Türkei-Offensive in Syrien - Die Zerstörung der kurdischen Hoffnung auf Frieden

Weltweit demonstrieren Kurden heute gegen den türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Nach Trumps Truppenabzug fühlen sie sich verraten als einstige Verbündete im Kampf gegen den Islamischen Staat. Jetzt fürchten sie ein weiteres Mal um ihre Existenz

Kurden demonstrieren in Duisburg gegen den türkischen Einmarsch / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Passar Hariky ist Kurde und angehender Politikwissenschaftler, Journalist und Schauspieler. Sein Fokus liegt in Internationalen Beziehungen und Politik im Nahen Osten. Er ist Redakteur bei RojavaNews.net, einem deutschsprachigen Nachrichtenportal, das über kurdische Themen informiert.

So erreichen Sie Passar Hariky:

Anzeige

Die Welt ist für mich eine andere, seit US-Präsident Donald Trump ankündigte, seine Truppen aus Syrien abzuziehen. Trump spielt hierbei wie vergangenes Jahr im Dezember mit den Gefühlen von Millionen von Menschen, die in Rojava im Schutz der kurdischen Streitkräfte ein neues friedliches Leben führen können. Der US-Präsident gefährdet mit seinen innenpolitisch motivierten Rückzugsplänen, die Leben von Millionen von Menschen, die den Schrecken des sogenannten Islamischen Staates entkommen sind, um neu zu beginnen. Er beschwörte die türkische Invasion herauf. Seine populistische Drohung, die Türkei deshalb wirtschaftlich zerstören zu wollen und seine nun getätigte Ankündigung, vermitteln zu wollen, haben daran bislang nichts geändert. Trump nimmt den Tod von uns Kurden in Kauf. Er nimmt in Kauf, dass der Einmarsch Erdogans schlussendlich genoziale Folgen für uns haben kann.

Trumps alleinige Entscheidung die US-Truppen aus Syrien zurückzuziehen, ist die Entscheidung eines Mannes, der von Politik und den Schrecken des Krieges nichts versteht. Seine außenpolitischen und militärischen Berater und Experten, sowie wichtige Politiker sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten sind sich einig über diese fatale Entscheidung. Der Schaden, den er damit anrichtet, wird noch in Jahrzehnten zu spüren sein. Denn hiernach werden sich Parteien und Fraktionen zweimal überlegen, wie vertrauenswürdig und langlebig ein Versprechen der USA ist und ob eine Partnerschaft überhaupt Sinn ergibt.

Vom Krieg betroffen

Wir Kurden, ob aus Bakur (Nordkurdistan, der türkische Teil), Rojhilat (Ostkurdistan, der iranische Teil), Bashur (Südkurdistan, der irakische Teil) oder Rojava (Westkurdistan, der syrische Teil) sehen uns durch die USA verraten. Besonders aber trifft es die Kurden in Rojava, die seit den Anfängen gegen den Islamischen Staat und andere islamistische Milizen kämpfen. Seit der Belagerung von Kobane haben sich die kurdischen Streitkräfte gegen die Islamisten zur Wehr gesetzt und die Eroberung der Stadt verhindert. Ab diesem Moment war der Widerstand gegen den Islamischen Staat geboren und zusammen mit der Koalition haben sie nach und nach das vom IS eroberte Gebiet befreit und Zivilisten – egal ob Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen, Armenier, Yeziden oder sonstige ethnische oder religiöse Zugehörigkeit – aus den Klauen des IS gerettet.

Nicht US-Bürger haben ihre Familienangehörigen und Freunde dort verloren. Nicht die Koalitionsteilnehmer mussten mitansehen wie die eigene Heimatstadt, das eigene Haus, in dem man aufwuchs, in Flammen aufgeht und bestialische und menschenverachtende Verbrechen verübt worden sind und noch immer werden. Nicht Trump hat zusehen müssen, wie die eigene Schwester oder der Bruder im Graben neben dir erschossen wird. Die Kurden mussten all das ertragen und erdulden und um ihr Leben kämpfen. Wir waren es, denen dieser Krieg gegen den Terrorismus und Fanatismus alles abverlangt hat.

Schlecht entwickelte Gebiete

Was der Westen nicht versteht, ist sein Privileg der Selbstbestimmung. Es ist ein Privileg, das sie genießen können und die Kurden nicht. Vor dem Bürgerkrieg war die kurdische Sprache in Syrien verboten. Eltern durften ihren Kindern keine kurdischen Namen geben. Den Kurden wurde durch Bashar al-Assads Vater Hafiz al-Assad das Recht auf eine Staatsbürgerschaft aberkannt. Sie sind de-jure staatenlos auf eigenem Grund und Boden. Die kurdische Region, welche von Efrîn bis zur irakischen Grenze den Norden Syriens umfasst, sind die am schlechtesten entwickelten Gebiete im ganzen Land gewesen. Schlechte Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Bürgerrechte sind der Ursprung des kurdischen Widerstandes.

Die kurdischen Regionen in Nordsyrien sind die fruchtbarsten im ganzen Land. Mehr als 70 Prozent der Agrarwirtschaft wird im Norden getätigt und versorgt das ganze Land. Viehzucht findet hauptsächlich auf den kurdischen Weiden statt und sogar Erdöl und Erdgas wird in Rojava gefördert. Doch das syrische Regime hatte kein Interesse, das erwirtschaftete Geld aus der Region auch in ebendiese zu investieren. Ebensowenig hatte es Interesse daran, die kurdische Bevölkerung im Land gegen den Islamischen Staat zu verteidigen. Die nördlichen Provinzen waren auf sich allein gestellt und sollten trotzdem ihre Loyalität zum Regime zeigen.

Und in eben diese Situation sollen die Kurden, die wichtigsten und loyalsten Verbündeten der USA in Syrien und im Irak, nun erneut geschoben werden. Das soll der Dank sein, den man sich für das Aufopfern verdient hat und den Westen vor einem Terrorstaat geschützt hat.

Türkische Unterstützung für den IS

Die türkische Regierung sieht alle Kurden als Terroristen an. Es ist ihre Überzeugung, dass die kurdischen Kräfte in Syrien, also die YPG und YPJ, Schwesterorganisationen der PKK sind und es ist zur Norm geworden, das vor allem deutsche Medien dieses Narrativ aufnehmen, und damit türkische Propaganda zu verbreiten. Jedoch ist diese Information inkorrekt. Die kurdischen Kräfte sehen in Abdullah Öcalan eine politische Figur, dessen Ideen und Gedanken für eine Post-Bürgerkriegsepoche eine Alternative darstellen. Die Strukturen der Kräfte funktionieren ohne den Einfluss der PKK. Klar ist, das Narrativ, die Kurden in Syrien seien mit der PKK gleichgestellt, dient als Legitimationsgrund für die politischen Ziele Recep Tayyips Erdogans und seiner begonnenen Invasion.

Während des Krieges gegen die Islamischen Staat, hat sich die Türkei aus den Kampfhandlungen gegen die Terrororganisation des IS rausgehalten. Schlimmer ist noch die Tatsache, dass es eine überwältigende Menge an Beweisen gibt, die aufzeigen, dass IS-Kämpfer nicht nur über die Türkei nach Syrien gelangen konnten, sondern dass ebendiese sogar in türkischen Krankenhäusern entlang der Grenze behandelt wurden, um wieder zurückzukehren. Noch erstaunlicher ist der Fakt über die türkische Versorgung des IS, die über die jetzt von der Türkei und der FSA gehaltenen Städte Azaz, Jarabulus und al-Bab ermöglicht wurde. So konnte ein Transferweg für Waffen- und Munitionslieferungen über Azaz nach Rakka, der damaligen „Hauptstadt“ des IS, geschaffen werden. So kamen mehrere türkische Waffengattungen in die Hände des Islamischen Staaten und die Türkei bekam das geförderte Erdöl aus den Gebieten des IS. Diese Tatsachen sind vorhanden und werden sorgfältig durch die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien aufgezeichnet und an die Koalition weitergegeben.

Ezidische Kurden besonders getroffen

Was dem Autokraten Erdogan nicht passt, sind diese Unmengen an Beweisen, die aufzeigen, wie die Türkei gegen internationale Verträge verstößt. Die Türkei will ein zweites Sirnex, ein zweites Nisêbîn, ein zweites Efrîn. Was haben diese Städte und Provinzen gemeinsam? Sie sind alle kurdisch. Sirnex und Nisêbîn wurden durch die türkische Regierung zerstört, weil die kurdische Bevölkerung die HDP ins Parlament gewählt hatten und Erdogan seine alleinige Herrschaft gefährdet sah. Efrîn liegt in Syrien und wurde durch die Türkei erobert. Efrîn war vom Bürgerkrieg verschont, da sich die Kurden recht schnell zu verteidigen wussten. Die Region hebt sich besonders durch die traditionelle Olivenölproduktion hervor, die sowohl national als auch überregional verkauft wurde.

Durch die türkische Invasion wurden die Plantagen ausgebeutet und zerstört und den Einwohnern wurde die Versorgungsgrundlage genommen. Ein wichtiger Faktor für die Invasion in Efrîn war aber der Fund von seltenen Metallen. Das Interesse bestand darin in Efrîn danach zu graben und zu bohren, um an die natürlichen Minerale zu kommen. Dadurch wurde Efrîn zu einer neuzeitlichen Kolonie der Türkei. Tagtäglich geschehen in Efrîn Verbrechen wie Morde, Entführungen, Einbrüche, Folter, Vergewaltigungen, Diebstahl und Brandstiftungen durch die von der Türkei unterstützten Milizen. Vor allem die ezidischen Kurden, eine religiöse Minderheit im Nahen Osten, ist von der Willkür in Efrîn betroffen. Erst der Genozid des Islamischen Staates an den Yeziden und jetzt die Türkei? Was in Efrîn passiert ist, könnte wieder passieren.

Nachhaltigkeit und Emanzipation

In Nordsyrien, welches unter dem Schutz der Demokratischen Kräfte Syriens steht, einem Militärbündnis aus verschiedenen Milizen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, sahen die Menschen zum ersten mal wieder Hoffnung auf ein normales friedliches Leben. Fern der diktatorischen Unterdrückung unter dem syrischen Regime, dass den alten Status wiederherstellen will und frei von türkischer Willkür. Nachhaltigkeit und Emanzipation stehen im Vordergrund. Nach und nach wird eine funktionierende Wirtschaft aufgebaut, die die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt und auch den Rest des Landes versorgen kann. Hier wird ein komplett neuer Politikansatz verfolgt, den es im Nahen Osten so noch nie gab. Lokale Selbstverwaltung und Dezentralismus spielen im Aufbau der Strukturen eine enorme Rolle.

Die Kurden haben am eigenen Leib erfahren wie es ist, wenn die Mächtigen über ihre Köpfe hinweg für sie entscheiden und versuchen in Rojava Strukturen aufzubauen, die genau dieses Herrschaftsprinzip ablöst. Es ist eine freie und demokratische Enklave in einem Meer voller Blut und Tod und gibt der Region zum ersten Mal seit Jahrzehnten Hoffnung auf eine stabile und demokratische Präsenz. Die Aufgabe ebendieser menschenrechtsförderenden und demokratiebegeisterten Enklave an die Türkei, steht im Widerspruch gegen alles was wir hier in Deutschland und Europa lernen und zu hören bekommen. Der Westen predigt über demokratische Werte und lässt uns gleichzeitig fallen und händigt uns aus. Nun sollen ein Diktator und ein Autokrat mit uns machen was sie wollen.

Nicht nur als Kurde bin ich davon unmittelbar betroffen. Auch als Deutscher und Europäer bin ich schockiert über dieses Vorgehen, über diese Gleichgültigkeit eines US-Präsidenten der an Politik und Konsequenz keine Gedanken verschwendet, sondern nur den nächsten Twitterbeitrag plant.

Anzeige