Vorsitzender der Welthungerhilfe - „Deutschland ist sich selbst der größte Geber“

Der Vorsitzende der Welthungerhilfe, Till Wahnbaeck, spricht im Interview darüber, was in der deutschen Flüchtlingshilfe falsch läuft, über die Auswirkungen der Schließung der Balkanroute und wie man in Syrien überhaupt noch helfen kann

„Die Menschen gehen davon aus, dass sie mindestens noch zehn Jahre in den Lagern leben werden“ / picture alliance
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Herr Wahnbaeck, wenn in Deutschland über Flüchtlinge gesprochen wird, heißt es aus der Bundesregierung immer wieder, man müsse die „Fluchtursachen bekämpfen“. Wie läuft dieser Kampf?

Der Begriff wird tatsächlich inflationär gebraucht. Durch die Fokussierung auf das Thema Flucht ist eine Schieflage entstanden. Wir müssen wieder wegkommen vom permanenten Krisenmodus hin zu planvoller angelegten, langfristigen Ansätzen. Natürlich ist die Hilfe für Flüchtlinge notwendig, aber Feuerwehreinsätze bringen auf die Dauer nicht viel. Doch die Mittel für die ärmsten und besonders fragilen Länder stagnieren. Seit 2010 ist der Anteil der Entwicklungshilfe für die bedürftigsten Länder sogar gesunken, von 28 auf 23 Prozent.

Entwicklungsminister Gerd Müller hat doch für die Flüchtlingshilfe ein Gesamtpaket von 12 Milliarden Euro für diese Legislaturperiode geschnürt. Freuen Sie sich nicht über das zusätzliche Geld?

Doch, gerade im Syrienkonflikt ist Deutschland mittlerweile eine der größten, wenn nicht der größte Helfer. Das ist ein gutes Zeichen und spricht auch dafür, dass Gelder umgeleitet wurden in die Herkunfts- und Aufnahmeländer von Flüchtlingen. Trotzdem muss man sich genau anschauen, wo welche Gelder hinfließen. So ist die Steigerung der Entwicklungshilfe im vergangenen Jahr fast ausschließlich zurückzuführen auf Kosten für die Integration von Flüchtlingen im Inland.

Das heißt, Deutschland rechnet sich die Höhe der Entwicklungshilfe schön?

Genau. Deutschland ist sich selbst der größte Geber. Das ist nicht im Sinne des Erfinders. Das Geld gehört eigentlich woanders hin.

Sie meinen, dass den Flüchtlingen erst genügend geholfen wird, wenn sie viel Geld für einen Schlepper bezahlt, ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es schließlich nach Deutschland geschafft haben -  und nicht in den Erstaufnahmeländern?

Till Wahnbaeck

Ich will beide Dinge nicht gegeneinander ausspielen. Es ist wichtig, dass die Flüchtlinge integriert werden und das kostet Geld. Wir unterstützen das. Aber das darf nicht verrechnet werden mit den Geldern, die eigentlich einem anderen Zweck dienen sollen, nämlich dort zu entwickeln, wo die Not am größten ist, in den Herkunftsländern. Damit bewirkt man, dass Flucht in Zukunft gar nicht erst geschieht.

Nun ist die Balkanroute dicht, und die Türkei hat als Teil des „Deals“ mit der EU angekündigt, Flüchtlinge zurückzunehmen. Erhöht das den Druck in den Lagern der Nachbarländer von Syrien und Afghanistan?

Ja, aber man muss wissen, dass insgesamt von 65 Millionen Flüchtlingen nur ein ganz kleiner Teil nach Europa gekommen ist. Mehr als 85 Prozent bleiben im eigenen Land oder im Nachbarland. Gerade die Türkei hatte schon vorher mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in den Lagern, also erhöht sich der Druck dort nur unerheblich. Aber durch die beiden Faktoren ist klar, dass das Problem in den Grenzregionen bestehen bleiben wird. Ich habe an der türkisch-syrischen Grenze mit syrischen Familien gesprochen, die davon ausgehen, dass sie noch mindestens zehn Jahre dort leben werden.

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Wir sind schon umgeschwenkt von der reinen Nothilfe dazu, den Menschen eine längerfristige Perspektive bieten zu können. Das reicht von der Schulbildung für Kinder bis hin zu Gemüsegärten in den Lagern, damit die Menschen sich selbst versorgen können.

Können Gemüsegärten denn wirklich helfen?

Ja, denn es geht auch darum, den Menschen eine Aufgabe und ein Stück Würde zu geben. Das hilft auch, die sozialen Spannungen in den Lagern zu senken.

Wie sind denn die Zustände in den türkischen Lagern? Angela Merkels Entschluss, die Grenzen nicht zu schließen, hatte ja auch damit zu tun, dass sie den Deutschen unzumutbare Bilder ersparen wollte. Sind die Bilder in der Südtürkei erträglicher?

Tatsächlich sieht es in den meisten Lagern verhältnismäßig gut aus. Da gibt es eine hohe Schulquote, ausreichend zu essen und ausreichend Strukturen, damit die Bewohner ihr Leben eigenständig organisieren können. Problematischer wird es außerhalb. Nehmen wir die Region um die Stadt Kilis. Dort gibt es 100.000 Einwohner und etwa genauso viele Flüchtlinge. Von letzteren leben nur 20 Prozent in Lagern. Die anderen müssen das wenige Geld, das sie haben, für horrende Mieten ausgeben. Eine Familie erzählte mir, dass sie 100 Dollar im Monat für eine alte Garage zahlen. Dieses Geld lässt sich nur aufbringen, wenn auch die Kinder zur Arbeit geschickt werden, auf die Straße. Damit wächst dort eine verlorene Generation heran.

Aus Syrien gibt es derzeit fast nur schockierende Bilder. Die Rebellentruppen schießen mit improvisierten Mörsergeschützen, sogenannten Höllenkanonen, in die regierungsnahen Gebiete. Andererseits gibt es Berichte, dass Kampfjets der syrischen Regierung und Russlands Ziele in den Rebellengebieten zweimal bombardieren. Der zweite Angriff folgt in der Regel, wenn die Helfer eingetroffen sind. Wie kann man da noch helfen?

Langfristig kann man dort momentan nichts erreichen. Wir können nur Grundhilfe leisten und nur mit hohem persönlichen Risiko für unsere Partner vor Ort. Das ist uns bewusst, aber wir finden es vertretbar, weil  wir sehr eng mit lokalen Einrichtungen und der Bevölkerung zusammenarbeiten. Wir machen klar, dass wir humanitäre Zwecke verfolgen und uns keiner Kriegspartei anschließen. In aller Regel funktioniert das auch ganz gut so. Unsere Konvois werden nicht angegriffen, weil alle Seiten wissen, wenn sie damit anfangen, wird die Hilfe komplett gestoppt. In einer Stadt wie Aleppo wird das aber zunehmend schwieriger.

Abgesehen von Syrien kommen die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan. Obwohl dort 15 Jahren die ganze Welt vertreten ist, um Entwicklungshilfe zu leisten, an Geldern sind hunderte Milliarden Euros geflossen. Jetzt fordern Sie erneut mehr Geld von der Politik. Bei den Flüchtlingen wird von Obergenzen gesprochen, wie sieht es bei der Entwicklungshilfe aus? Muss es da nicht auch Grenzen geben?

Entwicklungshilfe ist mühsam und kleinteilig, oft macht man für jeden Schritt nach vorn zwei Schritte zurück. Trotzdem gibt es keine echte Alternative. In Ländern wie Afghanistan können wir an der Gesamtlage nichts ändern, aber im Kleinen, in den Gemeinden, auf den Dörfern können wir doch sehr viel tun, um die Situation der Menschen zu verbessern.

Afrikanische Ökonomen wie James Shikwati aus Kenia und Dambisa Moyo aus Sambia widersprechen Ihnen da schon seit Jahren. Entwicklungshilfe würde hauptsächlich die Eliten mit Geld versorgen und die Korruption fördern.

Korruption zu verhindern, das geht nur mit starkem Willen und mit klaren Ansagen. Die Welthungerhilfe lässt sich nicht auf Korruption ein. Punkt. Es gibt immer wieder Fälle, wo wir zum Beispiel eine Lieferung beschleunigen könnten mit einer kleinen Zahlung. Wir warten dann lieber drei Monate, bevor wir uns auf dieses Spiel einlassen. Notfalls muss man auch bereit sein, sich zurückzuziehen, wenn man feststellt, dass die Arbeit mit unseren Werten nicht mehr vereinbar ist. 

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