Die Swing States vor der US-Wahl - Amerika, geht's noch?

In wenigen Tagen stimmt Amerika über einen neuen Präsidenten ab. Ob der neue der alte bleibt oder ein Umbruch kommt, entscheidet sich vor allem in den Swing States. Daniel C. Schmidt hat sich dort umgeschaut. 

Für Donald Trump könnte es am 3. November eng werden, noch ist aber alles offen / dpa
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Autoreninfo

Daniel C. Schmidt ist freier Reporter. Er studierte in Manchester und London (BA Politics & Economics, MSc Asian Politics) und lebt zur Zeit in Washington, D.C.. Schmidt schreibt über Pop, Kultur und Politik.

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Hallo, Amerika. Wie geht’s? 

Was für eine herrlich banale Frage, die leider superschwierig zu beantworten ist. In diesen Tagen sowieso. Die USA wirken aufgekratzt. Nervös auf der einen, siegessicher auf der andere Seite, ein bisschen in der Schwebe. Am Ende ist die Frage doch die: Wie geht’s und wie geht’s weiter? 

Ein neues Kapitel?

Die große amerikanische Erzählung, das ewige Spiel zwischen Gewinnern und Verlierern, muss ja irgendwie fortgeschrieben werden. Wer das nächste Kapitel aufschlägt, Donald Trump oder Joe Biden – in ein paar Tagen wissen wir mehr. Oder auch nicht, wenn der Abend im Chaos enden sollte, weil die Wahlämter bei der hohen Wahlbeteiligung mit den Auszählungen nicht hinterherkommen oder es Ärger wegen vermeintlich zu spät eingereichter Briefwahlumschläge gibt.

Mike West glaubt, dass das nicht passieren wird. Er ist gerüstet, im Team haben sie den Tag der Wahl und die Wochen davor, in denen „early voting“ erlaubt ist, monatelang vorbereitet. West ist Mitarbeiter der Wahlbehörde von Cuyahoga County in Ohio. Vor ihm stehen Dutzende Wahlkabinen, mit Duschvorhängen getrennt, unten gucken die Füße der Wähler und Wählerinnen raus. „Wir sind gewappnet für alle Eventualitäten, auch am Wahltag selbst”, sagt West Mitte an diesem Nachmittag Mitte Oktober. „Grundsätzlich empfehlen wir den Menschen, ihre Unterlagen per Post zu schicken, das ist in einer Pandemie am sichersten. Aber viele wollen sich das Erlebnis nicht nehmen lassen, in die Wahlkabine zu gehen.“ 

Einbahnstraßen und Einwegstifte 

Eine Präsidentschaftswahl zu veranstalten, während ein unsichtbares Virus über das Land hinwegfegt, das ist nicht unmöglich, braucht aber ein bisschen Überlegung. Für das Wahllokal hier in Cleveland hat sich die Wahlbehörde ein Einbahnstraßensystem überlegt, überall stehen Spender mit Desinfektionsmittel, am Eingang wird bei jedem Fieber gemessen. Die Türen stehen offen, für Durchzug und damit niemand die Klinken anfassen muss. Außerdem haben sie Plasitkkugelschreiber in Unmengen eingekauft. „Aus hygienischen Gründen sollte jeder nach dem Ankreuzen den Stift mitnehmen“, sagt West, was nicht immer der Fall sei. Hinter ihm versenkt eine Mitarbeiterin eine Handvoll Kullis in einer Wanne mit schaumigen Wasser, um die zurückgelassenen zu reinigen. 

Draußen vor dem Wahllokal steht Shontel Brown um einen Tisch mit Informationszetteln und Flugblättern. Die junge Frau ist die Vorsitzende der Demokraten in Cuyahoga County. Sie informiert Wähler über die Demokraten auf dem Wahlzettel, wer sie sind, wofür sie stehen. „Wenn die Schlangen und die Begeisterung der Menschen hier vor Ort ein Gradmesser sind, werden wir sehr gut abschneiden“, sagt sie über Joe Bidens Chancen nächste Woche. 

Schlechte Aussichten für den Amtsinhaber 

Demokraten neigen dazu, stärker Gebrauch vom sogenannten „early voting“ zu machen, der Möglichkeit, schon vorm Wahltag an die Urne zu gehen. So kurz vor dem eigentlichen Wahltag am 3. November haben bereits 75 Millionen Amerikaner gewählt, entweder in der Kabine oder per Briefwahl. Genau lässt sich natürlich noch nicht sagen, für wen die alle abgestimmt haben. Lange Schlangen an sich sind kein verlässlicher Indikator für Bidens gutes Abschneiden. 

Genauso wenig heißt es etwas, dass ein paar Autostunden von Cuyahoga County entfernt im ländlichen Pennsylvania fast durchweg nur „Trump 2020“-Wahlkampfplakate zu finden sind. Den jüngsten Umfragen nach sieht es nicht sonderlich gut aus für den Amtsinhaber. Aber da draußen, da findet man immer noch unzählige Superfans des Präsidenten, die nichts auf ihn kommen lassen. 

Der umkämpfte Rostgürtel der USA

Und trotzdem können Fahrten durch ein paar dieser Swing States ein trügerisches Bild abliefern. Man trifft, wen man trifft, und soll daraus ein Gesamtbild extrapolieren. Das kann ja nur schief gehen. Stimmungen und Wahrnehmungen dokumentieren kann man so dennoch ganz gut. Menschen wie Dave Mitchko aus Pennsylvania sagen: „Der Präsident hat meine Erwartungen übertroffen.“ 

Er hat zweimal für Obama abgestimmt, bis Trump ihn mit „America first“ gepackt hat, dem Versprechen, neue Jobs zu schaffen und die Grenzen zu sichern. In seiner Region im Nordosten von Pennsylvania ist der Bergbau zu Erliegen gekommen, Fabriken haben zugemacht. Trump hat Dave Mitchko wieder Hoffnung gegeben, dass das Land auch anders kann als vor den Globalisierungsmechanismen einzuknicken. 

Auch John Delaney findet gut, dass Trump die lang abgeschlossenen Handelsverträge nicht als gegeben akzeptiert hätte. Der ehemalige Republikanische Bürgermeister von Floridas größter Stadt Jacksonville findet dennoch, dass es einen Weg geben muss, Millionen von Migranten in Amerika in die Gesellschaft zu integrieren statt sie abzuschieben, wie Trump in der Vergangenheit mehrfach gedroht hat, nur weil sie einst ohne gültige Papiere ins Land kamen. „Man kann diese Menschen nicht einfach aus dem Land deportieren“, sagt er hinter seinem Schreibtisch im Büro hoch oben über der Stadt. 

Eine Frage der moralischen Integrität

Dort, vom 13. Stock aus, sieht dieser Teil von Amerika klein und gewöhnlich aus. Dabei könnte er das sprichwörtliche Zünglein an der Waage sein. Florida ist einer dieser Staaten, ohne die es schwierig wird, die Präsidentschaft für sich zu entscheiden. Wer hier gewinnt, hat die besten Chancen, Commander-in-Chief zu bleiben oder zu werden. 

Auch auf Typen wie Delaney wird es ankommen bei der Wahl: Konservative Parteimitglieder, die eigentlich verlässlich Republikanisch wählen und gewisse politische Entscheidungen seinerseits befürwortet haben, jedoch stark an Trumps moralischer Integrität zweifeln. Diese Wähler müssen abwägen, ob ihnen ihr Gewissen oder die Parteilinie wichtiger ist bei ihrer Entscheidung. „Ich glaube, dass es knapper wird, als die Umfragen momentan erahnen lassen“, sagt Delaney.

Am Dienstag wissen wir mehr. Entweder bleibt Donald Trump im Weißen Haus oder Joe Biden zieht ins Oval Office ein. 

Zwei Männer, ein Amt, eine Richtungsfrage: Amerika, geht’s noch oder geht’s wieder?

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