Visegrád-Staaten - Union der Effizienz

Die sogenannten Visegrád-Staaten mischen die EU immer wieder auf. Warum aber ist der Pakt von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn so erfolgreich und gleichzeitig so umstritten? Ein Blick ins Innere dieses außergewöhnlichen Bündnisses

Erschienen in Ausgabe
Die Außenminister der Slowakei, Polens, Ungarns und Tschechiens mit der EU-Außenbeauftragten Mogherini / picture alliance
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Autoreninfo

Boris Kálnoky ist freier Journalist und lebt in Budapest. Er entstammt einer ungarisch-siebenbürgischen Familie

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In den zurückliegenden Jahren, die insbesondere von der Euro- und der Flüchtlingskrise geprägt waren, hat innerhalb der EU ein Zusammenschluss von vier Ländern immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt: Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn – auch bekannt als Visegrád-Gruppe. Die „V4“ sind inzwischen zu einem maßgeblichen Akteur der europäischen Politik aufgestiegen und machen vor allem durch ihren kraftvollen Widerstand gegen die deutsche Flüchtlingspolitik und Umverteilungsquoten von sich reden. Was ihnen innerhalb der Bundesregierung bekanntlich nicht viele Freunde einbringt. Aber auch in anderen Bereichen haben die Visegrád-Länder an Schwung und Kontur gewonnen: Verteidigung, Energie, Infrastruktur, Finanzen, Kultur. Wie kam es dazu und wie funktioniert die V4-Gruppe überhaupt?

In der Unweit von Budapest am Donauknie gelegenen Stadt Visegrád beschlossen 1991 die damals nur drei Länder (die Tschechoslowakei war noch nicht zerfallen) eine engere Zusammenarbeit, um gemeinsam ihre Vorbereitungen für den geplanten EU-Beitritt besser zu meistern. Nachdem das erreicht war, wurde die Gruppe zunächst eher bedeutungslos. Jeder einzelne Staat bemühte sich mehr um gute Beziehungen zu Deutschland als um gute Beziehungen zueinander. Die Bundesrepublik wiederum war immer bestrebt, eine Blockbildung innerhalb der EU zu verhindern, um das eigene politische Gewicht in Europa möglichst zu steigern. Aber die Euro- und Flüchtlingskrise änderten alles. Aus Sicht der V4-Staaten hatte sich die EU in eine radikale, potenziell gefährliche Experimentierküche verwandelt, in der Zauberlehrlinge leichtfertig folgenschwere Formeln aussprechen. Also suchten sie einen Selbstverteidigungsmechanismus, um ihre Interessen in dieser offenbar unberechenbaren EU besser zu verteidigen. Aus der einst irrelevanten V4-Gruppe wurde ein neuer Machtfaktor in Europa.

Keine gemeinsame Quasiregierung

Von außen sieht „Visegrád“ aus wie eine Mini-EU, nur ohne Bürokratie. Es gibt eine rotierende jährliche Präsidentschaft, ähnlich dem halbjährlichen EU-Ratsvorsitz. Seit 1. Juli 2018 hält die Slowakei den Vorsitz, davor war es Ungarn. Das jeweilige Land arbeitet für das jeweilige Jahr ein Schwerpunktprogramm aus, das sich an der langfristigeren V4-Strategie orientieren sollte, in immer mehr Bereichen immer besser zu kooperieren. Auch das erinnert an die EU-Strukturen. Was es allerdings nicht gibt, ist eine gemeinsame Quasiregierung wie die EU-Kommission und ein gemeinsames Parlament wie das Europaparlament. Kein Wunder, halten doch die Visegráder den demokratischen Nationalstaat für das höchste Gut in der Politik. Transnationale politische Strukturen wie die EU-Kommission oder das Europaparlament können den Staat in ihren Augen nur schwächen. Das wollen sie nicht.

Ein wenig ist die Visegrád-Gruppe also so, wie die Visegráder die EU gerne hätten. Aber bei aller EU-Kritik ist die V4-Kooperation selbst ganz europäisch im Geist: Stärke durch transnationale Vernetzung und Zusammenarbeit. Zur Staffelübergabe jeweils im Juni findet ein jährliches Gipfeltreffen der vier Ministerpräsidenten statt, dem stets ein vorbereitendes Treffen der stellvertretenden Außenminister vorangeht. Die Regierungschefs treffen sich aber auch zu besonderen Anlässen, vor allem, um vor wichtigen EU-Gipfeln gemeinsame Positionen abzustecken. Auf diese Weise haben die Mitteleuropäer in den europäischen Gremien deutlich mehr Gewicht, als es jedes der einzelnen Länder für sich genommen hätte.

V4-Grenzschützer patrouillieren an Grenzen der Balkanroute

In diesem Jahr nahm Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz am V4-Gipfel vom 21. Juni in Budapest teil. Das war ein sichtbarer Ausdruck dafür, dass die V4 mehr sein wollen als nur eine Gruppe von vier Ländern. Eigentlich möchten sie nämlich auf die ganze Region ausstrahlen, auch jenseits der Grenzen der EU – etwa auf den Westbalkan oder die Ukraine. Für die enge strategische Kooperation mit ausgewählten Partnerländern haben sich die Visegráder das Format „V4+“ ausgedacht – etwa in der Energiepolitik, wo es darum geht, über sogenannte Interkonnektoren die Gasleitungen der einzelnen Länder besser zu vernetzen und eine Infrastruktur für Flüssiggas aus den USA auszubauen, um unabhängiger zu werden von russischen Gaslieferungen. Dazu kooperieren die V4 unter anderem mit Österreich, Bulgarien und Slowenien.

Der sichtbarste Bereich der V4-Kooperation ist allerdings die Grenzsicherung gegen illegale Einwanderung. Auch das erfolgt im Format V4+ in Kooperation mit Bulgarien und den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien. Die V4 halfen Mazedonien, seinen Grenzzaun zu bauen, und wollen nun auch Montenegro dabei unterstützen, seine Grenze zu Albanien zu sichern. V4-Grenzschützer patrouillieren seit 2015 an diversen Grenzen der Balkanroute. Der wichtigste Mechanismus solcher Kooperationen besteht aus Treffen der V4 mit den jeweiligen Partnerländern auf Ministerebene. Dort beschlossene gemeinsame Projekte werden dann auf der Ebene der Staatssekretäre vertieft. Zusätzlich gibt es von Zeit zu Zeit gemeinsame Treffen der Staats- oder Regierungschefs im V4+-Format wie jetzt eben mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz – oder im Juli 2017 mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Keine für die EU typische bürokratische Eigendynamik

Eine Erweiterung der Visegrád-Gruppe selbst lehnen die Mitteleuropäer aber grundsätzlich ab. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie gut miteinander können, egal wer in den jeweiligen Ländern gerade an der Macht ist. Die Regierungsparteien der vier Länder gehören vier verschiedenen Fraktionen im Europaparlament an: Fidesz (Ungarn) zur christdemokratischen EVP; ANO (Tschechien) zu den Liberalen (ALDE); die slowakische Smer-SD zu den Sozialisten (PES) und Polens PiS zur Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (AKRE). Dennoch agieren die vier Regierungen auf europäischer Ebene weitgehend gemeinsam. „Im Vergleich zur EU ist bei den V4 der persönliche Kontakt viel wichtiger als der institutionelle Ausbau der Kooperation“, sagt Ágoston Mráz vom regierungsnahen ungarischen Thinktank Nézöpont. „Obwohl die vier Regierungen ganz unterschiedlichen Parteienfamilien angehören, haben ihre Politiker erkannt, dass sie einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, ein ähnliches Denken, letztendlich gemeinsame Werte jenseits aller Parteilinien haben.“ Diese Werte sind Mráz zufolge christliche Kultur und Lebensstil im weitesten Sinne (nicht die Religion selbst), das nationale Interesse als Richtwert der Politik und die Suche nach gesellschaftlichen Mehrheiten für die wichtigsten politischen Themen. Insofern seien alle vier Regierungen, meint Mráz, letztlich „kulturell christdemokratisch“.

Zwar existieren auch genügend Institutionen und immer mehr sichtbare Strukturen in der V4-Kooperation, letztlich aber funktioniert die Gruppe „von oben nach unten“, gesteuert von den Regierungschefs und ohne die für die EU typische bürokratische Eigendynamik. Tatsächlich hängt also alles von vier Personen ab, nämlich den jeweiligen Regierungschefs. Das kann problematisch werden, wenn in dem einen oder anderen Land Wahlen einen Machtwechsel bringen – etwa, wenn in Tschechien oder Polen eines Tages wieder „EU-konforme“ Parteien regieren sollten. Vorerst aber führt die Art der Kooperation vor allem zu einer Besonderheit: Die Entscheidungsfindung funktioniert viel schneller als in den EU-Gremien. Und dass die entsprechenden Entscheidungen oft sogar originell und durchdacht sind, liegt nicht zuletzt daran, dass die Gruppe im Jahr 2012 acht große Think­tanks der Region zur Plattform Think Visegrád verflochten hat. Sie alle arbeiten mit Hochdruck daran, die V4 bei Themen von Wirtschaftsstrategien über die Integration der Roma-Volksgruppen bis hin zu Fragen der inneren Kohäsion der Visegrád-Gruppe zu beraten. Zusätzlich unterstützen nationale Thinktanks wie die ungarischen Nézöpont und Századvég ihre Regierungen intensiv bei Fragen der V4-Kooperation.

Die V4 „boykottierten“ demonstrativ die Merkel-Runde

Einige Denkansätze aus diesen Ideenfabriken: Weniger Bundesbank-Anleihen kaufen, stattdessen mehr Staatsanleihen der V4 untereinander – das bringt mehr Zinsen und mehr Unabhängigkeit von Deutschland und stützt die eigenen Volkswirtschaften. Oder: Gemeinsam eine Finanztransaktionssteuer in der EU fordern, um damit beim nächsten EU-Haushalt die Ausfälle aus dem Brexit auszugleichen und so die Zuwendungen aus dem EU-Kohäsionsfonds für die V4 zu erhöhen. Gegenwärtig plant die EU nämlich keine Erhöhung, sondern eine drastische Reduzierung der Mittel für die Region.

Dass die Visegrád-Länder sich auch bei divergierenden Interessenlagen einigen können, war beim V4-Gipfel im Juni zu beobachten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte vor der offiziellen Sitzung des Europäischen Rates der Regierungschefs bekanntlich einen „Mini-EU-Gipfel“ zur Asylpolitik organisiert. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis hatte anfangs erklärt, er wolle auf jeden Fall an diesem Treffen teilnehmen – aber beim V4-Gipfel in Budapest ließ er sich dazu überreden, seine Meinung zu ändern. Die V4 „boykottierten“ dann demonstrativ die Merkel-Runde, weil solche Begegnungen ihrer Meinung nach das EU-Recht aushöhlen. Wenn EU-Regierungschefs EU-Themen zu besprechen hätten, dann sollten sie das nach Auffassung der Visegráder ausschließlich im Rahmen des Europäischen Rates tun, und zwar auf Einladung von Ratspräsident Donald Tusk. Nicht aber auf Einladung von Angela Merkel und im Beisein des EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker.

Die Slowakei will Teil eines „Kerneuropa“ sein

Für die alltägliche Zusammenarbeit existiert bei jeder V4-Regierung ein Visegrád-Koordinator, der meistens direkt beim Ministerpräsidenten angesiedelt ist. Diese Technokraten spielen eine Schlüsselrolle im Informationsfluss zwischen den Regierungen. Ansonsten gibt es noch gelegentliche Treffen der V4-Staatsoberhäupter und eine begrenzte Kooperation auf parlamentarischer Ebene, beides auch im Format V4+ mit anderen Partnerländern. Neuerdings bemühen sich die Mitteleuropäer auch verstärkt darum, in internationalen Gremien wie Nato, Uno oder OSZE gemeinsam aufzutreten, und zwar parallel und manchmal in Widerspruch zur EU, obwohl sie deren Mitglieder sind.

So viel Einigkeit erstaunt umso mehr, als erhebliche Interessenunterschiede zwischen den vier Ländern bestehen. Einige europäische und auch deutsche Experten behaupten deswegen, die V4-Kooperation sei eigentlich eine Art Fata Morgana: Sie sieht nach etwas aus, besteht aber nur aus heißer Luft. Manche sprechen spöttisch von den „V2+2“ statt „V4“ – auf der einen Seite Polen und Ungarn, auf der anderen Tschechien und die Slowakei, die viel stärker zu einer politischen Anbindung an Deutschland neigten als zur Kooperation untereinander.

Das ist keineswegs aus der Luft gegriffen: Die Slowakei gehört zur Eurozone und will Teil eines „Kerneuropa“ sein, sollte es jemals zu einer Ausdifferenzierung kommen in ein integrierteres „Kern“- und ein weniger eingebundenes „Randeuropa“. Die Polen ihrerseits sind dezidiert antirussisch, während die drei anderen Visegrád-Länder engere Beziehungen zu Russland anstreben. „Wir versuchen immer, diese Differenzen durch Arbeitsteilung zu lösen“, sagt ein ungarischer Diplomat. Beispielsweise gebe es Spannungen zwischen Ungarn und der Ukraine und erst recht mit Rumänien wegen der dort ansässigen ungarischen Minderheiten, deren Interessen Budapest am Herzen liegen. Ungarn kann also schlecht der V4-Ansprechpartner sein für diese Länder – der Dialog würde nicht funktionieren. „Wir lösen das so, indem wir es Polen überlassen, die Kontakte der V4 mit der Ukraine und Rumänien zu pflegen“, sagt der Diplomat. Ungarn hingegen habe exzellente Kontakte zu den Westbalkanstaaten und übernehme daher die Führungsrolle bei den V4 in diesem Bereich.

Interessenunterschiede werden ausgeklammert

Martin Michelot vom Prager Europeum-Institut für Europäische Politik (einem Mitglied der erwähnten Think-Visegrád-Plattform) nennt diese flexible Art der Visegrád-Kooperation die „Kunst der Uneinigkeit“, deren Essenz darin bestehe, „mit Differenzen behutsam umzugehen und gleichzeitig gemeinsame Positionen zu stärken“. Michelot zufolge kann man die Art und Weise, wie die V4 funktionieren, exemplarisch in der Verteidigungspolitik erkennen: Es gibt seit 2016 eine gemeinsame V4-Battle­group unter polnischer Führung, entstanden als Antwort auf Russlands Aggression gegen die Ukraine zwei Jahre zuvor. Zusätzlich wechseln sich nationale Einheiten der V4-Länder in den baltischen Staaten im Rahmen gemeinsamer Militärübungen ab.

Natürlich kommt es da auch zu Differenzen. „Die Polen würden die Battlegroup am liebsten gegen die Russen positionieren, Ungarn lieber zur Grenzsicherung auf dem Westbalkan“, sagt Zoltán Kiszelly vom regierungsnahen ungarischen Thinktank Századvég. Dazu passt, dass von 2019 an auch Kroatien im besten V4+-Stil einen Beitrag zur Kampfgruppe leisten wird.

Die bloße Existenz der Einheit ist aber ein Pfund, mit dem man politisch wuchern kann: Es gefällt den Amerikanern, die mehr Engagement und mehr Rüstungsausgaben von den Nato-Partnern fordern; es gefällt den Europäern, die ebenfalls mehr Anstrengungen in der Verteidigungspolitik unternehmen wollen. Und es unterstützt die Innenpolitik der V4-Länder, weil die Polen das gemeinsame militärische Engagement als Bollwerk gegen Russland darstellen können, die anderen wiederum als Instrument mitteleuropäischer Eigenständigkeit und Wehrhaftigkeit auch bei der Grenzsicherung. Die Interessenunterschiede werden also ausgeklammert, die Gemeinsamkeiten hervorgehoben.

Denken jenseits der bekannten Schablone

Die einzige permanente institutionelle Basis der V4-Kooperation ist der im Jahr 2000 gegründete und in Bratislawa angesiedelte Visegrád-Fonds, ein gemeinsamer Geldtopf für Projekte, mit denen die vier Länder enger aneinander gebunden sowie deren Kooperation mit anderen ostmitteleuropäischen Ländern gefördert werden sollen. Allerdings geht es dabei um jährlich gerade mal acht Millionen Euro, hinzu kommen gelegentliche bescheidenere Zuwendungen aus Deutschland, den USA, der Schweiz, Kanada und einigen anderen Ländern. Mit seinen bescheidenen Mitteln entfaltet der Visegrád Fund aber eine höchst sichtbare Aktivität, mit Forschungsprojekten und einer Vielzahl kultureller Veranstaltungen, die ausdrücklich dem Zweck dienen, eine gemeinsame mitteleuropäische Identität zu stärken – nicht viel anders als das Bestreben der EU, mit großzügigen Fördermitteln eine gemeinsame europäische Identität herauszubilden. Auch die Think-Visegrád-Plattform acht großer Thinktanks aus der Region ist beim Visegrád-Fonds angesiedelt. Und auch hier ist die Struktur sehr politisch: Entscheidungen des Visegrád-Fonds werden auf einer jährlichen Konferenz der V4-Außenminister getroffen, die Umsetzung dann von einer Konferenz der V4-Botschafter überprüft.

Daraus ergibt sich zumindest auch ein Teil der Antwort auf die Frage, was die Visegráder in den vergangenen Jahren so stark gemacht hat: nicht gemeinsame Strukturen oder eine transnationale Bürokratie, sondern Denken jenseits der bekannten Schablonen. Die EU könnte davon lernen, wenn sie wollte.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.














 

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