Tschetschenien - Eine mörderische Ruhe

Beim Namen Tschetschenien denken viele an Krieg, Terror und Islamismus. Dabei zeigt sich die russische Teilrepublik als prosperierender Vorzeigestaat im Nordkaukasus. Aber auch dieser Eindruck trügt, unter der Oberfläche brodelt es gewaltig. Ein Besuch

Erschienen in Ausgabe
Ramsan Kadyrows wichtigster Trumpf ist die vollkommene Loyalität gegenüber Putin / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Letzter Aufruf für Flug Utair 792 nach Grosny“, hallt es durch das Terminal 1 des Flughafens München Franz Josef Strauß. Halt. Steht da zwischen Lissabon und Amsterdam wirklich Grosny auf der blau leuchtenden Anzeigetafel? 

Welche Bilder erscheinen vor dem inneren Auge eines Deutschen, der in den vergangenen 25 Jahren aufmerksam die „Tagesschau“ verfolgt hat? Russische Panzer auf zerstörten Straßen, Gerippe sowjetischer Plattenbauten, bärtige Bewaffnete, für die einen Terroristen, für die anderen Freiheitskämpfer. Und dorthin kann man seit diesem Sommer direkt von München fliegen. Flugzeit: vier Stunden, fünf Minuten. Wagen wir es.

Erste Überraschungen im Flugzeug: Da sitzt man neben einer hochgewachsenen (gefärbten) Blondine auf Stöckelschuhen, mit zwei jungen Studenten, die mit tschetschenischen Stipendien in Deutschland Bergbau und Zahntechnik studieren, und mit einem Tschetschenen, der einst als Kriegsflüchtling kam und jetzt in der Brauerei einer bayerischen Kleinstadt als Gabelstaplerfahrer arbeitet. Alle sind auf dem Weg zu ihrer Verwandtschaft.

Traurige Berühmtheit

Was ist das für ein Fleckchen Erde, aus dem noch immer jedes Jahr Tausende Menschen fliehen, um in Deutschland Asyl zu beantragen? Von den 12.234 Asylanträgen aus Russland stammten 2016 knapp 10.000 von russischen Bürgern aus Tschetschenien. Von Januar bis August 2017 waren es immerhin noch 3054 Tschetschenen. Gesunken ist die Zahl nur, weil Polen die Grenze zu Weißrussland dichtmacht – es ist die Hauptroute für tschetschenische Flüchtlinge.

Dafür, dass es nur etwa so groß ist wie Thüringen, ist das Gebiet nördlich des Kaukasusgebirges ziemlich bekannt in der Welt. Bevölkert wird die Republik, die in Russland wie 21 weitere die höchste Stufe der Autonomie genießt, von gut einer Million Menschen, von denen praktisch alle Tschetschenen sind. Russen und andere Sowjetbürger flohen in den neunziger Jahren vor dem Krieg. 

Der Krieg, der innerhalb eines Jahrzehnts an die 150.000 Menschenleben gefordert hat, ist tatsächlich zu Ende. Im ersten Krieg hatten sich die Tschetschenen Mitte der neunziger Jahre gegen Russland behauptet und eine vorübergehende Unabhängigkeit errungen. Zu seinem Amtsantritt eroberte Wladimir Putin 1999 jedoch in einem ohne Rücksicht auf zivile Verluste geführten Krieg die Republik zurück. Die Städte des Landes lagen danach in Ruinen, die Wirtschaft war zerstört, die Menschen traumatisiert. Aber die Gewalt des Kreml über sein Staatsgebiet war wiederhergestellt. 

Die Gewalt des Kreml sieht in Tschetschenien heute so aus: Wer in Grosny per Flugzeug aus dem Ausland ankommt, wird von russischen Grenzern überprüft – und wenn er verdächtig wirkt wie etwa ein deutscher Journalist, von einem russischen Geheimdienstler interviewt. Das gleiche Schicksal ereilt aus München kommende tschetschenische Männer. So kontrollieren die Russen ihre Landesgrenze. Ab dem Gepäckband beginnt dann der Machtbereich der Tschetschenen. 

Kadyrow und Putin

Es ist der Machtbereich eines Mannes, dessen bärtiges Konterfei auf Plakaten, Kindergärten, Boxschulen, auf Autos und in Zeitungen zu sehen ist: Ramsan Kadyrow. Der Mann, der trotz seiner 40 Jahre und seines massigen Körpers noch immer etwas Unbeholfenes, Jungenhaftes hat, und der in einer Fantasieuniform mit Halbmond auf dem Revers auftritt, erbte 2004 die Macht von seinem Vater, dem moskauloyalen Präsidenten Achmat Kadyrow. Seitdem regiert er sein Volk wie ein Sonnenkönig. Mit Gewalt hat er zuerst die letzten Rebellen in den Wäldern vernichtet und dann jegliche Opposition zum Schweigen gebracht. Weil kritische Worte gegenüber Kadyrow inzwischen lebensgefährlich sind, sind in diesem Text die meisten Zitate anonymisiert. Ramsan regiert so selbstherrlich, dass er sich selbst in Moskau reichlich Feinde gemacht hat, insbesondere in den Diensten. „In Tschetschenien gilt das Wort des sonst allmächtigen FSB rein gar nichts“, erklärt der Menschenrechtler Oleg Orlow von der Organisation Memorial, die sich seit zwei Jahrzehnten intensiv mit Tschetschenien beschäftigt.

Sein wichtigster Trumpf ist die vollkommene Loyalität gegenüber Putin. Um die zu demonstrieren, hängt neben Porträts von Ramsan und seinem Vater immer auch eines von Putin, geziert mit mehr oder weniger sinnhaften Zitaten des russischen Präsidenten. „Solange er in Tschetschenien für Ruhe sorgt, hält Putin zu ihm.“ So beschreibt ein tschetschenischer Journalist in Moskau, der nicht genannt werden möchte, den Vertrag zwischen den beiden. Nicht einmal der kaltblütige Mord am Oppositionellen Boris Nemzow in Moskau im Februar 2015, in den hohe tschetschenische Sicherheitsbeamte verwickelt waren, brachte Kadyrow zu Fall. „Andere Gouverneure werden schon entlassen oder landen vor Gericht für ein Zehntel dessen, was Kadyrow sich leistet“, erklärt Orlow. 

Die Untersuchungen im Fall Nemzow zeigten einmal mehr, wie wenig Verfügungsmacht die russischen Behörden in Tschetschenien haben: Die Moskauer Ermittler konnten einen wichtigen Verdächtigen nie befragen, weil tschetschenische Soldaten sie nicht in das Dorf ließen, in dem er sich versteckte.

Fast drei Millionen Menschen, vor allem Tschetschenen, aber auch viele andere Russen, folgen Ramsans Eskapaden auf seinem Instagram-Account: Da zeigt er in betont lustigen Videos seine Kinder, Tiger und Löwen aus seinem Privatzoo, Rennpferde aus seinem Reitstall, er kümmert sich um die Renovierung von Fußballstadien und die Belange der Armen. Das Herz Ramsans gehört aber den Mixed Martial Arts, einer Art moderner Gladiatorenkämpfe: Der Club Achmat schickt seine Kampfmaschinen rund um den Globus zu Wettkämpfen, und wenn die Sieger zurückkommen, dann nimmt Ramsan sie stolz in den Arm.

Die besten Muslime der Welt

Ramsan sorgt aber nicht nur für Ruhe, er will sein Volk zu Vorzeigemuslimen und Tschetschenien zum Vorzeigeobjekt machen. Die besten Muslime der Welt sollen etwa keinen Alkohol mehr trinken. Es gibt in ganz Grosny nur noch einen Supermarkt, der einmal am Tag zwei Stunden lang Alkohol verkaufen darf. In den vielen Cafés und Restaurants der Stadt trinkt man Tee, Kaffee und Limonade. Viele Tschetschenen macht das wütend: Schließlich sind sie umgeben von russischen Republiken wie Dagestan oder Inguschetien, die ebenso muslimisch sind wie sie, aber in denen der Alkoholkonsum eben Privatsache ist, ganz zu schweigen vom südlich gelegenen Georgien, das sich seiner Weinkultur rühmt. „De facto hat Kadyrow eine totalitäre Enklave innerhalb Russlands geschaffen, in der er alles kontrolliert: die Politik, die Wirtschaft, das Privatleben der Menschen bis hin zu ihren sexuellen Beziehungen“, so der Menschenrechtler Orlow. Die Prostitution hat Ramsan schon lange ausgemerzt. Hart bestraft wird auch der Drogenkonsum, der in anderen muslimischen Ländern den Alkohol ersetzt. In Tschetschenien gibt es auch keine Diskotheken und keine Konzerte – mit Ausnahme tschetschenischer Folklore. Beinahe jeder Tschetschene berichtet von diesem undefinierbaren Druck, der auf ihnen lastet. Um den Dampf abzulassen, fahren sie an den Wochenenden in die Nachbarrepubliken.

Die besten Muslime der Welt sollen auch für ihre Glaubensbrüder kämpfen, zum Beispiel für die Rohingya im fernen Burma. Anfang September sieht man deshalb Zehntausende Tschetschenen im Zentrum von Grosny: Wie zu sowjetischen Zeiten am 1. Mai sind die Menschen „freiwillig-erzwungen“ hier, wie sie augenzwinkernd zugeben. Wer nicht erscheint, bekommt Probleme – in der Uni, der Schule oder am Arbeitsplatz. Von ihren Professoren geführt, halten Studenten unter der sengenden Sonne brav ihre Plakate in die Höhe und sehen ihren Republikchef, dem angesichts der Tragödie in Burma die Tränen kommen. Nicht ganz eine Million, wie Ramsan behauptet, aber immerhin 150 000 sind es, ähnlich viele wie 2015, als er zum Protest gegen die Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo aufrief. So schafft es Ramsan ins geliebte Rampenlicht, und auf Instagram beklatschen ihn Tausende Claqueure als aufrechten Kämpfer für die Rechte der Rohingya.

Wer allerdings im „Islamischen Staat“ für seine Glaubensbrüder kämpfen will, wie es seit 2013 Hunderte Tschetschenen im Irak und Syrien tun, für die hat Ramsan wenig übrig: Sie seien „Schaitane“ (Satane), die man liquidieren müsse.

Wolkenkratzer zwischen Kühen und Schafen

Um Tschetschenien zum Vorzeigeobjekt zu machen, hat Kadyrow mit Geld aus Moskau das Land wieder aufgebaut: Kein Haus in Grosny zeigt auch nur die geringste Spur des Krieges, die Straßen sind in einem besseren Zustand als in den meisten russischen Städten. In Grosny blinken allabendlich wie ein Weihnachtsbaum die beleuchteten Glasfassaden des Wolkenkratzerviertels Grosny City, davor strahlt hell die größte Moschee Russlands, benannt nach Ramsans Vater Achmat. In den Zentren der anderen Städte das gleiche Bild: neue, nachts in Neonfarben blinkende Wohnhäuser, prächtige Moscheen. Und im Zentrum Grosnys werden gerade hinter einem Bauzaun mächtige Betonpfähle in den Boden gerammt: Hier soll bis 2020 der höchste Wolkenkratzer Russlands entstehen. 102 Etagen und 435 Meter hoch, natürlich auch dieser benannt nach Ramsans Vater: Achmat-Tower. 

Aber wer braucht eigentlich einen solchen Turm in einer ärmlichen Provinzstadt mit nicht einmal 300.000 Einwohnern? Denn unterm Strich ist das alles nur Kulisse. Ramsan tut so, als wäre sein Land Saudi-Arabien, dabei ist es eine der ärmsten Regionen des Landes, die fast komplett aus Moskau finanziert wird, mit einem monatlichen Durchschnittsgehalt von 22.000 Rubel (300 Euro) und der dritthöchsten Arbeitslosenrate des Landes. Wer Arbeit hat, verdient um die 200 Euro im Monat. Nur Polizisten und die Mitglieder der vielen Sondereinheiten bekommen das Doppelte. 

Die Tschetschenen brauchen keine Geschäftshochhäuser: Sie leben vom Handel und vom Staat, der Rest züchtet Kühe und Schafe. Kein Wunder also, dass von den 30 Etagen des „Business-Hochhauses“ in Grosny-City die Hälfte leer steht und die andere Hälfte von Ministerien gemietet wird. Wer soll sie auch nutzen? Eine nennenswerte Industrie existiert nicht, abgesehen vom tschetschenischen Öl, das vom russischen Monopolisten Rosneft abgepumpt wird. Die Reserven sind allerdings fast erschöpft: 2016 wurden nur noch 17.000 Tonnen Öl gefördert.
Nur hier und da gedeihen zarte Pflänzchen. 

Bescheidener Wohlstand trotz Stillstand

Da ist etwa Taus Asajew, 54 Jahre alt, ein Produkt der Sowjetunion im besten Sinne: Asajew wurde vor dem Krieg im russischen Saratow zum Elektroingenieur ausgebildet, nach dem Krieg baute er das tschetschenische Stromnetz wieder auf. Jetzt steht er in einer Produktionshalle am nördlichen Rand der Stadt, darum herum trockene Wiesen und Felder, so weit der Blick reicht. „20 Jahre Krieg haben uns aus dem Leben herausgerissen. Aber irgendwo muss man wieder neu anfangen“, sagt er. Asajew hat für ein halbstaatliches Öl- und Gasunternehmen die Produktion von hochmodernen USV-Anlagen aufgebaut: Das sind leistungsstarke Akkuschränke, die in Krankenhäusern oder Rechenzentren kürzere Stromausfälle überbrücken können. Die Produktionslinie für fünf Millionen Dollar stammt aus Südkorea, die 22 Mitarbeiter wurden an der Universität in Grosny ausgebildet. Bislang wird nur Importiertes zusammengeschraubt, aber Asajew will mehr und mehr Komponenten vor Ort herstellen. Von einer neuen Produktion mit 800 Arbeitern erzählt er, die 2019 eröffnen soll. Aber das ist Zukunftsmusik.

Bisher verlassen die meisten jungen Tschetschenen die kleine Republik, nach Moskau, Deutschland oder Belgien. Jeder, mit dem man hier spricht, hat Verwandte in Bayreuth, Berlin oder Brüssel. Viele sind zu Kriegszeiten geflohen, andere erst in den letzten Jahren. Die Gründe dafür sind eine Mischung aus Wirtschaft und Politik. Wie soll man sich entwickeln in einem Land, dessen Wirtschaft von Ramsan und seinen Vertrauten kontrolliert wird? In Tschetschenien hungert niemand, die medizinische Grundversorgung ist gesichert. Selbst in den Dörfern ist der bescheidene Wohlstand angekommen, die sauber gemauerten Backsteinhäuser sehen besser aus als in vielen russischen Dörfern. Aber im Großen und Ganzen: Außer den Prestigeprojekten Ramsans, die überall aus dem Boden schießen, bewegt sich nichts.

Und je mehr man eintaucht in das tschetschenische Leben, desto mehr Geschichten hört man, die nicht nur das Bild des reichen, sondern auch des ruhigen Tschetscheniens zerstören. Meistens beginnen sie mit den Worten: „Was hier wirklich los ist, erzählt dir sowieso niemand.“ 

Undurchsichtige Geldflüsse und erzwungene Spenden

Da ist etwa die von Ramsans Mutter geführte Kadyrow-Stiftung, die Care-­Pakete nach Aleppo schickt, Boxturniere finanziert und ein Barthaar des Propheten in die Moschee der Stadt Argun gebracht hat. De facto ist sie aber die private Geldbörse des Kadyrow-Clans, aus der dieser der Bikergang Nachtwölfe Motorräder schenkt, den Spielern des Fußballklubs Achmat Mercedes-Limousinen oder Gérard Depardieu eine Fünfzimmerwohnung in Grosny. 2015 gab die Stiftung offiziell ein Budget von 1,5 Milliarden Rubel (20 Millionen Euro) an. Aber die Stiftung steht im Zentrum eines opaken Firmengeflechts aus Hotels, Boxhallen und Baufirmen. Entsprechend undurchsichtig sind die Geldflüsse. 2011 hatte Ramsan auf die Frage, woher das Geld für all die Prestigeprojekte komme, eine einfache Antwort: „Allah gibt es.“

Tatsächlich wird Ramsans Portokasse gefüllt mit „freiwillig-erzwungenen“ Spenden von Geschäftsleuten und einfachen Tschetschenen. Ein Taxifahrer etwa erzählt, er und seine Kollegen zahlten jeden Tag 100 Rubel (etwa 1,50 Euro) an die Stiftung, bei Angestellten sind es bis zu 10 Prozent des Gehalts, die einbehalten werden. Wer aufmuckt, wird öffentlich gedemütigt. So wie Aischat Ina­jewa, die sich in einem Youtube-Video über die Tribute beschwerte. Tagelang wanderte ihre wütende Rede in Tschetschenien von Smartphone zu Smartphone, dann zitierte Kadyrow sie zu sich. Inajewa musste mit gesenktem Kopf eingestehen, dass sie „offenbar verwirrt“ gewesen und niemals gezwungen worden sei, der Kadyrow-Stiftung Geld zu spenden. Abends wurde die Farce dann im tschetschenischen Fernsehen ausgestrahlt. 

Gefürchtet sind auch Ramsans „KRAschniki“, Mitglieder von Spezialeinheiten, die auf ihren Nummernschildern die Initialen von „Kadyrow Ramsan Achmatowitsch“ tragen. „Wer nicht rechtzeitig Platz macht, den drängen sie ab, dann steigen sie aus und verprügeln dich“, erzählt ein Taxifahrer, der das schon erlebt hat. „Und wenn du dich wehrst“, fügt er hinzu, „nehmen sie dich mit und du verbringst einen Monat im Keller.“ Kadyrows Leute sind an Straflosigkeit gewöhnt. Der Deal ist derselbe wie zwischen Ramsan und Putin: Die Hauptsache ist die Loyalität Kadyrow gegenüber.

27 verschwundene Männer

Aber es geht noch finsterer. In der Nacht zum 17. Dezember vergangenen Jahres hallte Maschinengewehrfeuer durch das Zentrum Grosnys. Mehrere junge Männer waren in die Stadt eingedrungen, hatten Polizisten entwaffnet und ein Polizeiauto entführt. Kadyrows Leute machten kurzen Prozess mit ihnen, einen Tag später reklamierte der „Islamische Staat“ das Attentat für sich. Es folgte eine Verhaftungswelle, während derer laut Informationen der Moskauer Nowaja Gaseta über 200 Tschetschenen festgenommen wurden, allesamt Menschen, die irgendwie in Verbindung mit den Angreifern standen. Dabei ist „festgenommen“ der falsche Ausdruck: Denn die meisten von ihnen landeten erst einmal in inoffiziellen Gefängnissen, wo sie gefoltert wurden, um Geständnisse aus ihnen herauszupressen.

Hausbesuch in der eine Autostunde von Grosny entfernten Stadt Schali, deren Zentrum von Staub bedeckt ist, weil dort gerade das nächste Prestigeobjekt fertig gebaut wird: die Ramsan-Kadyrow-Moschee für 10.000 Menschen – in einer Stadt mit 50.000 Einwohnern. Im Innenhof des Hauses unweit des Zentrums werden frische Tomaten und Brot gereicht. In Schali und Umgebung sind im Januar 27 junge Männer verschwunden, alle zwischen 17 und 30 Jahre alt. Der Sohn dieser Familie gehört dazu. Die Angehörigen erzählen, wie sie von der örtlichen Polizei zum Teufel geschickt wurden, als sie Anzeige erstatten wollten. Als sie schließlich in Grosny im Büro des russischen Ermittlungsausschusses Anzeige erstatteten, wurden sie am nächsten Tag vom Bürgermeister der Stadt zusammengerufen. Der drohte ihnen: Wenn ihr die Anzeige nicht zurückzieht, dann ist kein Platz mehr für euch in Tschetschenien. Und denkt daran: Ihr habt noch andere Söhne. 

Nie hätte ihr Sohn irgendetwas mit dem „Islamischen Staat“ zu tun gehabt, sagt die Mutter. Aber offenbar das Pech, im Telefonbuch der Attentäter gestanden zu haben.

Wer kann reden?

Es mag sich seltsam anhören, aber alle Hoffnung der Angehörigen ruht jetzt auf den Moskauer Behörden. Seit neun Monaten wissen die Angehörigen nicht, wo ihre Söhne sind. In einem Keller? Tot? Während die Angehörigen noch hoffen, kommt die Nowaja Gaseta zu einem anderen Urteil: Alle 27 Männer aus Schali und Umgebung wurden schon im Januar erschossen und verscharrt. Aber das will ich den Angehörigen lieber nicht erzählen. Lieber verlasse ich Schali, bevor ich zu viel Aufmerksamkeit errege. Für mich wäre sie nicht gefährlich, für meine Gesprächspartner schon. Menschenrechtler wie Orlow fahren kaum noch nach Tschetschenien, weil sie die Menschen nicht in Gefahr bringen wollen, mit denen sie sprechen.

Würde sich der Mord an den 27 Männern aus Schali bestätigen, wäre das selbst für tschetschenische Verhältnisse eine ungekannte Eskalation. Die massenhaften Festnahmen nennt Orlow eine „hysterische Reaktion“ Kadyrows: „Jahrelang hat er Putin berichtet, dass es in Tschetschenien keine Rebellen mehr gibt. Und plötzlich wird im Zentrum Grosnys geschossen.“

Vielleicht weiß Timur Aliev mehr. Der 43-jährige Tschetschene mit dem grau melierten Haar war einst ein sehr mutiger Mensch: 2003 gründete er eine unabhängige Zeitung in Grosny, er schrieb an gegen die Menschenrechtsverletzungen der Russen und des Kadyrow-Regimes, bekam dafür 2005 sogar den Medienpreis der Zeit-Stiftung. Aber die Zeit für Medien, die auch nur im Geringsten Kritik an den Verhältnissen in Tschetschenien üben, ist in Grosny schon lange vorbei.

Wahrheit oder Schmutzkampagne?

2008 kooptierte Ramsan den Journalisten Aliev. Frühere Weggenossen sagen, er hätte ein Angebot bekommen, das er nicht ablehnen konnte. Jetzt ist er Kadyrows Berater, zuständig für das Bildungswesen, vor allem aber ist er Chef von Ramsans Menschenrechtsrat.

Im weißen Polohemd sitzt er an diesem schwülen Septemberabend im Café Brioche. Es riecht nach frisch gebackenem Brot, im Hintergrund läuft französischer Chanson. Aliev ist auf den ersten Blick das Gegenteil zu Kadyrow: Er spricht ausgezeichnet Russisch, er schreibt in seiner Freizeit Fantasyromane, Kampfsport interessiert ihn nicht, lieber erkundet er zu Fuß die wilden Berge Tschetscheniens.

Man kann mit Aliev über vieles sprechen, aber wenn es um die Leute aus Schali geht, wird er einsilbig und konzentriert sich auf den Zahnstocher, den er zwischen seinen Fingern hin- und herdreht. „Ich vertraue den Verwandten nicht immer in solchen Fragen“, sagt Aliev. „Besonders wenn jemand mit dem ‚Islamischen Staat‘ zu tun hatte, erzählen sie etwas ganz anderes.“ Woher ich denn wisse, dass diese Menschen wirklich festgehalten werden? Vielleicht hätten sich das die Eltern nur ausgedacht? „Ich kenne Dutzende Geschichten, in denen solche jungen Menschen dann wieder in Syrien oder im Irak auftauchen.“ Es ist kein Durchkommen bei Aliev.

Auch bei dem Thema, das Tschetschenien in diesem Jahr in die Schlagzeilen brachte und das sogar Angela Merkel bei ihrem Treffen mit Wladimir Putin ansprach, kommen wir nicht weit. Die Nowaja Gaseta hatte im April über Hunderte mutmaßlich homosexuelle Tschetschenen berichtet, die von Kadyrows Sicherheitsorganen gekidnappt und gefoltert wurden. Mindestens drei von ihnen kamen dabei ums Leben, inzwischen haben Dutzende von ihnen im Ausland Asyl beantragt, darunter auch in Deutschland. Aliev sieht darin nur eines: eine Schmutzkampagne der Nowaja Gaseta.

Angst vor dem plötzlichen Ende der Ära Kadyrows

Und doch gibt es auf dieser Oberfläche in Tschetschenien auch ein Leben für solche, die weder als Gladiatoren in den Boxklub Achmat aufgenommen werden noch in Ramsans Sicherheitskräften Karriere machen wollen.

Selimchan und Chawa Musajew, 27 und 29 alt, sind zwei junge Menschen, die für ein ganz anderes Tschetschenien stehen. Er mixt (alkoholfreie) Drinks in einem Café, sie gibt Musikstunden. Zusammen nennen sie sich Echo Islands: Sie singt mit zarter Stimme von Träumen und Liebe, er begleitet auf der Gitarre. Die beiden sind an diesem Ort tatsächlich wie eine Insel – und gleichzeitig ein Echo der spätsowjetischen Ära, als Grosny eine von russischer, weltlicher Kultur dominierte Stadt war. Der Krieg aber hat die Russen vertrieben und mit ihnen die tschetschenische Intelligenzija: Chawa wuchs im sibirischen Krasnojarsk auf, Selimchan unweit von Sankt Petersburg. In die frei gewordenen Wohnungen zogen stattdessen die Tschetschenen aus den Bergdörfern und brachten ihre Kultur mit. Ramsan mit seinem schlechten Russisch, seinen ultrakonservativen Vorstellungen über das Verhältnis von Mann und Frau, mit seiner Liebe für Gladiatorenkämpfe, teure Autos und traditionelle Tänze ist der Inbegriff dieses Dorfmenschentums.

Chawa, Selimchan und die Ihren sind in der Unterzahl. Es gibt genau eine Bar, wo sie auftreten können, vor 50 oder 60 Leuten. „Größer ist die Gemeinde von Leuten, die solche Musik hören, hier nicht“, sagt Selimchan lachend. Die Vorstellung, dass jemand tanzen könnte bei einem der Konzerte – absurd. „Die Tschetschenen denken: Oh Gott, wenn das ein Verwandter mitbekommt“, erklärt Chawa. Wenn sie mehr Gleichgesinnte treffen wollen, ja einfach etwas von dem erleben, was sie aus ihrem früheren Leben kennen, dann fahren sie ins russische Wladikawkas oder in die georgische Hauptstadt Tiflis. 

Aber egal ob bei den Musikern Chawa und Selimchan, ob bei den vielen Menschen, die anonym bleiben müssen, selbst bei den Taxifahrern, die ausgenommen werden – trotz all dem Ärger fürchten die Menschen sich vor einem plötzlichen Ende der Ära Kadyrows. Zu groß ist die Angst vor einer Rückkehr von Krieg und Zerstörung. 

Der Moment der Wahrheit

Feinde hat Ramsan genügend: Da sind die Islamisten, die Kadyrow aus dem Land gedrängt oder „vernichtet“ hat, wie es dort heißt. Da sind jene, die von Kadyrows Leuten erniedrigt wurden, und die Angehörigen jener, die für immer verschwunden sind. Da sind die russischen Geheimdienste, die Ramsan „hassen“, wie es Oleg Orlow ausdrückt. Und da sind Ramsans Todfeinde: die Jamadajews. Der einflussreiche Clan hatte sich ähnlich wie die Kadyrows im zweiten Krieg auf die Seite der Russen geschlagen. Doch im Machtkampf unterlagen die Jamadajews: Von den sechs Brüdern sind vier tot, zwei davon erschossen von Kadyrows Leuten. Übrig sind zwei, und glaubt man russischen Medienberichten, standen sie hinter einem geplanten Attentat, das im Mai vergangenen Jahres im letzten Moment verhindert wurde.

Doch je länger der Krieg zurückliegt, desto schwächer wird das Argument „Kadyrow oder Chaos“. Und Ramsans zügelloser Polizeiapparat verschafft ihm immer mehr Familien, die noch eine Rechnung offenhaben. Früher oder später wird der Moment der Wahrheit in Tschetschenien kommen: wenn Ramsans Ziehvater Wladimir Putin den Kreml verlässt.

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

Anzeige