - Die nächste Kulturrevolution

In China zeichnen sich womöglich dramatische Veränderungen ab, Staatspräsident Xi Jinping schwört die Bevölkerung auf Reformen ein. Es geht ihm um die Konsolidierung seiner eigenen Macht. Und darum, für bevorstehende Krisen gewappnet zu sein.

Chinas Präsident Xi Jinping an einem Nebenfluss des Wujiang-Flusses im Kreis Qianxi / picture alliance
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Phillip Orchard ist Analyst beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Jedes Jahr im August versammeln sich die Spitzenpolitiker der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) zu einer geheimen Klausur in einem Strandresort in der Stadt Beidaihe. Das Ereignis ist in der Regel der Auslöser für Chinas alljährliche politische Albernheiten, die von wilden Spekulationen über Machtkämpfe und bevorstehende Anfechtungen der Allmacht von Präsident Xi Jinping geprägt sind. Xi selbst schürt bisweilen die Flammen, indem er für einige Wochen auf mysteriöse Weise aus den staatlichen Medien verschwindet. Gelegentlich gibt es sogar Gerüchte über Schießereien in den Straßen von Peking.

In Jahren wie diesem – also in den Jahren vor den wichtigen Parteitagen der KPC, die alle zehn Jahre stattfinden – wird die Gerüchteküche in der Regel besonders heiß. Dieses Jahr jedoch macht Xi aus der Albernheit eine ernsthafte Sache. Der Sommer war bereits heiß, denn Peking feierte den 100. Geburtstag der KPC, ganz zu schweigen von den Offensiven gegen den Technologie- und den privaten Bildungssektor. 

Seit dem Konklave in Beidaihe (das vermutlich vor etwa drei Wochen stattfand) hat Xi den Schwerpunkt auf vermeintliche kulturelle Geißeln verlagert, die von der Videospielsucht über das Anhimmeln von Berühmtheiten bis hin zu den Übeln der Botox-Kapitalisten reichen. Begleitet wurde dies von einer auffälligen Zunahme neo-maoistischer Rhetorik in den staatlichen Medien, wobei der Zeitgeist in einem weitverbreiteten Essay zum Ausdruck kam, in dem das harte Durchgreifen als „eine tiefgreifende Revolution ... eine Rückkehr zum Wesen des Sozialismus“ beschrieben wurde. Womit im Wesentlichen verkündet werden sollte, dass „das Rot zurückgekehrt ist“.

Handelt es sich hier um eine Wiederholung des Gewohnten, oder treibt China in Richtung einer zweiten Kulturrevolution?

Große Vorhaben

Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2012 hat Xi eine ehrgeizige Reformagenda vorangetrieben. Die weitverbreitete Erkenntnis unter den Machthabern der KPC, dass die Partei ohne einen starken Mann an der Spitze nicht überleben würde – einem, der in der Lage ist, Kämpfe gegen festgefahrene Interessen und gegen die Reichen zu gewinnen sowie die endemische Korruption im Regulierungsapparat und im Militär auszurotten –, entspricht in etwa dem, was Xis Machtfülle überhaupt erst ermöglicht hat. Und Xis Ansatz, einen so großen und schwerfälligen Staat wie China zu regieren, bestand im Allgemeinen darin, die Grenzen auszutesten, inwieweit ein einzelner Mann und sein innerer Kreis effektiv Mikromanagement betreiben können.

Für den Großteil von Xis Reformen gibt es zwei Gründe. Den einen könnte man als solide Politik bezeichnen, die darauf abzielt, eine der vielen potenziellen Mega-Krisen abzuwenden, die Parteiführer nachts wach halten – ein kaskadenartiger Finanzcrash etwa, riesige Umweltprobleme, Korruption und institutionelle Fäulnis und so weiter. Der andere Grund besteht darin, die Kontrolle der KPC über so ziemlich jeden wichtigen Machthebel zu festigen, einschließlich der Propaganda, der Verteilung des Wohlstands und der Volksbefreiungsarmee.

Die jüngste Kampagne ist jedoch auf die Reform der chinesischen Kultur selbst ausgerichtet. Nach der schieren Zahl der sich im Fadenkreuz der KPC befindlichen innenpolitischen Ziele zu urteilen, gibt es einiges, was China daran hindert (um es mit den Worten des oben erwähnten Aufsatzes auszudrücken), „das ganze kulturelle Chaos zu kontrollieren“ und eine „lebendige, gesunde, männliche, starke und volksnahe Kultur“ zu entwickeln.

Da wären zunächst die geldgierigen Methoden von Chinas reichen Kapitalisten, die sich einer „Transformation vom Kapital im Zentrum zum Menschen im Zentrum“ widersetzen. Seit Juli rühren Xi und die staatlichen Medien die Werbetrommel für den „gemeinsamen Wohlstand“. Hinter dem rhetorischen Rauch verbirgt sich Feuer: Berichten zufolge ist eine Reihe neuer politischer Maßnahmen geplant, die auf „exzessive Einkommen“ abzielen – und das jüngste Vorgehen gegen Tech-Unternehmen hat gezeigt, wie weit Peking zu gehen bereit ist, um sie auf Linie zu bringen. Hochrangige chinesische Konzerne sind offensichtlich aufgeschreckt worden; die Spenden für wohltätige Zwecke sind im vorigen Monat sprunghaft angestiegen.

Westliche Kultur als Gefahr

Hinzu kommt der Einfluss der westlichen Kultur: Peking hat neue Maßnahmen ergriffen, um den Unterhaltungssektor stärker in den Griff zu bekommen und den Kult um Berühmtheiten in den sozialen Medien einzudämmen (mindestens einer dieser Prominenten steht auch wegen Steuerhinterziehung im Visier der Öffentlichkeit). Künstler, die nicht den „politischen oder moralischen Standards“ entsprechen, werden von den Sendern und Streaming-Plattformen verbannt. Am 2. September ordneten die chinesischen Regulierungsbehörden an, dass Unterhaltungssendungen keine „Weicheier“-Prominenten mehr zeigen dürfen, um den schädlichen Einfluss verweichlichter Männer anzuprangern.

Und dann ist da noch das Bildungswesen. Im Juli hat Peking der lukrativen privaten Nachhilfeindustrie den Garaus gemacht, indem es von den meisten Unternehmen verlangte, sich in gemeinnützige Einrichtungen umzuwandeln. Damit sollte zum einen der gleichberechtigte Zugang zur Bildung unabhängig von der sozialen Schicht sichergestellt werden. Ein weiterer Grund ist der seit langem bestehende Wunsch Pekings, zu kontrollieren, was die Kinder heutzutage lernen. Von diesem Monat an wird die gleichnamige Ideologie des Präsidenten („Xi Jinping-Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära“) in den unteren Stufen der Grundschulen gelehrt. Um den trockenen Stoff für Grundschüler interessanter zu machen, wird sie als „Großvater Xis Weisheiten über gute partei- und landesliebende Bürger“ umgedeutet. Noch dazu verbot Peking vorigen Monat Minderjährigen das Spielen von Videogames an Schulabenden und bis auf ein paar Stunden am Wochenende.

In Verbindung mit den staatlichen Medien, die aufrührerische maoistische Artikel verbreiten, hat all dies die Besorgnis geweckt, dass sich eine zweite Große Kulturrevolution anbahnt. Die erste, die Mao 1966 auslöste, um sich an die Macht zu klammern, kostete Hunderttausende von Menschen das Leben und warf die Modernisierung der chinesischen Wirtschaft und des Staates im Grunde um eine ganze Generation zurück. Die Befürchtung, dass Xis eifrige Pflege eines Mao-ähnlichen Personenkults ihm die Macht geben wird, das bestehende System niederzureißen, um es zu retten, ist verständlich.

Sicherlich gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen heute und damals. Sowohl Mao als auch Xi haben ihre Bereitschaft gezeigt, das Wirtschaftswachstum für die Macht der Partei zu opfern. Wie Mao scheint auch Xi wenig Skrupel zu haben, die Reichen zum Sündenbock zu machen und sie als kapitalistische, konterrevolutionäre Diener des Westens abzustempeln. Beide glauben fest an die Macht und Bedeutung der Ideologie und an das zersetzende Potenzial ausländischer Einflüsse. Beide hatten guten Grund zu der Annahme, dass ihre Macht nie ganz so sicher ist, wie sie scheint. Und beide wissen, dass die Versorgung der Massen auf Kosten der Eliten an der Küste ein guter Weg ist, um zu bekommen, was man will.

Xi und Mao

Aber es gibt auch einige wichtige Unterschiede. Zum einen ist es zweifelhaft, dass Xi damit versucht, verlorene Macht zurückzugewinnen oder eine größere interne Herausforderung abzuwehren. Das Gegenteil war der Fall bei Mao, der 1966 – nachdem die Katastrophen des „Großen Sprungs nach vorn“ bekannt geworden waren – zu einer bloßen Galionsfigur verkommen war. Da weithin davon ausgegangen wird, dass Xi entgegen den Erwartungen eine dritte Amtszeit als Parteisekretär auf dem nächstjährigen Parteitag anstrebt (oder sich sogar selbst in einen höheren Rang befördert ), sind anhaltende Beschwerden über seine Machtkonsolidierung aus einigen Ecken der Parteielite unvermeidlich. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es jedoch fast unmöglich, dass eine Fraktion ihn zu Fall bringt, ohne die Partei selbst ernsthaft zu gefährden.

Inzwischen gibt es Anzeichen dafür, dass Xi zu verhindern versucht, dass der kulturelle Reformschub aus dem Ruder läuft. Die Aufrufe zum „gemeinsamen Wohlstand“ in den staatlichen Medien wurden beispielsweise von einer Reihe von Artikeln begleitet, die darauf abzielen, die schlimmsten Befürchtungen der chinesischen Geschäftswelt zu beschwichtigen. Im Großen und Ganzen lautete die Botschaft: Wir denken nicht, dass es schlecht ist, reich zu sein, und wollen sogar, dass mehr Menschen reich werden. Aber tut es zu unseren Bedingungen!

Dies entspricht ganz der Philosophie von Xi, der die Märkte als wichtig und lediglich als überwachungsbedürftig ansieht. Die staatlichen Medien haben einige der aufrührerischsten Passagen eines bekannten neo-maoistischen Essays herausgeschnitten – darunter eine Zeile, in der kürzlich ins Visier genommene Tech-Giganten wie Ant Group und Didi als ausländische Agenten bezeichnet wurden, die sich gegen das Volk stellen. Und zum ersten Mal schien Xi, dessen eigener Vater in den 1960er-Jahren beseitigt und zur Arbeit in eine Fabrik geschickt wurde, die Kulturrevolution implizit anzuprangern – wenn auch nur in Form einer Fußnote in einem der neuen Grundschullehrbücher, in denen er seine großväterlichen Gedanken ausrollt.

In Wirklichkeit ist zu bezweifeln, dass es sich um ein verzweifeltes Spiel von Xi handelt, um sich selbst zu retten und seine Herrschaft vor dem Parteikongress zu verlängern. Es gibt auch keinen Grund zu glauben, dass er die Wirtschaft um der Reinheit der Partei willen zerstören würde. Es ist lediglich sein jüngster Schachzug im Dienste mehrerer lang gehegter Ziele – insbesondere der Suche nach einem Weg, China zu regieren und die existenziellen Bedrohungen für seine Stabilität einzudämmen, ohne gleichzeitig seine Dynamik zu ersticken.

Der drohende Absturz

Bislang hat Xi versucht, dies mit politischem Mikromanagement zu erreichen. Deshalb wird er niemals genug Macht haben. Eine Regierung ist in ihren Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Daher scheint Xi darauf bedacht zu sein, die Öffentlichkeit im Großen und Ganzen dazu zu bringen, nach der gleichen Melodie zu marschieren und sich freiwillig Reformen zu unterwerfen.

Wenn der Kampagne eine besondere Dringlichkeit innewohnt, dann deshalb, weil Peking guten Grund zu der Annahme hat, dass die Gefahr eines raschen Niedergangs besteht. Das Wirtschaftswachstum in China hat sich über einen längeren Zeitraum verlangsamt, weil das alte Modell, das den Aufstieg des Landes begründete, nicht mehr funktioniert. Ohnehin sind unzählige Chinesen immer noch bitterarm. Die Beziehungen zu den wichtigsten Abnehmern chinesischer Produkte und Partnern chinesischer Investitionen werden sich höchstwahrscheinlich verschlechtern; ein Zusammenstoß mit den USA und ihren Verbündeten ist nicht auszuschließen. 

Angesichts des enormen Drucks, dem sein Land sowohl von innen als auch von außen ausgesetzt ist, drängt Xi auf ein China, das voll und ganz hinter ihm steht, wenn die Zeit für schmerzhafte Entscheidungen oder eine unvermeidliche Periode schwerer Entbehrungen kommen sollte. Mit anderen Worten: In Xis China steht die nächste Krise unweigerlich vor der Tür. Dies ist kein Land für Weicheier.

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