US-Wahlen - Die Illusion der Identitätspolitik

Nach dem vorläufigen Wahlergebnis in den USA stehen die Verlierer schon fest: die Demoskopen. Sie haben ethnischen Gruppen ein Wahlverhalten unterstellt, das keineswegs stimmte. Die politische Linke sollte jetzt dringend ihre Lebenslügen aufgeben – auch in Deutschland.

Wahllokal in Spotsylvania, Virginia am Dienstag / picture alliance
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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Die größte Niederlage bei der US-Wahl haben mal wieder die Demoskopen errungen. Sie lagen wieder so falsch, wie man nur falsch liegen kann. Konstant haben sie uns in fast allen wichtigen Swing States einen soliden Vorsprung von Joe Biden erklärt und auch einen soliden Vorsprung in eigentlich allen Wählergruppen.

Überall erzählte man sich, dass Donald Trump nur die Wahl gewinnen könne, wenn er vor allem das „weiße“ Amerika noch einmal mobilisiere, bevor es demografisch in den nächsten Jahren ohnehin zur Minderheit werde. Man sah Trump auch tatsächlich nervös werden, weil er hektisch die weißen „Seniors“ und die weißen „suburban women“ umwarb.

Falsche Prognosen

Weiße Vorstadtfrauen würden sich von ihm abwenden, so sagten es die Demoskopen, ebenso die alten Amerikaner in ihren Seniorenanlagen, die Trump mit seiner katastrophalen Corona-Politik verloren hätte. Und Afroamerikaner würden sowieso stramm zu Joe Biden stehen – dem besten Freund von Barack Obama. Und Hispanics beziehungsweise Latinos werden Trump auch nicht wählen – wegen der Mauer zu Mexiko, wegen seiner Rhetorik, wegen seinem Rassismus. Eigentlich sei es aus für Trump. Die Werte von Biden besser und stabiler als die von Clinton in 2016. Reicht also dicke für Biden.

Gekommen ist es mal wieder anders. Eine Grafik der „Edison Exit Poll“, die der linke (!) Anwalt und politische Analyst Matt Bruenig in der Wahlnacht bei Twitter postete, ergab nämlich, dass Trump ausgerechnet bei den Wählergruppen im Vergleich zu 2016 zugelegt hat, von denen die Wahrsager der Demoskopie es nahezu ausgeschlossen hatten, dass Trump hier auch nur einen Blumentopf gewinnt.

Irreführende Haltungsfrage

Bei „weißen Frauen“ habe er zwei Prozentpunkte zugelegt. Bei afroamerikanischen Männern und Frauen jeweils vier Prozent. Bei „Latino“-Frauen und -Männern jeweils drei Prozentpunkte. Bei den „weißen Männern“ (seiner als Kernwählergruppe deklarierten Wählergruppe) habe er im Vergleich zu 2016 hingegen fünf Prozentpunkte verloren.

Diese Exit Poll steht im diametralen Widerspruch zu den Behauptungen der Identitätspolitik, die davon ausgeht, dass Afroamerikaner und Hispanics null-komma-null Gründe hätten, für die Republikaner zu stimmen – für einen sexistischen und rassistischen Trump schon gar nicht. Zwar sind nicht alle linken Identitätspolitiker so naiv zu glauben, an Trump fänden Hispanics und Afroamerikaner eigentlich nichts und müssen ihn sogar als Anti-Christen ansehen. Aber sie laufen schon oft mit dem festen Glauben durch die Welt, dass die Werte dieser Menschen kaum bis gar nicht von Trump repräsentiert werden können. Wer nicht die richtige Haltung hat, kann doch nicht gewählt werden.

Mehr schwarze Trump-Wähler

Und trotzdem ist es 2020 passiert. Sogar noch stärker als 2016 – obwohl alle mittlerweile wissen, was Trump für einer ist. Die Daten der von Matt Bruenig geposteten Edison-Grafik kommen schon hin (obwohl sie online nicht zu finden ist). Nämlich dann, wenn man die New-York-Times-Grafiken mit den Edison Exit Polls von 2016 und 2020 vergleicht. 2016 bei Trump: 58 Prozent bei Weißen, 8 Prozent bei Afroamerikanern, 29 Prozent bei Latinos. 2020 bei Trump: 57 für Weiße, 12 Prozent bei Afroamerikanern und 32 Prozent bei Latinos. Also mehr Wähler 2020 für Trump bei Latinos und Afroamerikanern.

Nun können die Demoskopen-Wahrsager, die abermals ihr Waterloo erlebten, sich zwar noch mit dem Argument rausreden, dass die Exit Polls gar nicht so viel aussagen würden, weil viele Wähler schon vorher oder per Brief gewählt haben und man am Wahltag eben mehr republikanische Wähler nach dem Urnengang befragen konnte als demokratische Wähler. Und daher sei so eine Exit Poll überhaupt kein repräsentatives Sample und deshalb für Rückschlüsse auch unbrauchbar. Also Vorsicht und strickt keine Narrative, die nicht stimmen! So wird die Demoskopen-Verteidigung sein. Vielleicht ist das nicht völlig abwegig und hat ein paar Argumente auf der eigenen Seite. Aber trotzdem ist es eine Ausrede aus dem eigenen Versagen. Zudem hat man bei CNN gestern gehört, dass diese Exit Polls auch für die „early voters“ repräsentativ seien. 

Man macht sich die Welt hier also so, wie sie einem gefällt. Wer will als Demoskop schon zugeben, dass er versagt hat? 

Wie auch immer die Wahl heute oder in den nächsten Tagen ausgeht (ich hoffe selbst auf Joe Biden): Das Ende der Identitätspolitik wurde im November 2020 besiegelt. 

Rückschlüsse für Deutschland

Wer in Deutschland 2021 als linke Kraft eine Wahl gewinnen will, muss das anerkennen oder er kann schon mal die Niederlage einpreisen. Entweder man begeht jetzt eine materialistische Wende oder man wird am Wahlabend mal wieder nichts anderes in TV-Kameras reden können als: „Wir müssen jetzt sorgfältig analysieren, woran die Niederlage lag.“ Man hat diese Sätze schon zu oft aus Mündern von linken und sozialdemokratischen Generalsekretären gehört. Das sind die immer gleichen Entschuldigungen.

Man muss jetzt endlich den Kurs ändern. Kein Hauptstadtjournalist in Berlin glaubt momentan bei der Performance der Sozialdemokraten noch an eine Kanzlerschaft der SPD – und der Linkspartei traut man schon recht nichts mehr zu.

Identitätspolitische Illusion

Am Ende werden eben nicht aus verschiedenen Teil-Wählergrüppchen eine satte Wählerschaft, die einen in das Kanzleramt trägt. „Wirtschaft“ war neben der Corona-Krise in den USA das Thema. Und bei Wirtschaft wurde Donald Trump mehr zugetraut – eben auch von Wählern, die identitätspolitische Merkmale haben, von denen behauptet wird, für sie sei eine Wahl Trumps eigentlich ausgeschlossen. Das Patchwork der Minderheiten ist kein Siegesrezept. Diese identitätspolitische Illusion wurde jetzt bei dieser US-Wahl endgültig offenbart. Nicht alle Latinos und Afroamerikaner haben die „Werte“, die man ihnen im (linken) demokratischen Lager zuschreibt, und sie müssen schon gar nicht die materiellen Interessen haben, die man ihnen unterstellt – bestes Beispiel dafür sind die Exil-Kubaner in Florida, bei denen man nur „Sozialismus“ sagen muss, damit sie republikanisch wählen.

Für die deutsche Linke gilt nun: Wer nicht hören will, muss fühlen. Das zeigt uns die US-Wahl mal wieder mit deutlicher Härte. An Stelle der SPD und der Linkspartei würde ich jetzt endlich reinen Tisch mit den eigenen politischen Lebenslügen machen.

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