Wahlen in Brasilien - Tödliches Kommando

Bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien ist die Stimmung nach dem Attentat auf den rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro aufgeheizt. Schleichend übernimmt das Militär die Macht im Land. Und die Demokratie steht am Abgrund

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Polizeieinsatz im von Gangs kontrollierten Slum Manguinhos in Rio / picture alliance
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Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika u.a. für Die Zeit, Focus und Capital.

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Hunderte Anhänger haben sich in der südbrasilianischen Stadt Juiz de Fora versammelt, um ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahl zu feiern. Sie tragen ihren Helden, den rechtsextremen Jair Bolsonaro, auf Schultern durch die jubelnde Menge. Bolsonaro genießt den Empfang, immer wieder hebt er seinen Daumen hoch, als er für die Fotografen posiert. Immer wieder zeigt er auf seine Brust, wo sein Wahlslogan steht: „Meu partido e o Brasil“ (Meine Partei ist Brasilien). Dann sackt er plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorn und greift sich nach dem Bauch. Das T-Shirt färbt sich rot.

Unbemerkt von den Leibwächtern schlich sich der Attentäter an Bolsonaro heran. Als er neben dem Politiker stand, holte er ein Messer heraus und stach zu. Bolsonaro wurde sofort zum Krankenwagen getragen und ins Krankenhaus transportiert, wo Ärzte ihn operierten. Das Messer verletzte eine Arterie und den Darm, es kratzte die Lunge und die Leber. Bolsonaro verlor viel Blut, doch sein Zustand ist stabil. Der Angreifer, Adelio Bispo de Oliveira, soll einer linksradikalen Gruppierung nahestehen. Er habe „auf Anweisung Gottes“ gehandelt, gab er zu Protokoll. Er habe sich an Bolsonaros rassistischen Ansichten und Vorurteilen gegenüber Schwarzen, Minderheiten und Frauen gestört, erklärte sein Anwalt. Zum Zeitpunkt des Anschlags am 6. September führte Bolsonaro mit 22 Prozent der Stimmen die Liste der 13 Präsidentschaftsbewerber an und galt als sicherer Kandidat für die Stichwahl.

Der Ruf nach einem starken Mann

Das Attentat zeigt schlaglichtartig die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft und die Verrohung des politischen Diskurses, zu dem Bolsonaro selbst kräftig beigetragen hat. Denn er verachtet Menschen mit dunkler Hautfarbe – in einem Land, wo die Hälfte der Bevölkerung dunkelhäutig ist. Nun dürfte seine Popularität unter der weißen Mittelklasse noch wachsen – als Opfer eines feigen Anschlags der „Kommunisten“, wie Jair Bolsonaro alle Parteien links der Mitte nennt. Der Rechtsruck der brasilianischen Gesellschaft dürfte sich noch weiter verstärken.

Die Christusstatue auf dem Berg Corcovado, eines der Wahrzeichen von Rio

Brasilien, das vor zehn Jahren als aufstrebende wirtschaftliche und politische Regionalmacht gefeiert wurde, steht am Scheideweg. Das Land versinkt in Gewalt – 2017 starben fast 65 000 Brasilianer eines gewaltsamen Todes. Die Wirtschaft stottert, die Infrastruktur ist marode, der Schulunterricht unbefriedigend, das Gesundheitssystem ineffizient. Der verheerende Brand im Nationalmuseum von Rio de Janeiro, bei dem Anfang September 2018 fast die gesamte Sammlung zerstört wurde, war wie ein symbolischer Beleg für das Staatsversagen.

Die Wähler sind frustriert; Rufe nach einem starken Mann werden laut, nach einem, der den Stall ausmistet. Und niemand profitiert von dieser Stimmung mehr als das Militär. Nur 33 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur greifen hochrangige Generäle wieder ganz offen in das politische Geschehen ein. Ihre Botschaft ist simpel: Sie müssten das Land vor seinen korrupten politischen Eliten retten, die die rasende Gewalt nicht zügeln könnten, die Wirtschaft schlecht verwalteten und schamlos Milliarden von Dollars gestohlen hätten. Um den „Absturz des Landes ins Chaos zu verhindern“, erwägen manche Generäle gar einen Militärputsch. „Vielen Menschen in Brasilien gefällt die Idee, dass das Militär die gegenwärtige politische Klasse verjagt“, sagt Mauricio Santoro, Politikwissenschaftler an der Staatsuniversität von Rio de Janeiro, „und sechs Monate später Neuwahlen organisiert.“

Vertrauen in die Regierung erschüttert

Das Vertrauen der Brasilianer in Parteien und Politiker wurde vom Petrolão-Skandal, dessen Aufarbeitung schon vier Jahre dauert, in den Grundfesten erschüttert. Bei der Vergabe von Aufträgen durch den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras flossen gigantische Bestechungsgelder an Politiker aller Couleur. Der Konzern schätzt die Verluste auf rund zwei Milliarden Dollar. Dutzende Politiker und Unternehmer sitzen bereits im Gefängnis, gegen 50 Senatoren wird im Rahmen der Operation „Lava Jato“ (Hochdruckreinigung) weiter ermittelt. Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der Brasilien von 2003 bis 2011 regierte, wurde wegen Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt und sitzt seit April im Gefängnis von Curitiba. Auch Interimspräsident Michel Temer steht unter Verdacht.

Laut einer Umfrage von Latinobarómetro sind nur 13 Prozent der Brasilianer mit dem Zustand der Demokratie in ihrem Land zufrieden – das ist weniger als in jedem anderen Land des Kontinents. Der Regierung Temer vertrauen gerade noch 6 Prozent der Bevölkerung. Die Streitkräfte schneiden dagegen glänzend ab: Acht von zehn Befragten haben eine positive Meinung von der Armee. Parolen von Recht und Ordnung erfreuen sich großer Popularität, Werte wie Disziplin und Patriotismus stehen hoch im Kurs.

Brasiliens Ex- Präsident Lula da Silva während einer politischen Veranstaltung

Möglicherweise werden die Militärs aber keinen Waffengang brauchen, um das Land zu übernehmen. Bei den Wahlen am 7. Oktober kandidieren fast 100 Militärveteranen für das Parlament und den Senat. Ex-General Eliéser Girão Monteiro will Gouverneur des Bundesstaats Rio Grande do Norte werden, Ex-General Hamilton Mourão tritt an der Seite von Jair Bolsonaro für das Amt des Vizepräsidenten an. Erst kürzlich ging Mourão in den Ruhestand, um zu kandidieren. „Wir erleben einen kritischen Moment, bewegen uns auf den Abgrund zu“, sagt der General. „Wir glauben, dass die Wahlen eine vorläufige Lösung bringen können, um den Kurs zu ändern.“

Militarisierung öffentlichen Lebens

Das historische Gedächtnis der Brasilianer scheint kurz. Während der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 wurden Tausende Menschen verhaftet und gefoltert; laut einem Bericht der Wahrheitskommission von 2014 wurden mindestens 434 Brasilianer von der Junta getötet oder verschwanden spurlos. Doch anders als Argentinien, Chile oder Uruguay hat Brasilien nie versucht, die Diktatur aufzuarbeiten und die Verbrechen zu sühnen. Bevor die Junta die Macht an eine Zivilregierung übergab, ließ sie ein Amnestiegesetz verabschieden, das die Armeeangehörigen bis heute schützt. Die Generäle behaupten stolz, dass sie 1964 die Demokratie bewahrt hätten, indem sie Brasilien vor der Herrschaft von Kommunisten retteten.

Nach der rechtlich fragwürdigen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff, die als junge Frau von der Junta festgenommen und gefoltert worden war, kehrten die Militärs in die Politik zurück. Es war Präsident Michel Temer, der ihnen den Weg ebnete: Entgegen den Gepflogenheiten ernannte er im Februar 2018 einen General zum Verteidigungsminister. Zur gleichen Zeit dekretierte der 78 Jahre alte Temer die Entsendung des 41. Armeebataillons nach Rio de Janeiro, um dort für Recht und Ordnung zu sorgen. Seither gehören Soldaten mit Maschinengewehren zum Stadtbild. Gepanzerte Fahrzeuge patrouillieren entlang der berühmten Strände Ipanema und Copacabana – während die Soldaten den Bikini-Schönheiten genüsslich hinterhergaffen. In den Favelas tobt offener Krieg, die Schusswechsel zwischen Drogenbanden und dem Militär gehören zum Alltag und fordern zahlreiche unbeteiligte Opfer, auch Kinder.

Ein Unterstützer des Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei Haddad hält bei einer Wahlveranstaltung ein Plakat mit einer Abbildung des Ex-Präsidenten Lula da Silva und der Aufschrift „Free Lula“. Haddad tritt an die Stelle Lulas, der wegen Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war und deshalb nicht kandidieren darf.

„Wir erleben eine gefährliche Militarisierung des öffentlichen Lebens“, sagt Monica Francisco, eine 48-jährige Schwarze, die im Oktober für das Parlament von Rio de Janeiro kandidiert. „Es ist ein schleichender Militärputsch mit dem Segen der Politik.“ Francisco sitzt in einem Wahllokal mitten in einem Arbeiterviertel von Rio. Schwarze Frauen wie sie haben es schwer in der brasilianischen Politik, die von weißen Männern dominiert ist. Auch Francisco hat lange nur zugeschaut, bevor sie aktiv wurde. „Rio wurde für die Fußball-WM und Olympia herausgeputzt“, sagt sie. „Doch gleich nach der olympischen Schlussfeier brach die öffentliche Ordnung wieder zusammen.“ Die Stadt war bankrott, sie konnte weder ihre Polizisten noch ihre Lehrer und Ärzte regelmäßig bezahlen. Die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich, Tausende Menschen wurden obdachlos. Die Drogenbanden, die zuvor vertrieben worden waren, nahmen ihre alten Reviere kampflos wieder ein.

Unbequeme Politiker im Fadenkreuz

Die Militärintervention sei aber eine falsche Antwort, glaubt Francisco. Aus einem Berg von Papieren fischt sie eine Statistik heraus: Seit dem Beginn des Militäreinsatzes in der Stadt im Februar hat sich die Zahl der Raubüberfälle, Morde und Entführungen noch weiter erhöht. Vor allem aber ist die Zahl der Opfer von Polizeigewalt gestiegen. Schon vergangenes Jahr wurden 527 Menschen in Rio von der Polizei erschossen, „in diesem Jahr werden es vielleicht doppelt so viele“, meint die Parlamentskandidatin. „Die Militärpolizei terrorisiert ganze Viertel, Todesschwadronen fangen wieder an, Straßenjungen und Kleinganoven zu foltern und zu erschießen.“

Zu den Opfern gehört auch Mateus Melo. Er kam gerade aus der Kirche in Jacare, einem Armenviertel im Norden von Rio de Janeiro. Der 23 Jahre alte Evangelikale, der für eine angesehene Stiftung in der Favela arbeitete, stieg auf sein Motorrad, um seine Verlobte zu besuchen. Bevor er das Viertel verlassen konnte, kam ihm eine Patrouille der Militärpolizei entgegen. Ohne Vorwarnung, ohne ihn zu stoppen oder nach seinem Ausweis zu fragen, eröffneten die schwer bewaffneten Polizeibeamten das Feuer, schossen ihn nieder und fuhren einfach weiter. Eine Weile später provozierten die Militärpolizisten einen Schusswechsel im Zentrum der Favela und behaupteten danach, Melo sei von einem Querschläger getötet worden. „Als die Schießerei ausbrach, war unser Sohn längst tot“, berichten die Eltern des Opfers. „Dafür gibt es Zeugen.“ Sie fordern eine Untersuchung, doch niemand will auf sie hören.

Zwei brasilianische Polizisten nehmen während einer Razzia in der Favela Rocinha in Rio de Janeiro in Brasilien einen mutmaßlichen Drogenhändler fest.

Auch unbequeme Lokalpolitiker stehen im Fadenkreuz. Das prominenteste Opfer war die linke Stadträtin Marielle Franco. Die 38-Jährige hatte eine Kommission gegründet, die das Vorgehen der Militärs in den Armenvierteln überwachen sollte und mahnte auch Schritte gegen die Todesschwadronen an. Am 14. März wurde sie am späten Abend auf dem Nachhauseweg von einem Killerkommando hingerichtet. Überwachungskameras zeigen zwei Fahrzeuge, die dem Wagen der Abgeordneten folgen. Ihr Auto wurde mit 13 Kugeln durchsiebt, drei davon töteten Franco. Auch ihr Chauffeur starb in dem Kugelhagel. Die Täter flohen, ohne etwas mitzunehmen. Alle Spuren führen zur Polizei. Die Ermittlungen brachten bisher aber keine Ergebnisse, niemand wurde zur Verantwortung gezogen.

Radikaler Christ und Liebhaber die Militärdiktatur

Und keiner profitiert mehr von der katastrophalen Sicherheitslage als der 63-jährige Ex-Fallschirmjäger Jair Bolsonaro. Seit 25 Jahren sitzt er im Senat, schlägt rabiate Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung vor, befürwortet die Bewaffnung der Bevölkerung, spricht den Polizisten das Recht zu, Kriminelle an Ort und Stelle zu erschießen – „denn nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit“. Bolsonaro verherrlicht die Militärdiktatur und will nach einem möglichen Wahlsieg mehrere Ministerposten in seiner künftigen Regierung mit Militärs besetzen. Er verteidigt auch die Folter, um Geständnisse und Informationen zu erpressen. In Brasilien wird Bolsonaro mit Donald Trump verglichen, doch steht er vielmehr dem philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte nah, der ebenfalls zu außergerichtlichen Exekutionen von Kriminellen ermuntert.

Der strenggläubige Christ Bolsonaro hetzt auch offen gegen Schwule und Minderheiten. „Mir wäre lieber, mein Sohn wäre tot als homosexuell“, verkündete er vor wenigen Jahren. Er predigt christliche Familienwerte, war aber drei Mal verheiratet. Vor vier Jahren sagte er zu einer Senatorin der linken Arbeiterpartei (PT), sie sei „so hässlich“, dass sie es „nicht verdient, vergewaltigt zu werden“. Im Senat schmiedete Bolsonaro eine mächtige Fraktion von Repräsentanten des Agro-Business, der Waffenlobby sowie der evangelikalen Kirchen, die maßgeblich zum Sturz der PT-Präsidentin Rousseff 2016 beigetragen hat. Sein Radikalismus könnte ihm allerdings in der Stichwahl zum Verhängnis werden: 60 Prozent der Brasilianer, so eine Umfrage, wollen auf keinen Fall für Bolsonaro stimmen. Auch sein Vize, General Mourão, ist schon mehrmals durch rassistische Äußerungen aufgefallen. „Die Brasilianer haben die Trägheit von den Indigenen geerbt, während die Trickserei vom Afrikaner kommt“, sagte er bei einem Wahlkampfauftritt.

Der brasilianische, rechtspopulistische Politiker Jair Bolsonaro legt im Parlament in Brasilia die rechte Hand ans Herz

Gleichwohl haben die Rechten rechtzeitig vor der Wahl einen Punktsieg erlangt. Der populärste Politiker des Landes, der 72-jährige Ex-Präsident Lula, wurde in zweiter Instanz wegen Korruption verurteilt. Er soll von einem Bauunternehmen ein Apartment geschenkt bekommen haben. Lula beteuert seine Unschuld und unterstellt seinen Gegnern ein politisches Komplott. Fast die Hälfte der Brasilianer ist überzeugt, dass die Verurteilung durchgepeitscht wurde, um Lulas Teilnahme an der Wahl zu verhindern. Seine Parteifreunde werfen der brasilianischen Justiz Willkür vor, weil im Prozess keine stichhaltigen Beweise gegen ihn vorgelegt worden seien. Im April musste Lula die Haftstrafe antreten, obwohl über seine Berufung vor dem Obersten Gericht noch nicht entschieden wurde. Tatsächlich arbeitet die brasilianische Justiz üblicherweise nicht so schnell wie im Fall Lula. Gegen eine ganze Riege von Politikern wird seit Jahren ermittelt – obwohl sie bei illegalen Geldübergaben gefilmt und ihre Gespräche mitgeschnitten wurden. Das Verfahren gegen Lula nahm erst dann Fahrt auf, als der Ex-Präsident seine Kandidatur anmeldete.

Beliebt in den armen Bevölkerungsschichten

Auch international wird Lulas Ausschluss heftig kritisiert. Die Umstände des Prozesses „werfen ein Licht des Zweifels auf die brasilianische Justiz“, sagte der frühere SPD-Chef Martin Schulz, nachdem er Lula Ende August im Gefängnis besucht hatte. Viele ausländische Ex-Staats­chefs und Spitzenpolitiker, darunter die Chilenin Michelle Bachelet, der Franzose François Hollande und der Amerikaner Bernie Sanders, fordern seine Freilassung. Mitte August hat auch die UN-Menschenrechtskommission an die brasilianische Justiz appelliert, Lula zu den Wahlen zuzulassen, da seine Berufung anhängig und seine Verurteilung damit nicht rechtskräftig sei. Doch nur ein Richter am Obersten Wahlgericht schloss sich dieser Argumentation an. Fünf lehnten Lulas Antrag ab, weil Vorbestrafte in Brasilien nicht für öffentliche Ämter kandidieren dürfen. Das Gesetz hat Lula 2010 als Präsident selbst unterschrieben.

Wenn man den populärsten Politiker von der Teilnahme an den Wahlen ausschließt, ist die Demokratie in Gefahr“, schimpft die Vorsitzende der Arbeiterpartei Gleisi Hoffmann. „Die Justiz, die Medien und die Eliten haben alles getan, um Lula zu verhindern. Das hat aber die Menschen nur zusammengeschweißt.“ Vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten ist Lula äußerst beliebt. Vielen gilt er als bester Präsident, den Brasilien jemals hatte. Wenn er antreten dürfte, käme Lula Umfragen zufolge im ersten Wahlgang auf rund 40 Prozent der Stimmen. Die Arbeiterpartei hielt bis zum Schluss an Lulas Kandidatur fest; sie versuchte, den Ex-Präsidenten als Opfer in Szene zu setzen, der von seinen politischen Widersachern eingesperrt worden sei, weil er die Reichen schröpfen und den Armen helfen wolle.
 

Anstatt Lula geht nun Fernando Haddad für die PT ins Rennen. Der 55-jährige Anwalt, Ökonom und Philosoph war in der Regierung Lula Bildungsminister und gilt als sein treuer Gefolgsmann. In großen Teilen des Landes ist er aber unbekannt. Parteichefin Hoffmann glaubt dennoch, dass der frühere Oberbürgermeister von São Paulo auf bis zu 80 Prozent der Lula-Stimmen zählen kann. Wahlforscher schätzen das Transferpotenzial auf immerhin 50 Prozent – was Haddad für die Stichwahl reichen könnte. Lulas Anhänger hoffen, dass ein Präsident Haddad ihren Helden wieder aus dem Gefängnis holen würde. Dann würde Lula zur grauen Eminenz im Hintergrund.

Ein linker Kandidat?

Eines steht jedenfalls fest: Keiner der Präsidentschaftskandidaten wird im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen. Chancen auf die Stichwahl am 28. Oktober haben neben Bolsonaro vor allem Geraldo Alckmin von der konservativen PSDB, Marina Silva von der Grünen-Bewegung Rede und Ciro Gomes von der linken PDT. Es sind allesamt etablierte Politiker; Ciro Gomes und Marina Silva treten jeweils zum dritten Mal bei den Präsidentschaftswahlen an. So zeigt sich auch, dass die großen Parteien sämtliche Korruptionsskandale weitgehend unbeschadet überstanden haben und das Rennen schon wieder dominieren. „Der Wähler mag nicht, was er sieht, aber er weiß nicht, wen er sonst wählen soll“, sagt Creomar de Souza, Politikprofessor an der Katholischen Universität von Brasília.

Auch der 65-jährige Alckmin war bereits Anwärter auf das höchste Amt, verlor aber 2006 in der Stichwahl gegen Lula. Im Vorfeld der Wahl konnte sich der ehemalige Anästhesist und Gouverneur des Bundesstaats São Paulo die Unterstützung mehrerer kleiner Parteien sichern und verfügt über die meiste TV-Werbezeit unter allen Kandidaten. Der marktfreundliche Politiker ist auch der Wunschpräsident der brasilianischen Finanzwelt, die eine Rückkehr der Arbeiterpartei an die Macht fürchtet. Allerdings hängen seiner PSDB die Korruptionsskandale immer noch stark nach.

Würden die Generäle den Sieg eines linken Kandidaten akzeptieren? „Wir wollen so weit wie möglich an der Rechtsstaatlichkeit festhalten“, beteuerte General Mourão unlängst. Und fügte hinzu: „Aber wir können das Land nicht ins Chaos stolpern lassen.“ Das klang wie eine Drohung.

Fotos: picture alliance

Dies ist ein Text aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.



















 

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