Russland und Osteuropa - Wie der Ukraine-Konflikt Europas Frontlinie verschiebt

Die Möglichkeit eines Krieges zwischen Russland und dem Westen hat erhebliche Auswirkungen auf Länder wie Polen und Rumänien. Die Erkenntnis, dass Russland auch sie als Pufferzone betrachtet, hat ihnen bewusst gemacht, dass sie nicht nur Grenzgebiet sind, sondern eine Frontlinie. Das erfordert eine aktive Verteidigungsfähigkeit.

US-Soldaten während des Besuchs von Nato-Generalsekretär Stoltenberg und dem rumänischen Präsidenten Iohannis auf dem Luftwaffenstützpunkt Mihail Kogalniceanu / dpa
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Die Ukraine-Krise mag einige überrascht haben, aber sie kam nicht aus dem Nichts. Der aktuelle Konflikt lässt sich bis zum Aufstand auf dem Kiewer Maidan im Jahr 2014 und der anschließenden Annexion der Krim zurückverfolgen. Oder bis 2004, als Russland merkte, dass es in der Ukraine gegenüber dem Westen an Boden verlor. Oder sogar bis zum Ende des Kalten Krieges und darüber hinaus. Neu ist, dass die Möglichkeit eines Krieges in der Region zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ernst genommen wird, und das hat erhebliche Auswirkungen auf die Nato, die Ukraine und den Rest Osteuropas.

Zumindest ein Teil der russischen Strategie in Bezug auf die Ukraine bestand darin, diese zu nutzen, um den Westen zu spalten. Polen beispielsweise hat existenzielle Angst vor einem russischen Vormarsch, während etwa Deutschland stark von russischen Energieträgern abhängig ist – und beide sind EU- und Nato-Mitglieder. Die Vereinigten Staaten konzentrieren sich derweil auf interne Probleme, während das Vereinigte Königreich, eine weitere europäische Macht, gerade die Europäische Union verlassen hat. Russland dachte sich, dass jetzt ein guter Zeitpunkt sei, um die europäischen und transatlantischen Schwächen aufzuzeigen.

Bislang hat Russland das Gegenteil erreicht. Die Nato hat ihre Militäreinsätze in Osteuropa verstärkt, Truppen in Bereitschaft versetzt und zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge entsandt. Die USA und Großbritannien haben ihre jeweilige Präsenz in der Region verstärkt, während Frankreich Truppen unter Nato-Kommando nach Rumänien entsandt hat. Auch Spanien und die Niederlande haben Schiffe und Kampfflugzeuge ins Schwarze Meer entsandt, um sich den Nato-Kräften anzuschließen.

Westliche Länder außerhalb der Nato wurden aufgerüttelt

Selbst Deutschland scheint auf derselben Seite zu stehen. Letzte Woche schien Bundeskanzler Olaf Scholz auf einer Pressekonferenz in Washington zustimmend zu nicken, als US-Präsident Joe Biden damit drohte, dass es im Falle einer russischen Invasion „kein Nord Stream 2 mehr geben würde“. Tatsächlich haben die USA andere Länder dazu gedrängt, etwaige Erdgasausfälle aus Russland mit Flüssiggas auszugleichen. (Bisher haben Australien, Japan und Katar ihre Hilfe zugesagt.) Es überrascht daher kaum, dass deutsche Militärflugzeuge mit Truppenverstärkung am 15. Februar in Litauen gelandet sind.

Darüber hinaus hat die Bedrohung durch eine Invasion in der Ukraine westliche Länder außerhalb der Nato aufgerüttelt. Finnland und Schweden beispielsweise diskutieren zum ersten Mal seit Jahren über einen Beitritt zum Bündnis. Beide haben sich in den letzten Monaten mit der Nato abgestimmt. Finnland hat seine militärische Bereitschaft erhöht, während Schweden seine militärische Präsenz auf der Insel Gotland, dem Russland am nächsten gelegenen Teil des Landes, verstärkt hat. Ebenso hat die russische Bedrohung bei Nato-Mitgliedern und Nichtmitgliedern von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer Besorgnis ausgelöst.

Mit anderen Worten: Russlands jüngster Vorstoß zur Rückgewinnung der Grenzgebiete, die es am Ende des Kalten Krieges verloren hatte, bringt seine vermeintlichen Feinde näher zusammen. Und im Zentrum steht die Nato – ein Bündnis, von dem viele glaubten, es habe sein Mandat überlebt.

Polen und Rumänien müssen eigene strategische Entscheidungen treffen

Natürlich hat die Kriegsgefahr bei vielen Nationen Besorgnis ausgelöst. Aber für Rumänien und Polen – Washingtons operative Verbündete an der Front – hat sie tiefgreifende strategische Fragen aufgeworfen. Die erste bezieht sich darauf, wie ein Krieg mit der Ukraine tatsächlich aussehen würde. Einige Kriegsplaner waren davon überzeugt, dass eine südliche Route Russlands primärer Weg zur Invasion sein würde; eine Route, die Odessa mit der Krim verbinden und Russland die Kontrolle über alle Nicht-Nato-Häfen am Schwarzen Meer geben würde. Eine nördliche Invasionsroute wurde als weniger wahrscheinlich angesehen. Dennoch würde eine Invasion im Norden von Polen eine aktive Verteidigung gegen die russischen Streitkräfte erfordern, um deren Vormarsch zu blockieren, während eine Invasion im Süden von Rumänien sowohl einen amphibischen als auch einen Gebirgskrieg erfordern würde. All dies erfordert unterschiedliche Taktiken und Ausrüstungen sowie unterschiedliche Formen der Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen Bukarest und Warschau.

Die zweite Frage ist, wie wahrscheinlich eine Invasion wirklich ist. Moskau sagt, es müsse sich gegen die Übergriffe des Westens zur Wehr setzen. Schließlich hat die Nato nach dem Ende des Kalten Krieges osteuropäische Länder aufgenommen, von denen Russland hoffte, dass sie nicht beitreten würden. Die Forderungen Moskaus erweckten den Anschein, als ob Osteuropa und die Ukraine eine einzigartige Bedrohung für Russland darstellten, die verschwinden würde, wenn sich die Nato einfach aus der Region zurückzöge. So unwahr dies auch sein mag, die Botschaft Russlands war eindeutig: Die osteuropäischen Länder sind ebenso ein Ziel wie die Ukraine.

Natürlich haben diese Länder schon früher mit dem russischen Durchsetzungsvermögen in all seinen Formen zu tun gehabt, und keines von ihnen ist darauf erpicht, wieder in Moskaus Umlaufbahn zu geraten. Das ist der Grund, warum sie überhaupt der Nato und der EU beigetreten sind, und ihr Beitritt ist ein wichtiger Grund dafür, dass Russland versucht, seinen Einfluss in den Gebieten, die es als seine Grenzgebiete betrachtet, zurückzuerobern: im Kaukasus, in Zentralasien und in Osteuropa. Die Erkenntnis, dass Russland diese Länder ebenso wie die Ukraine als Teil seiner Pufferzone betrachtet, hat den osteuropäischen Staaten bewusst gemacht, dass sie weniger ein Grenzgebiet sind, in dem Ost und West ohne tagtägliche Zwischenfälle aneinandergrenzen, sondern vielmehr eine Frontlinie, an der sie ihre eigenen strategischen Entscheidungen treffen müssen.

Ein grundlegender Politikwechsel ist gefordert

Und genau das haben die osteuropäischen Länder auch getan. Sie haben beispielsweise ihre Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben erhöht, um für den Fall gewappnet zu sein, dass Russland gegen sie vorgeht. Aber während dies auf strategischer Ebene von den Regierungen weitgehend verstanden wurde, nahm der Durchschnittsbürger die Bedrohung nicht wirklich wahr – zumindest nicht bis zur aktuellen Ukraine-Krise, die viele davon überzeugt hat, dass Verteidigung und Sicherheit jetzt dringender sind denn je.

Dies ist bedeutsamer als es klingt. Ein Eckpfeiler der osteuropäischen Strategie besteht darin, sich auf die Widerstandsfähigkeit gegenüber der russischen hybriden Kriegsführung zu konzentrieren und dafür zu sorgen, dass sie nicht Opfer von Desinformationskampagnen, wirtschaftlichen Manipulationen usw. werden. Es handelt sich um eine weitgehend proaktive und maßvolle Strategie, die zwangsläufig auf Durchsetzungsvermögen verzichtet. Die aktive Verteidigung der Frontlinie ist eine ganz andere Kategorie. Denn hier müssen sie nicht nur einspringen, wenn es nötig ist, sondern sich selbst und die Grenzen der Nato (und der EU) jederzeit verteidigen.

Diese Wahrnehmung wird sich wahrscheinlich ausbreiten. Dringlichkeit und Durchsetzungsvermögen in Verteidigungsfragen führen zu einer effektiven Entwicklung kritischer Infrastrukturen, die den Verkehrs-, Energie- und Gesundheitssektor verbessern. Diese Entwicklungen erfordern mehr als nur Investitionen von westeuropäischen Ländern, die die Frontlinie halten wollen; sie erfordern vielmehr einen grundlegenden Politikwechsel, der militärische, diplomatische, wirtschaftliche und politische Aspekte einbezieht. Auf Gedeih und Verderb könnten Polen und Rumänien bald für die Verteidigung der Nato und der europäischen Grenzen verantwortlich sein. Sie werden sich der Realität entsprechend anpassen müssen.

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