Ukraine - Die zweite Front

Schikanen gegen die Korruptionspolizei, Gerangel um den Antikorruptionsgerichtshof: In der Ukraine tritt der Kampf gegen Vetternwirtschaft und Bestechung auf der Stelle. Kommt das alte System zurück?

Erschienen in Ausgabe
Votum über Anti-Korruptionsmaßnahmen im ukrainischen Parlament in Kiew 2014 / picture alliance
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Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Für Freundlichkeiten hat Artjom Sytnik keine Zeit. Ein kurzes Kopfnicken, ein Grummeln zum Gruß. Achtlos knetet er die Visitenkarten der früheren Gäste zwischen seinen Fingern. Ohne Augenkontakt wird er während des Gesprächs immer wieder ungeduldig mit den Karten – etwa jener von der New York Times – auf die Tischplatte klopfen, als zähle er die Sekunden herunter.

Sytnik hat in seinem Amt wenig zu lachen. Vor knapp drei Jahren ist der 38-jährige Ukrainer als Direktor in das neu geschaffene Kiewer Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) eingezogen. Eine Institution, die aufräumen sollte mit der Vetternwirtschaft und der allgegenwärtigen Bestechung im Land. Doch statt korrupter Beamter, Geschäftsleute und Oligarchen steht Sytnik selbst unter Druck. Erst vor wenigen Wochen, im Dezember, schrammte er knapp daran vorbei, seines Amtes enthoben zu werden. In ukrainischen Medien wird er dieser Tage als Widersacher und politischer Rivale des Machtblocks um den Präsidenten Petro Poroschenko diffamiert. Dass ihm zu Jahresbeginn wegen eines „administrativen Vergehens“ eine Strafe von 1700 Hrywnja (knapp 50 Euro) aufgebrummt wurde, ist da eher noch harmlos.

Der Druck gegen das NABU steigt

Sie wird immer wieder als „zweite Front“ bezeichnet, nicht weniger bedrohlich für die Ukraine als der Krieg im Osten: die Korruption. Nach dem politischen Umbruch auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, ist der ukrainische Präsident Petro Poroschenko 2014 mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Dazu hat sich Kiew auch im Gegenzug für westliche Kredite und die EU-Visumsfreiheit verpflichtet. Das EU-Assoziierungsabkommen, an dem sich die Maidan-Proteste ursprünglich entzündet hatten, ist seit Herbst 2017 vollständig in Kraft. Seit dem Sommer reisen Ukrainer zudem visumsfrei in die EU. Der Internationale Währungsfonds (IWF) unterstützt die ehemalige Sowjetrepublik mit einem Hilfsprogramm von 17,5 Milliarden US-Dollar.

Ein Demonstrant wirft bei einer Protestaktion mit Spielgeld um sich.

Das NABU gehört dabei eigentlich zur großen Erfolgsgeschichte der Reformer: 2015 gegründet, hat sich die Behörde mittlerweile einen Ruf als unabhängige Korruptionspolizei erworben, die selbst davor nicht zurückschreckt, gegen die „Unberührbaren“ des Systems zu ermitteln. Etwa gegen den Sohn des mächtigen Innenministers Arsen Awakow oder den Chef der nationalen Steuerbehörde Roman Nasirow. Doch je hochrangiger die Fälle geworden sind, desto schwerere Geschütze wurden gegen das NABU aufgefahren: Schmutzkampagnen, Schikanen, Gesetze, die die Vollmachten des Büros einschränken. Sytnik versucht, es sportlich zu sehen. „Der Druck gegen uns ist auch ein Indikator dafür, dass wir gute Arbeit machen“, sagt er. Doch wenn Sytnik über die vergangenen Monate spricht, dann lässt er dazwischen immer wieder Worte fallen wie „offene Phase“, „Kampf“ oder sogar „Krieg“.

Die letzte große Schlacht wurde im Dezember geschlagen. Die beiden stärksten Fraktionen im Parlament, der Block Petro Poroschenko und die Volksfront, setzten einen Gesetzentwurf auf die Tagesordnung, wonach das Parlament den Leiter der Antikorruptionsbehörde direkt entlassen könnte. Eine Farce, wo doch Sytnik mit seinem Team gerade den Filz zwischen hoher Politik, Oligarchie und der Wirtschaft entwirren sollte. Dass Sytnik heute immer noch auf seinem Posten sitzt, ist nur dem Druck der westlichen Partner und der Zivilgesellschaft zu verdanken. So sei nämlich das Gesetz nach Interventionen des IWF und der EU quasi über Nacht doch wieder von der Tagesordnung des ukrainischen Parlaments verschwunden, wie internationale Medien berichtet haben.

Neue Unterstützrgruppe

Zwar konnte der Angriff vorerst abgewehrt werden, aber der Krieg ist noch lange nicht vorbei. In einem Seitengebäude des ukrainischen Parlaments, unter grellen Lüstern und gelbem Stuck, haben sich Vertreter internationaler Organisationen, Politiker, Botschafter und Journalisten versammelt. Der sperrige Titel des Treffens: „Runder Tisch zur Diskussion der vom Präsidenten der Ukraine eingeführten Gesetzentwürfe zum Obersten Antikorruptionsgericht“. Der Medienandrang ist groß, die Kameras blitzen. Es gibt Grußworte von Abgeordneten, die den Kampf gegen die Korruption beschwören. Sie sprechen von „Vertrauen“, von „Bürgerpflicht“ und von „Top-Prioritäten“. Vertreter internationaler Organisationen loben die „offene Diskussion“.

Auch die EU ist in der Ukraine stark engagiert: Neben politischer Unterstützung hat sie dem Land ein 12,8-Milliarden-Euro-Hilfspaket zugesagt. Eine eigene Unterstützungsgruppe wurde gegründet, um die EU-Maßnahmen zu bündeln und Reformen voranzutreiben. Neben den sieben EU-Beitrittskandidaten Serbien, Türkei, Mazedonien, Montenegro, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo gibt es derzeit kein anderes Drittland, in dem sich Brüssel so intensiv engagiert wie in der Ukraine. Doch in vielen Bereichen treten die EU-Beamten „zu zahm“ auf, kritisieren die Analysten des Thinktanks Chatham House in einem Bericht. Die EU-Kommission hüte sich davor, „zu stark Druck zu machen“ und damit womöglich zum Sturz der Regierung beizutragen, wird eine anonyme Quelle im Report zitiert.

Ukrainische Femen protestieren gegen die Medienkorruption

So ist es heute der Vertreter des IWF in der Ukraine, Goesta Ljungman, der als Erster verbal auf den Tisch haut. Der Vorschlag zum Antikorruptionsgerichtshof „bleibt weit hinter unseren Erwartungen zurück“, sagt er und kritisiert ein Prozedere, das die Unabhängigkeit der Richter infrage stelle und das Gericht erst recht wieder zu einer Marionette der Politik machen könnte. Das Regelwerk sei unvereinbar mit anderen, neu gegründeten Institutionen, und der entsprechende Zeitplan führe nur dazu, seine Gründung zu verschleppen. Nicht zuletzt steht die Befürchtung im Raum, der Gerichtshof könne mit kleinen Fällen überladen werden, anstatt sich den wirklich dicken Brocken im Korruptionssumpf zu widmen. Mit anderen Worten: too little, too late.

Ukraine als „game changer“

Die westlichen Partner sind sich einig, dass es der unabhängige Antikorruptionsgerichtshof ist, mit dem der Kampf gegen die Korruption in der Ukraine steht und fällt: ein „game changer“, der den Kreislauf aus Korruption und Straflosigkeit endlich durchbrechen könnte. Sowohl der IWF als auch die EU machen weitere Hilfszahlungen davon abhängig. So hat das NABU zwar bisher in 500 Fällen ermittelt, aber bis heute ist kein einziger hochrangiger Protagonist rechtskräftig verurteilt worden. Etwa der Chef der nationalen Steuerbehörde, Roman Nasirow, der laut NABU bei einem Gas-Deal 75 Millionen Dollar veruntreut haben soll. Nach einer Kaution von 100 Millionen Hrywnja (damals umgerechnet 3,5 Millionen Euro) wurde er vor einem Jahr wieder auf freien Fuß gesetzt. Oder der Bürgermeister von Odessa, dem das NABU Untreue in mehreren Fällen vorwirft. Er wurde im Februar umgehend von einem Kiewer Gericht ohne Kaution wieder freigelassen.

Zwar geben auch die schärfsten Kritiker zu, dass sich seit 2014 einiges im Kampf gegen die Korruption bewegt hat. Neben dem NABU sind es vor allem die elektronischen Vermögensdeklarationen, zu der eine Million Beamter verpflichtet sind; auch Maßnahmen zu mehr Transparenz im Gassektor und ein neues elektronisches Beschaffungssystem stehen auf der Habenseite der Reformer. Doch der Gerichtshof ist nur ein Beispiel dafür, wie der Kampf gegen die Korruption zwar offiziell angepackt, tatsächlich aber mit bürokratischen und juristischen Winkelzügen immer wieder verwässert, verschleppt und ausgehöhlt wird. Denn wen kümmert es schon, wenn zwar wegen Korruption ermittelt, aber am Ende doch wieder niemand verurteilt wird? „Wenn es hart auf hart geht, sind die Apparatschiks den Reformern immer einen Schritt voraus“, sagt Andrei Marusow von Transparency International in der Ukraine.

Die goldene Toilettenschüssel ist ein Symbol für Korruption

Es ist ein Spiel, in dem Staatspräsident Petro Poroschenko mittlerweile keine gute Figur mehr abgibt. Zwar stimmt es, dass es Poroschenko selbst war, der in den ersten Monaten seiner Amtszeit viele Initiativen zur Transparenz angestoßen hat, wie er kritische Fragen heute gerne abwiegelt. Aber der Wind hat sich zuletzt deutlich gedreht. So sehr, dass der ehemalige Investigationsjournalist Serhij Leschtschenko, der 2014 noch auf dem Ticket der Poroschenko-Partei ins Parlament einzog und inzwischen zur Opposition gewechselt ist, bereits von einer „Konterrevolution“ spricht.

Schabunin drohen bis zu fünf Jahre Haft

Ausgerechnet im Präsidialamt nämlich liefen zuletzt die Fäden der Blockadepolitik zusammen. Der Vorschlag zum Antikorruptionsgerichtshof, welcher vom IWF so scharf kritisiert wird? Stammt aus der Feder des Präsidenten. Die Justiz, die es bisher nicht geschafft hat, einen hochrangigen Korruptionsfall zu ahnden? Wird von Poroschenkos Vertrauten kontrolliert. Die Entscheidung, dem ehemaligen georgischen Präsidenten und Ex-Gouverneur von Odessa, Michail Saakaschwili, der die Korruption immer offener angeprangert hatte, die Staatsbürgerschaft zu entziehen? Wurde von Poroschenko persönlich angeordnet. Der Geheimdienst SBU, der immer wieder dadurch aufgefallen ist, Antikorruptionsaktivisten zu schikanieren? Untersteht direkt dem Präsidenten.

So ist der Kampf gegen die Korruption längst zu einem Mehrfrontenkrieg geworden. In Posniaky, einem Schlafbezirk im Osten Kiews, haben sich an einem sonnigen Tag Ende Januar Aktivisten vor einem Gerichtsgebäude versammelt. „Fuck corruption!“, „Freiheit für Schabunin!“ steht auf den Plakaten, die Nachmittagssonne blitzt durch die Plattenbauschluchten. Es ist der Auftakt zum Prozess gegen Witali Schabunin. Der energische 33-Jährige gilt als einer der bekanntesten Antikorruptionsaktivisten im Land und ist führendes Mitglied der NGO Zentrum im Kampf gegen die Korruption. Doch zuletzt ist der Druck auf Schabunin und seine Organisation gestiegen. Die Steuerbehörde ermittelt gegen die NGO, Schabunins Haus wurde von Unbekannten belagert. Ein Mann attackierte den Aktivisten auf offener Straße mit Pfefferspray, da schlug Schabunin zu. Während der Angreifer, der sich später als Journalist ausgegeben hatte, unbehelligt blieb, drohen Schabunin wegen Körperverletzung nun bis zu fünf Jahre Haft.

Oppositionsunterstützer demonstrieren vor dem Verfassungsgerichtshof 2007. 

Schabunins Prozess ist ein willkommener Anlass, um gegen allzu aufmüpfige Antikorruptionsaktivisten ein Exempel zu statuieren. Gehörten Leute wie Schabunin nach dem Maidan noch zu den Hoffnungsträgern, sind sie zuletzt wieder stark unter Druck geraten. Erst wenige Wochen ist es her, dass der Vorsitzende des parlamentarischen Antikorruptionskomitees, Jegor Sobolew, im Parlament mit den Stimmen der beiden größten Fraktionen, des Block Petro Poroschenko und der Volksfront, abberufen wurde. Sobolew gehört der Opposition an und hatte den Machthabern immer wieder vorgeworfen, den Kampf gegen die Korruption zu blockieren.

Ein Trumpf bleibt

Trotz allem will auch Sytnik, der Leiter des NABU, die Hoffnung nicht aufgeben. Denn es gibt in diesem Spiel noch einen Trumpf, der in der Vergangenheit immer wieder gestochen hat: die Ukrainer selbst. Auch wenn die Politik den Antikorruptionsbehörden immer wieder Hindernisse in den Weg stellt, so ist der Wille für Veränderung in der ukrainischen Bevölkerung unverändert groß – oder zumindest der Frust darüber, dass sich nichts verändert. 85,9 Prozent der Ukrainer glauben, dass der Kampf gegen Korruption nicht erfolgreich geführt werde, so eine aktuelle Umfrage der Foundation of Democratic Initiatives und des Kiewer Instituts für Soziologie. Dafür wird sich auch die Politik früher oder später verantworten müssen, glaubt Sytnik: entweder bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die 2019 stattfinden sollen – oder auf der Straße. Eine Protestbewegung, die zuletzt von Saakaschwili losgetreten wurde, hat zwar nur wenige Anhänger mobilisiert. Aber Kiew hat immerhin schon zwei Revolutionen innerhalb von zehn Jahren erlebt. Zuerst bei der orangenen Revolution 2004 und dann zehn Jahre später auf dem Maidan.

Am 25.02.2013 lautet der Titel der ukrainischen Wochenzeitschrift Fokus „Unser teurer Präsident“. 

Am Ende des Gesprächs taut Sytnik doch noch einmal auf. Auf einer Kommode in seinem Büro liegt ein großer Bildband über den Maidan – der „Revolution der Würde“, wie der Umsturz in der ukrainischen Hauptstadt von Anhängern (und auch von Sytnik selbst) genannt wird. Obwohl die Zeit für das Interview längst abgelaufen ist, lässt es sich Sytnik nicht nehmen, durch die Fotos zu blättern: Menschenmassen, EU-Flaggen, Aktivisten auf der Maidan-Bühne, bis hin zum Inferno aus brennenden Autoreifen und Toten. Für wenige Sekunden blitzt hinter der kühlen Fassade des Juristen der Aktivist jener Tage auf, der selbst auf dem Maidan für eine proeuropäische Ukraine, einen Rechtsstaat und gegen das korrupte Regime unter Wiktor Janukowitsch demonstriert hatte. „Natürlich wäre unter Janukowitsch die Gründung einer Institution wie NABU undenkbar gewesen“, sagt Sytnik. „Aber der neue Präsident täte gut daran, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.“

Die Karten wurden neu gemischt

Wird also am Ende alles so wie früher, als korrupte Oligarchen sich das Land aufteilten? Ist die Revolution nach vier Jahren schon wieder gescheitert? Der ukrainische Politologe Wladimir Fesenko hält das für weit überzogen. Obwohl Poroschenko seinem Erzfeind Michail Saakaschwili unlängst aus fadenscheinigen Gründen die Staatsbürgerschaft entzogen und ihn abgeschoben hat, sei die Ukraine von den Repressionen, die das Land unter Janukowitsch erlebte, weit entfernt. „Keiner der politischen Opponenten von Poroschenko sitzt im Gefängnis“, sagt Fesenko. Das sei ein wesentlicher Unterschied zu Janukowitsch, der die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und den Innenminister Juri Luzenko inhaftieren, Demonstranten zusammenschlagen und sich nahe Kiew ein monströses Luxusanwesen bauen ließ – Freiluftgehege für Strauße und Flugverbotszone inklusive.

Wie der ukrainische Machtpoker ausgehen wird, ist noch nicht entschieden. Doch nach dem Maidan wurden die Karten auf jeden Fall neu gemischt. In der Öffentlichkeit zählen die Stimmen der Zivilgesellschaft – wie jene von Sytnik und Schabunin – heute mehr als vor dem Jahr 2014, als noch Janukowitsch und seine Getreuen herrschten. Selbst wenn sich das alte System nach Kräften wehrt, wird es die Uhren in der Ukraine nicht zurückdrehen können. Zumindest nicht mehr ganz.



Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.











 

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