Wladimir Selenski - Volksdiener mit Humor

Am Sonntag wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt. Die besten Chancen hat der Satiriker Wladimir Selenski, der – kein Witz – in der beliebten TV-Serie „Diener des Volkes“ einen Präsidenten spielt. Ein Porträt

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Wladimir Selenski ist jeden Samstag mit seiner Comedyshow im Fernsehen / Dimitriy Peretrutov
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Stellen Sie sich vor, ein Mensch irgendwo zwischen Harald Schmidt und Mario Barth würde sich um den Posten des Präsidenten in einem europäischen Land bewerben – und die Mehrheit der Bürger würde sagen: Das ist unser Mann. Sie sagen jetzt vielleicht: Na gut, schau nach Italien, der Komiker Beppe Grillo hat dort mit seinen Fünf Sternen die Parteienlandschaft umge­krempelt! Aber das Land, um das es hier geht, steht seit fünf Jahren in einem kriegerischen Konflikt mit Russland, im November wurde dort wegen des aktuellen Konflikts im Asowschen Meer der Kriegszustand ausgerufen, dieses Land ist der Zankapfel zwischen dem Westen und Russland – zudem gehört es zu den ärmsten Ländern Europas. Kann ein solcher Staat von einer Witzfigur regiert werden?

Ja, kann es, sagen die jüngsten Umfragen: Der bekannteste ukrainische Kabarettist würde in der Stichwahl die Favoritin und erfahrene Politikerin Julia Timoschenko schlagen. Dabei hat Wladimir Selenski, 40 Jahre alt, noch nicht einmal offiziell seine Kandidatur für die Ende März anberaumten Wahlen bekannt gegeben.

Das Land ächzt unter dem Konflikt mit Russland

Knapp vier Jahre ist es her, dass die Ukraine nach der Maidan-Revolution und der Flucht des korrupten Viktor Janukowitsch einen neuen Präsidenten wählte. Damals kam der Multimillionär und Schokoladenfabrikant Petro Poroschenko ins Amt, ein Mann, der immer zur politisch-wirtschaftlichen Elite gehört, der sich aber früh auf die Seite der Protestler gestellt hatte. Poroschenko hat das Land und seine gut 40 Millionen Einwohner mehr schlecht als recht durch die vergangenen Jahre geführt und steht in aktuellen Umfragen entsprechend da. Aber man will ihn um diesen Posten auch nicht beneiden: Das Land entging dank westlicher Kredite zwar dem Staatsbankrott, musste dafür aber Wirtschaftsreformen durchführen, die besonders die Schwachen treffen, etwa durch eine schrittweise Erhöhung der Energiepreise auf Marktniveau. Die Wirtschaft schrumpfte von 180 Milliarden US-Dollar im Jahr 2013 bis 2015 um die Hälfte, auch weil Poroschenko die engen wirtschaftlichen Bande mit Russland weitgehend zerschlug. Erst seit dem vergangenen Jahr wächst die Wirtschaft wieder deutlich.

Gleichzeitig ächzt das Land unter dem andauernden kriegerischen Konflikt mit Russland: Im umkämpften Donbass starben bislang insgesamt weit über 10 000 Menschen, etwa 2500 davon ukrainische Soldaten. All das führt zu einem beispiellosen Braindrain: Pro Jahr, so erzählte es jüngst Außenminister ­Pawlo Klimkin, verließen eine Million Ukrainer das Land.

Politische Kontrolle der Justiz

Gewonnen hatte der 53-jährige Poroschenko die Wahl im Mai 2014 mit dem Versprechen, bald für Frieden zu sorgen. Das hat er nicht gehalten, das konnte er nicht halten, weil – trotz aller Kritik an Kiew – der Schlüssel dafür in Moskau liegt. Dafür versuchte Poroschenko, an der Kirchenfront gegen Moskau zu siegen: Vor wenigen Wochen gewährte der Patriarch von Konstantinopel, pro forma der mächtigste Mann der orthodoxen Kirchen, auf Poroschenkos Drängen der Ukraine eine eigenständige Kirche. Aber die Bischöfe der mächtigen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die seit Jahrhunderten dem Moskauer Patriarchat unterstehen, denken bislang nicht daran, in ein neues Konstrukt einzutreten, in dem sie möglicherweise Macht und Einkommen an andere abtreten müssten. Der Ausgang ist offen.

Ansonsten ist Poroschenko den Traditionen der ukrainischen Politik treu geblieben: Die Unterstützung seiner Politik sichert er sich dadurch, dass er auch offensichtlich korrupte Beamte und Regionalfürsten unbehelligt lässt. Es ist kein Wunder, dass der Reformeifer in den vergangenen vier Jahren gerade um den Justizsektor einen großen Bogen gemacht hat. Nichts ist so wichtig in der ukrainischen Politik wie die politische Kontrolle der Justiz. Nun zieht der Schokoladenzar, dessen Roshen-Süßigkeitenläden in Kiew fast allgegenwärtig sind, mit dem Dreiklang „Armee, Sprache und Glaube“ in den Wahlkampf. Im Parlament erklärte er: „Das ist die Formel der heutigen ukrainischen Identität. Die Armee schützt unsere Erde. Die Sprache schützt unser Herz. Und die Kirche schützt unsere Seele.“ Es versteht sich von selbst, dass Poroschenko die ukrainische Sprache meint.

Abschottung gegen Russland

Aber jüngste Umfragen zeigen, dass er mit dieser religiös-patriotischen Kampagne falsch liegen könnte. Die gegen das Russische gerichtete Sprachenpolitik trifft auf den Widerstand der traditionell russischsprachigen Regionen: Laut einem renommierten Kiewer Umfrageinstitut wächst seit dem vergangenen Jahr wieder die Zahl jener Ukrainer, die dafür eintreten, in der Verfassung Ukrainisch und Russisch als Landessprachen festzuschreiben. Im Februar 2018 waren das 34 Prozent der Ukrainer, in der Süd­ukraine sogar zwei Drittel der Menschen, so viele wie noch nie.

Auch den harten Abschottungskurs gegenüber Russland haben immer mehr Ukrainer satt: Im September erklärten 48 Prozent der Ukrainer, dass sie gegenüber Russland positiv eingestellt seien. 2015 lag dieser Wert bei 30 Prozent. Die aktuellen Zahlen sind weit von den Zahlen von 2012 entfernt, als 80 Prozent der Ukrainer positiv gegenüber Russland eingestellt waren – aber wer will es ihnen angesichts der Ereignisse verdenken?

„Bring the boys back home“

Und eben hier kommt Wladimir Selenski ins Spiel. Selenski stammt aus Kriwoi Rog (ukrainisch Krywyj Rih), einer Stadt in der Südukraine, die von der Schwerindustrie lebt und traditionell eher russischsprachig ist. Kein Wunder, dass Selenski im Kino und auf der Bühne praktisch nur Russisch spricht. Der 40-Jährige mit der rauen Stimme und der lockeren Zunge ist omnipräsent: jeden Samstag im Fernsehen mit seiner Comedyshow (in der sowohl Putin als auch die ukrainische Politikerkaste ihr Fett wegkriegen), in den erfolgreichsten ukrainischen Kinofilmen der letzten Jahre (eher leichte Unterhaltung) und in den sozialen Netzwerken, wo ihm mehr als zwei Millionen Ukrainer folgen.

Selenski unterstützte zwar nach dem Beginn des militärischen Konflikts mit Auftritten an der Front die ukrainische Armee, aber er steht für einen pragmatischen Kurs nach dem Motto „Bring the boys back home“. Als die russische Marine im November 23 ukrainische Matrosen zusammen mit ihren Schiffen festsetzte, erklärte Selenski in einem kurzen Video, das allein auf Facebook zwei Millionen Leute sahen: „Alle diskutieren die Frage, ob wir den Kriegszustand einführen sollen oder nicht. Aber ich wende mich an alle Politiker: Alle sollten sich darauf konzentrieren, die Jungs nach Hause zu bringen.“ Das trifft den Nerv der meisten Ukrainer: Alle Umfragen der vergangenen Monate zeigen, dass Frieden ganz oben auf der Wunschliste der Ukrainer steht.

Gegenmodell zu den bewährten Politikern

Aber kann Selenski, der bisher zwar ein erfolgreiches Produktionsstudio aufgebaut, sich aber von der Politik ferngehalten hat, ein Land regieren? Es ist gerade die Nichtzugehörigkeit zum Establishment, die ihm zum Vorteil gereicht. Selenskis zwei wichtigste Konkurrenten, Poroschenko und Julia Timoschenko, stecken schon seit zwei Jahrzehnten im Sumpf der ukrainischen Politik fest, sie stehen für Hinterzimmerpolitik, für geheime Absprachen mit Oligarchen, für große politische Versprechen, die nach den Wahlen vergessen sind. Die Zahl derer, die in Umfragen angeben, unter keinen Umständen für sie zu stimmen, liegen für Poroschenko bei über 50 Prozent, für Timoschenko bei 27 Prozent.

Wladimir Selenski dagegen hat es geschafft, sich mit einer Filmrolle als Gegenmodell zu den bewährten Politikern zu bewerben: Seit 2015 läuft mit großem Erfolg die Serie „Diener des Volkes“ im ukrainischen Fernsehen. Selenski spielt dort einen Geschichtslehrer, der ohne jegliche Unterstützung der Oli­garchen zum Präsidenten gewählt wird und fortan sein Volk mit bestechender Ehrlichkeit und Gerechtigkeit beeindruckt – eben ein wahrhafter „Diener des Volkes“.  „Die Menschen glauben tatsächlich, dass Selenski als Präsident so sein wird, wie er es in der Serie gezeigt hat“, meint der erfahrene Kiewer Journalist Waleri Kalnysch, der selbst überrascht ist von der Naivität seiner Mitbürger. Vielleicht, so gibt er zu bedenken, ist all die Geheimnistuerei über die mögliche Kandidatur aber auch nur Marketing, um die Fortsetzung der Serie zu bewerben.

Die Karten werden neu gemischt

Aber Ende November schrieb das renommierte ukrainische Magazin Nowoje Wremja (Neue Zeit), Selenski habe schon im Frühjahr politische Berater konsultiert, um auszuloten, wie groß seine Chancen seien. Und Igor Kolomoiski, der cleverste der ukrainischen Oligarchen (auf seinem Sender laufen auch Selenskis Serien und Shows), habe ihm jüngst gut zugeredet: „Schau, was du für Umfragewerte hast. Du musst es probieren!“

Aber ist Selenski damit am Ende nur die nächste Figur in den Händen der Oligarchen, ohne deren Hilfe bislang niemand Präsident werden konnte? Ukrainischen Medien sagte Oligarch Kolomoiski jüngst, Julia Timoschenko sei unter allen bisherigen Kandidaten die würdigste. So würde der Oligarch, der wegen eines Konflikts mit Poroschenko nun in Genf lebt, in jedem Fall gewinnen, ob mit oder ohne Selenski. „Die Karten werden neu gemischt, wenn die Wahlbehörde am 9. Februar offiziell die Kandidaten registriert“, gibt Journalist Kalnysch zu bedenken. „Und für niemanden ist es wichtiger, Präsidentin zu werden, als für Timoschenko.“

Dies ist ein Artikel aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.









 

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