Ausschreitungen in Brüssel - Die verlorene Mitte

Fast unbemerkt von deutschen Medien kommt es in Brüssel immer wieder zu Straßenschlachten zwischen jungen Migranten und der Polizei. Ausgerechnet im Herzland Europas fehlt offenbar ein versöhnendes kulturelles Leitbild

Die Wurzeln der Krise reichen tief. Bleiben sie weiter ungelöst, steigt der Druck im Kessel weiter an / Screenshot Youtube
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Autoreninfo

David Engels ist Professor für Römische Geschichte an der Université Libre de Bruxelles und Autor zahlreicher Bücher.

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Die Hauptstadt der EU wurde in den letzten Wochen gleich mehrfach von gewaltsamen Unruhen erschüttert, die wesentlich von jungen Männern mit Migrationshintergrund zu verantworten waren. Die Ereignisse, die es kurioserweise nur in den seltensten Fällen in die deutschen Medien geschafft haben, sind rasch erzählt. Am 11. November kam es nach der Qualifikation Marokkos für die Fußball-WM zu spontanen Unruhen in der Nähe der Börse, bei denen etwa 300 junge Männer Geschäfte plünderten, Fahrzeuge beschädigten und 22 Polizisten verletzten. Am 15. November wiederholte sich dieses Szenario unweit der Nationaloper: Ein vom Youtube-Star Mansour Sirat (alias „vargasss92“) ohne Zulassung organisiertes „Event“ artete zu einer Reihe von Zerstörungen der umliegenden Einrichtungen mitsamt Straßenschlachten gegen die Polizei aus. 

Am 25. November schließlich kam es infolge einer Demonstration gegen den libyschen Sklavenhandel vor dem Justizpalast zu Ausschreitungen, bei denen mehrere Dutzend junge Männer erneut Geschäfte und Fahrzeuge zerstörten und einen Polizisten schwer verletzten. Ungewiss ist nun nicht mehr, ob, sondern nur, wann sich diese Ereignisse fortsetzen werden, die nicht nur helllichten Tages und inmitten einer hochtouristischen europäischen Hauptstadt stattfanden, sondern zudem nur einen Steinwurf entfernt von jenen hohen Hallen, wo für einen ganzen Kontinent über Flüchtlingsverteilung, europäische Werte, Rechtstaatlichkeitszeugnisse und Schuldenschnitte entschieden wird.

Die Probleme sind vielschichtig

An Erklärungsversuchen mangelt es nicht. Auf der einen Seite ist von Polizeigewalt, Islamophobie und mangelnder Integrationsleistung des belgischen Staates die Rede, auf der anderen von Testosteronstau, Kleinkriminalität, Fundamentalismus und Territorialkämpfen. Dementsprechend simpel fallen dann auch die Lösungsversuche aus: mehr Geld – sei es für Sozialhilfe, sei es für Polizeikräfte. Dabei reichen die eigentlichen Wurzeln der Krise viel tiefer. 

Da wäre zunächst die zunehmende Ghettoisierung der noch recht überschaubaren Großstadt zu nennen: Die schwerbewachte EU-Bubble im Osten, das wesentlich von asiatischen Touristen dominierte Stadtzentrum, die Problemviertel im Norden, Westen und Süden und die Villenviertel an der Peripherie – alle stehen einander zunehmend fremd, gar feindlich gegenüber. Ferner das für Europa nicht untypische administrative Chaos der Großstadtregion: In unzählige konkurrierende Verwaltungseinheiten aufgeteilt, ist Brüssel nahezu unregierbar und erstickt in Rangeleien zwischen 19 Gemeinden, sechs Polizeizonen, zwei Sprachgemeinschaften, einer Regional- und einer Föderalregierung – und das inmitten des schwelenden belgischen Sprachenstreits. 

Eine allgemeine Kulturkrise

Schließlich die ideologische Zerrissenheit der Gesellschaft: Die völkische Nabelschau der Regionalisten, die Multikulti-Ideale der Linken, das Profitdenken der Liberalen, die Opferdiskurse der verschiedensten Minderheiten, der islamische Fundamentalismus, der Kant’sche Idealismus der Eurokraten – sie alle koexistieren nahezu berührungslos in einer Stadt, die genau wie der Kontinent, dem sie als Hauptstadt dient, die Mitte verloren hat.

Ein versöhnendes kulturelles Leitbild sucht man im Herzland Europas vergebens, wo zwar der Heilige Nikolaus mittlerweile aus Angst vor Verletzung verschiedener Randgruppen ohne Kreuz dargestellt wird, Schulkantinen aber schon auf Halal-Essen umgestiegen sind. Historisch gewachsene Identitäten, sobald sie den Rahmen des Touristisch-Folkloristischen überschreiten, sind im öffentlichen Raum nicht erwünscht.

Der Druckkessel

Dass hierdurch die Spannung zwischen Arm und Reich, Flamen und Wallonen, Christen und Muslimen, Belgiern und Eurokraten, Globalisten und Traditionalisten keineswegs gelöst, sondern wie in einem Druckkessel nur weiter gesteigert wird, ist unausweichlich. Zumal die angespannte wirtschaftliche Lage und der gewaltige Reformstau der EU dafür sorgen, dass von vielen Seiten fleißig Öl ins Feuer gegossen wird.

Und so handelt es sich denn bei den Brüsseler Ausschreitungen nicht etwa um weitere bedauerliche Einzelfälle, sondern vielmehr um das Symptom einer allgemeinen Kulturkrise, die kaum noch über die üblichen Ventile abgebaut werden kann, sondern gnadenlos und in beschleunigtem Maße nach Schwachstellen sucht,  ob in Paris, London, Berlin oder Hamburg. Solange, bis der Druckkessel von innen heraus zerrissen wird.

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