Wahlergebnis Großbritannien - Volksentscheid statt Parlamentswahl

Das Wahlergebnis in Großbritannien zeigt: Die Labour-Partei erlebt ihre schlimmste Niederlage seit Jahrzehnten. Das liegt auch am umstrittenen Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Wie und warum die eigenen Anhänger mit ihrer Partei hadern, zeigen diese drei Interviews

Jeremy Corbyn und seine Labour-Partei liegen am Boden / picture alliance
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Frederick Leo studierte Geschichte in Oxford, Großbritannien. Er betreibt das englischsprachige Think Tank Omelas Institute.

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Großbritannien hat abgestimmt: Bis um 22 Uhr Ortszeit konnten die Bürger ihre Stimme abgeben und entscheiden, wie es mit ihrem Land weitergehen soll. Dabei stand viel auf dem Spiel: Die Regelung des Brexit, der seit drei Jahren das Land spaltet, aber auch der Umfang von Sozialleistungen, der Zusstand des National Health Service und das Verhältnis zu Donald Trump, der jenseits des Atlantik auf einen Verbündeten lauert.

Insbesondere die Labour-Partei hat unter ihrem umstrittenen Vorsitzenden Jeremy Corbyn ein Desaster erlebt. Ich habe gleichaltrige Labour-Mitglieder und Aktivisten befragt, wie sie sich angesichts der schon vorher absehbaren Sachlage fühlen. Ich kenne Sie aus Studienzeiten und weiß, wie sehr manche von ihnen in der letzten Wahl für Jeremy Corbyn und seine frisch umgekrempelte Partei gebrannt haben. Diesmal aber beobachtete ich bei ihnen eine ambivalentere Gefühlslage im Hinblick auf ihre Partei. Das lässt Rückschlüsse zu auf das verheerende Wahlergebnis von Labour.

Alexander, 23 Jahre

Alexander, 23, war als Student Schatzmeister des Labour-Studentenvereins seiner Uni und besuchte als Delegierter auch die Young Labour Conference, also in etwa das Britische Pendant des Juso-Bundeskongress’. Ich kenne ihn als politischen Visionär, aber heute handelt es sich bei seinen Visionen vor allem um Negativbilder. „In der Lage, in der wir uns als Progressive aller Art zur Zeit dieser Wahl befinden, sind wir entweder pragmatisch, oder wir sind nichts“, erklärt er mir, und spielt damit auf ein Zitat des Labour-Premierministers Harold Wilson an. „Die einzigen Alternativen dazu, taktisch für die Anti-Tory Kandidaten mit den besten Siegeschancen zu stimmen, sind Kapitulation und Ruin“.

Für so einen Ruin würden die Tories mit ihrer Bereitschaft, einen No-Deal Brexit einzugehen, sorgen. Da hat Alexander keine Illusionen: „Die einzige Partei, die Chancen auf eine absolute Mehrheit hat, ist die Konservative Partei. Die einzige Alternative, und das ist schon optimistisch gedacht, wäre eine breite Koalition aus Labour, Lib-Dems, den Schottischen Nationalisten und den Kleinparteien. Das bedeutet, dass das best-case-scenario unter den zu erwartenden Wahlergebnissen eine Zusammenarbeit der progressiven Parteien voraussetzt“.

Wichtig ist nicht mehr, eine politische Vision umzusetzen, sondern eine andere, albtraumartige zu verhindern. Dementsprechend ist sein Urteil klar: „Damit ein solches Szenario Realität wird, müssen wir auch während der Wahl schon zusammenarbeiten, und nicht der alt-erprobten Tradition folgen, unsere Stimmen vor dem Altar der parteipolitischen Zersplitterung gegeneinander auszuspielen“.

John, 21 Jahre

Während sich Alexander für ein progressives Wahlbündnis gegen die Tories ausspricht, wirbt auch John, 21, für Flexibilität und Pragmatismus bei der Wahl. Dabei verweißt er jedoch weniger auf die Gesamtlage des Landes und eher auf das Wesen des britishen Wahlsystems allgemein. John hat 2017 für die Labour-Partei gestimmt, sich aber schon bei den Europawahlen für die Greens entschieden. Für die wählt er auch dieses Mal. „Als Young Labour-Mitglied, engagierter Sozialist und entschlossener Gegner von Antisemitismus war mir bewusst, dass bei mir, egal, wo schlusseindlich mein Kreuz landet, ein bitterer Nachgeschmack bleiben würde.

Im Wahlkreis Cotswalds, einem der konservativsten des Landes, stehen mir links und mittig die Greens, die Lib-Dems und Labour zur Auswahl. Alle drei haben die selbe Gewinnchance, und die liegt bei Null.“ Die geringe Tragweite seiner Entscheidung ist ihm bewusst: „Meine Stimme für die Greens war wohl bestenfalls eine symbolische, aber ich wollte ein Zeichen setzen wegen des Antisemitismus in der Labour-Partei und trotzdem für eine wirklich linke Partei stimmen und auch das Problem des Klimawandels so sehr wie möglich ins Visier rücken.“

Allgemein stört ihn, dass das Prinzip der Mehrheitswahl, welches in England gilt, Abstimmungen nach dem Gewissen entwertet. „Durch unser Zweiparteiensystem werden viele Wahlkreise in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und müssen zwischen Pest und Cholera entscheiden.“ Daraus zieht er die entsprechenden Schlussfolgerungen:

„Hätte ich mich in einem Wahlkreis befunden, wo das Rennen knapp ist, hätte ich mich für Labour oder eben den Kandidaten mit den besten Gewinnchancen gegen die Tories entschieden. Ich bedaure meine Entscheidung nicht, aber ich bedaure, in einem elektoralen System zu leben, in dem meine Stimme für eine Drittpartei einfach weggeworfen wird, zu einem Akt der sinnlosen Rebellion wird“.

Dani, 22 Jahre

Im Wahlkreis von Dani, 22, findet so ein knappes Rennen statt. 2017 konnte sich in Warwick-Leamington der Kandidat der Labour-Partei mit 46,7 Prozent knapp gegen den der Tories durchsetzen – letzterer unterlag mit 44,4 Prozent der Stimmen. Nun kommt wieder alles darauf an – gerade mal 1.200 Stimmen könnten die Wahl entscheiden. Drittparteien haben dabei keine Chance. Aus den eigenen politischen Positionen macht Dani kein Geheimnis:

„Die Aussicht auf fünf weitere Jahre unter den Tories erfüllt mich mit Entsetzen. Ich habe Angst vor der weiteren Verschlechterung der materiellen Umstände der Ärmsten und Verwundbarsten in Großbritannien; vor einer Intensivierung des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und der Faschismus-Sympathie, die sich schon jetzt schleichend über unseren Kontinent ausbreiten; und um meine persönliche Vision davon, was eine gerechte und menschliche Gesellschaft ausmacht, von der wir immer weiter wegdriften.“

Dabei unterstützt Dani, verglichen mit den anderen Befragten, noch gar nicht so lange Labour: „Bei meiner ersten Wahl, da war ich 19, habe ich für einen Lib-Dem Kandidaten gestimmt. Ich hatte ihn persönlich getroffen und respektierte ihr sehr. Das tue ich auch immer noch, aber heute stimme ich taktisch für Labour. Ich bin zwar immer schon linksorientiert gewesen, komme aber aus einem eher konservativen Elternhaus. Also habe ich erst in den letzten zwei Jahren ein Interesse für Parteipolitik entwickelt. Das hat mir natürlich auch die Bedeutung von Wahlen klargemacht. Da ich etwas länger gebraucht habe, um mich politisch zu orientieren, versuche ich nun, soviel wie möglich dazu beizutragen, auch andere dafür zu gewinnen, zu wählen“.

Bei Gesprächen mit Mitbürgern stößt Dani aber auch oft auf Unmut, besonders was den Chef der Partei betrifft: „Nicht selten trifft man auf Leute, die keine gute Meinung von Jeremy Corbyn haben. Oft machen sie ihre Ablehnung aber nicht an den programmatischen Aspekten fest, für die er steht. Ich glaube, dass die mediale Behandlung seiner Person dabei eine große Rolle spielt.“ Trotzdem haben die Wähler in Warwick Leamington „ein Gespür dafür, wie man taktisch abstimmt“. Wie das Rennen am Ende ausgeht, ist immer noch nicht abzusehen. Aber Dani bewahrt kühlen Kopf und fordert Wähler auf, strategisch abzustimmen – in diesem Fall für Labour.

Volksentscheid statt Parlamentswahl

Allgemein sind also auch junge Labour-Mitglieder der Auffassung, dass es sich bei der aktuellen Abstimmung längst nicht mehr um gewöhnliche Wahlen handelt. Man wählt nicht das eine Parteiprogramm oder den einen Politiker – vielmehr wird mit deiser Wahl ein Weg eingeschlagen, von dem es kein Zurück mehr gibt. Das, was auf dem Spiel steht – das bestätigen alle – ist enorm. Dafür, so argumentieren die Befragten, muss man Kompromisse eingehen, darf man pragmatisch sein – aber eben auch für die eigene Partei stimmen, wenn darin die strategische Option besteht.

Auf eine Art handelte es sich hier weniger um eine Parlamentswahl und eher um einen weiteren Volkentscheid zwischen zwei Perspektiven, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Anders formuliert: Das Brexit-Votum hat nun der britischen Demokratie allgemein seinen Stempel aufgedrückt.

 

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