Treffen zwischen Merkel und Biden - Joe Bidens Problem mit Europa

Am Donnerstag treffen der US-Präsident und die Bundeskanzlerin in Washington aufeinander. Gesprächsthema wird sein, wie die Beziehung der USA zu Deutschland ist und wie das Verhältnis der Bundesrepublik zu Russland und Polen sein wird. Besonders problematisch aus amerikanischer Sicht: die unklaren Entscheidungsstrukturen innerhalb der EU.

Angela Merkel und Joe Biden im Jahr 2015 bei der Münchener Sicherheitskonferenz / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen sich an diesem Donnerstag in Washington. Es wird erwartet, dass sie Themen wie Cybersicherheit, Nordstream 2 und Afghanistan besprechen. Aber wie so oft sind die offiziellen Tagesordnungspunkte zweitrangig gegenüber dem wichtigeren Aspekt des Treffens. Schließlich war die Rolle Deutschlands in Afghanistan noch nie besonders entscheidend; Cybersicherheit dagegen ist eine Bedrohung, die alle Länder betrifft, und die Nordstream-2-Pipeline ist fast fertig.

Die beiden letztgenannten Themen implizieren zwangsläufig Russland, was den Kern des Treffens ausmachen wird. Der eigentliche Punkt der Gespräche zwischen Biden und Merkel wird sein, wie die Beziehung der USA zu Deutschland ist und wie das Verhältnis Deutschlands zu Russland und Polen sein wird. Implizit geht es bei diesen Fragen auch um das Verhältnis Deutschlands zu Europa – ein Thema, das, wenn überhaupt, nur zaghaft angesprochen werden wird, aber wichtiger ist als alle anderen Fragen.

Wunsch und Wirklichkeit der EU

Die Europäische Union wurde laut Gründungsvertrag zu zwei Zwecken geschaffen: Frieden und Wohlstand in Europa. Doch die Erinnerung an die beiden Weltkriege prägte den Kontinent. Der Weg zur Überwindung des Nationalismus lag nun im Aufbau einer Union, in der ein universeller Wohlstand und damit ein gemeinsames europäisches Interesse erreicht würden. Damit einher ginge eine gemeinsame europäische Identität, in der die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren würden.

Aus amerikanischer Sicht wäre die Europäische Union ein logischer Epilog zum Marshallplan. Die USA hatten in den Prinzipien des Plans die Integration der europäischen Volkswirtschaften festgeschrieben. Es war ein steiniger Weg, denn der europäische Nationalismus und das gegenseitige Misstrauen waren zwangsläufig groß. Vor allem die Franzosen misstrauten der Integration. Aber sie war wichtig für die Vereinigten Staaten, die die Aufgabe übernommen hatten, Westeuropa vor einem sowjetischen Angriff zu schützen. 

Um dies erfolgreich zu tun, musste es eine Wiederherstellung der europäischen Militärmacht und eine Integration in die spätere Nato geben. Wirtschaftliche Integration und militärische Integration waren aus amerikanischer Sicht untrennbar miteinander verbunden. Die europäische Freihandelszone ging aus dem Marshallplan hervor, wurde von den Europäern neu definiert und entwickelte sich schließlich zur EU.

Das Vermächtnis des Marshall-Plans

Das Vermächtnis des Marshall-Plans war das Prinzip der europäischen Integration. Aber Europa ist zu einem Gebilde geworden, in dem Militärstrategie, Wirtschaftspolitik und Außenpolitik unkoordiniert sind. In Bezug auf die Militärpolitik gibt es große Unterschiede in Europa. Polen, das sich immer vor Russland fürchtet, ist besessen davon, sich vor einer möglichen russischen Aggression zu schützen. Aus Sicht etwa Portugals sind die Sorgen Polens weit von den eigenen entfernt. Aus deutscher Perspektive wiederum würde der Aufbau einer Militärmacht, die Deutschlands Wirtschaftskraft entspricht, sowohl seinen Wohlstand untergraben als auch historische Ängste vor der deutschen Macht wiederbeleben – beides berechtigte Sorgen, wobei die erste überwiegt. 

Die Nato, die den Rahmen sowohl für die europäische Verteidigungspolitik als auch für die transatlantischen Beziehungen bildet, hat keine gemeinsame Strategie, was das Bündnis selbst dysfunktional macht und eine starke transatlantische Beziehung verhindert.

Ein ähnliches Problem besteht innerhalb der EU. Die EU hat Wohlstand geschaffen, aber der Wohlstand wird nicht gleichmäßig genossen. Anders als bei regionalen Ungleichheiten innerhalb einer Nation handelt es sich um regionale Ungleichheiten zwischen einzelnen Nationen, die letztlich ihr Selbstbestimmungsrecht behalten.

Die EU hat drei bedeutende Krisen erlebt: die globale Finanzkrise von 2008, die Migrationskrise 2015 und die Covid-19-Pandemie mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten. In allen Fällen kollidierten die Interessen einzelner Nationen mit der von der EU festgelegten Strategie. Im Moment konkurrieren die wirtschaftlichen Bedingungen verschiedener Länder innerhalb der Eurozone, die eine Erholung benötigen – und einige Mitglieder der EU sind nicht in der Eurozone, was die Dinge weiter verkompliziert.

Deutschland fürchtet die Inflation

Deutschland, die führende Volkswirtschaft in Europa und die viertgrößte der Welt, will am liebsten seine Austerität aufrechterhalten – und es möchte, dass auch die Europäische Zentralbank diesen Kurs verfolgt. Die Bundesrepublik fürchtet die Inflation. Italien und andere Länder befinden sich in einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise, die nach John Maynard Keynes massive Stimuli und Defizite erfordert, um einen Rahmen für die Erholung zu schaffen. 

Deutschlands wirtschaftliches Problem ist nicht das von Italien, aber während in der Eurozone viele Nationen vereint sind, gibt es eben nur eine Zentralbank und damit auch nur eine gemeinsame Geldpolitik. In allen drei Krisen gab es sehr unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse, und die EU hat versucht, ihre Macht zu nutzen, um jene Länder zu bestrafen, die nicht bereit waren, ihrer Politik zu folgen.

Blicken wir noch einmal auf Nordstream 2, das russisches Erdgas nach Europa liefern soll und nach Ansicht der USA die Europäer viel zu abhängig von russischer Energie machen wird. In der Vergangenheit haben die Russen die Energielieferungen an osteuropäische Länder mehrmals unterbrochen. Das hatte kaum langfristige Folgen, außer dass sie Angst einflößten. Aber unter anderen Umständen könnten die Russen diese Macht nutzen, um Verhaltensänderungen zu bewirken oder sogar ihre Forderungen durchzusetzen. 

Die Polen haben Angst vor einer übermäßigen Abhängigkeit von russischem Treibstoff – nicht nur wegen ihrer eigenen Position, sondern auch, weil sie befürchten, dass andere EU-Mitglieder der russischen Strategie folgen könnten, um die Versorgung mit Öl und Gas am Laufen zu halten.

Nordstream 2 als existenzielle Bedrohung

Deutschland und Polen sind Nachbarn mit einer langen Geschichte. Für Polen ist Nordstream 2 eine existenzielle Bedrohung. Für Deutschland ist es eine nützliche Energiequelle. Die Deutschen glauben, dass sie eine für beide Seiten vorteilhafte Beziehung zu Russland aufbauen können, die auf deutschen Technologietransfers und Ähnlichem basiert, was die Gefahr eines Aussetzens der Energieversorgung vermeiden würde. Aus polnischer Sicht hat Deutschland kein Interesse an den Bedürfnissen Polens, und damit gilt das auch für die Nato und die zentrale Bürokratie der EU.

Die Vereinigten Staaten werden durch ihre Nato-Mitgliedschaft unweigerlich in diese Frage hineingezogen. Amerika hat einige Streitkräfte in Polen, braucht aber eine stärkere Beteiligung der Nato, wenn es darauf setzt, Russland erfolgreich abschrecken zu können. In der Praxis existiert keine gemeinsame Haltung der Nato-Staaten.

In ähnlicher Weise gibt es auch keine einheitliche Meinung zur aktuellen Wirtschaftskrise. Die Absicht der EU war es, Europa zu integrieren. Faktisch lief es aber auf den Versuch hinaus, die unterschiedlichen Interessen der europäischen Länder unter einen Hut zu bringen und, wenn das nicht gelingt, den Interessen der wohlhabenderen und mächtigeren Länder zu folgen.

Worin besteht die Politik der EU?

Deutschland ist das mächtigste Land in Europa, und das Problem, das Biden haben wird, ist zu erkennen, worin die europäische Politik in verschiedenen Fragen besteht und ob er mit Nordstream 2 die USA von Deutschland abhängig machen soll. Aber dann müsste Deutschland auch die Führungsrolle innerhalb der EU übernehmen – was etwas anderes ist, als die Nato zu führen oder eine Einwanderungsstrategie zu definieren. Die Erarbeitung einer europäischen Strategie unter diesen Umständen ist äußerst komplex. Die Fähigkeit, diese Strategie zu verstehen, liegt jenseits der Fähigkeiten der vermeintlichen Verbündeten.

Die Europäer argumentieren gerne, dass sich die USA von den transatlantischen Beziehungen abgewandt haben. Tatsache ist, dass der Versuch, Europas Verteidigungspolitik, Wirtschaftspolitik und geopolitische Strategie zu verstehen, ans Unmögliche grenzt. Die einzige Chance besteht darin, die EU-Institutionen zu umgehen und sich mit einzelnen Staaten auseinanderzusetzen. 

Natürlich sind diese Länder aufgrund der Tatsache, dass sie Teil dieses Chaos sind, nur eingeschränkt handlungsfähig. Zbigniew Brzezinski sagte einmal, dass das Problem im Umgang mit Europa darin besteht, die „Telefonnummer Europas“ zu finden. Ich würde nicht behaupten, dass die USA Europa den Rücken gekehrt haben. Sondern dass Europa sich auf einen Entscheidungsprozess eingelassen hat, der so angelegt ist, dass nicht klar ist, welche Entscheidung es überhaupt getroffen hat.

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