Türkei - „Das ist inzwischen ein Klassen- und Kulturkampf“

Erdogan verfolgt mit den Säuberungen von Militär, Justiz und Beamtenapparat ein klares Ziel: Er will den Staat in eine gelenkte Demokratie nach dem Vorbild Russlands umbauen, sagt Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul im Interview

„Wer sollte so blöd sein und das machen?“ Ein türkischer Polizeioffizier hält am Montag nach dem Putsch in Istanbul Wache / picture alliance
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Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Herr Brakel, Erdogan hat den Militärputsch nicht zuletzt deswegen niederschlagen können, weil er seine eigenen Anhänger auf die Straße gerufen hat. Die protestieren aber längst nicht mehr friedlich, man hört von Mobs und Lynchmorden. Wann könnte Erdogan das gefährlich werden?

In dieser Situation kann ihm nicht ganz so viel gefährlich werden. Diejenigen, die diese Mobs organisieren, sind ja größtenteils seine Parteianhänger. Es wird eher gefährlich für diejenigen, die nicht hinter dem Präsidenten stehen. Am Sonntag gab es Berichte über Angriffe auf Aleviten.

Wo sind denn die Demokraten, die einst die Gezi-Park-Revolution anzettelten?

Foto: Heinrich-Böll-Stiftung

Die gibt es immer noch. Viele von denen sind zu Hause. Sie haben Angst, dass sich das alles gegen sie richten könnte. Aber es gibt sie. Im November haben rund 50 Prozent der Bevölkerung die AKP gewählt. Unter den anderen 50 Prozent finden sich nicht nur Gezi-Anhänger, also Linksliberale und Demokraten, sondern auch andere Kräfte, etwa Kemalisten. Aber sie halten sich zurück.

Inzwischen wurden fast 9000 Staatsbeamte entlassen. Ist das schon eine Konterrevolution?
Das ist schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall nutzt die Staatsführung die Gunst der Stunde, um mit ihren Gegnern abzurechnen. Dazu gehören Gülenisten und auch andere oppositionelle Kräfte. Gerade heute wurden mehrere Tausend Beamte aus dem Finanzministerium entlassen. Der Staatsumbau, den Erdogan bereits vor einigen Jahren begonnen hat, läuft jetzt auf vollen Touren.

Wie plausibel sind die Gerüchte, dass der muslimische Prediger Fethullah Gülen einer der Drahtzieher hinter dem Putsch ist?
Die türkische Regierung sagt, sie hätte Beweise dafür. Die Amerikaner fordern für eine Ausweisung Gülens glaubhafte Beweise – die aber noch nicht vorliegen. Es gibt zwar eine Reihe von Namen der Inhaftierten. Aber es lässt sich weder sagen, ob sie wirklich in den Putsch verwickelt waren noch, ob sie zur Gülen-Bewegung gehörten. Ich habe eine andere Theorie: Zu diesem Putsch hat sich eine Gruppe zusammengefunden, unter denen vielleicht Gülen-Anhänger, vielleicht Kemalisten waren. Andere haben sich aus persönlichem Interesse da hineinziehen lassen. Aber das sind alles Vermutungen.

Unbestätigten Meldungen zufolge soll sich der Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk als Rädelsführer bekannt haben. Anderen Medien zufolge bestreitet er das. Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser Putsch von Erdogan inszeniert war?
Das erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Die Regierung müsste zudem erst einmal Befehlshaber finden, und zwar eine ganze Menge. Da mitzumachen, in dem Wissen, dass das fehlschlagen wird – im Moment wird ja sogar die Todesstrafe ins Gespräch gebracht: Wer sollte so blöd sein und das machen?

Anfangs sah es doch aber so aus, als würde der Militärputsch alte Feindschaften beenden. Im Parlament versammelten sich alle hinter Erdogan, sogar die Kurden. Wie kann diese Einheit wieder hergestellt werden?
Diese Einheit war ohnehin sehr fragil. Dazu gehört auch der Umschwung im Narrativ, der gerade von der AKP auf den Straßen zelebriert wird: Man freut sich nicht nur, diesen Putsch niedergeschlagen zu haben. Es geht jetzt auch ganz klar darum, dass das hier das Ende der alten Republik ist.

Wie sieht denn die neue Republik aus?
Es ist eine Republik mit konservativ-islamischer Prägung, mit Erdogan als Staatsführer einer Präsidialrepublik. Eine starke Türkei, die nicht mehr von äußeren Kräften, vor allem nicht vom Westen abhängig ist und – das hoffen viele ihrer Anhänger – die dieses ökonomische Heilsversprechen umsetzen kann, das die AKP seit Jahren propagiert. Diese Republik lässt den Kemalismus und Säkularismus hinter sich und drängt den Einfluss des Militärs zurück. Letzteres ist nicht unbedingt schlecht. Aber – am Sonntag soll ein Imam auf einer Beerdigungsfeier für die getöteten Soldaten und Polizisten sinngemäß gesagt haben: „Gott schütze uns vor den Gebildeten.“ Solche Äußerungen befördern diesen Konflikt, der inzwischen ein Klassen- und Kulturkampf ist.

Sie sprechen immer noch von „Republik“. Kippt die Türkei nicht viel mehr in einen autoritären Staat ab?
Ja. Aber erstens ist die Türkei vom Namen her noch eine Republik – so wie beispielsweise auch Ägypten und Syrien offiziell noch eine Republik sind. Zweitens entwickelt sie sich nicht in einen komplett autoritären Staat, sondern eher in Richtung einer gelenkten Demokratie. Das Modell ist Russland: Es wird weiterhin Wahlen geben, nur die Möglichkeit für die Opposition, die zu gewinnen, wird eingeschränkt sein.

Die Bundesregierung hält es für unmöglich, noch EU-Beitrittsverhandlungen mit einem Land zu führen, das die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. Wie soll man darauf reagieren?
Laut EU-Acquis darf kein Land die Todesstrafe haben. Als Orbán vor zwei Monaten ähnliche Gedanken äußerte, hat die Europäische Kommission sofort mit dem Ende der EU-Mitgliedschaft gedroht. Die Türkei ist ja auch Mitglied des Europarates. Doch wenn man die Türkei aus dem Europarat werfen würde, wäre das ein großer Rückschlag für Menschenrechtler hier im Land. Denn an die Mitgliedschaft im Europarat ist auch die Mitgliedschaft an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebunden. Der konnte in den vergangenen Jahrzehnten auch während der Militärdiktatur immer als kleines Korrektiv in die türkische Gesellschaft hineinwirken.

Was heißt der Putsch für den EU-Flüchtlingsdeal mit Erdogan?
Erstmal noch nichts. Weder die EU noch die Türkei haben große Wahlmöglichkeiten in diesem Bereich. Es gibt für die Türkei kein anderes Land, keine andere Partei, die ihr das geben kann, und seien es nur die drei bis sechs Milliarden Euro aus Brüssel. Russland und die USA werden nicht kommen und das zahlen – also bleibt nur die EU. Wenn der Flüchtlingsdeal scheitern wird, scheitert er weniger an den Folgen des Putsches, sondern an den Problemen mit den Visaerleichterungen.

Was bedeutet das alles für die Arbeit der politischen Stiftungen in dem Land?
Die Stiftungen waren ja schon immer unter Beschuss in diesem Land. Aber – und das muss ich auch sagen – in den vergangenen Jahren haben wir weniger Probleme gehabt. Es war relativ ruhig. Gleichwohl merken wir, dass sich der Raum für demokratische Kräfte verengt. Wir werden weiterhin Kontakt zu allen demokratischen Parteien suchen, solange sie Interesse am politischen Dialog haben.

Was kann man noch konkret tun, um die demokratischen Kräfte, die sich jetzt in die Wohnungen verkriechen, zu mobilisieren?
Dazu kann ich jetzt noch nichts sagen. Wir müssen erst einmal abwarten, was jetzt passiert.

Herr Brakel, vielen Dank für das Gespräch.

Kristian Brakel ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Zuvor war der studierte Islamwissenschaftler unter anderem Referent im Auswärtigen Amt und Berater des EU-Sonderbeauftragten für den Nahostfriedensprozess.

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