Tiergartenmord - Staatsterrorismus à la Putin?

Sechs Monate nach dem Mord an einem Georgier im Berliner Tiergarten hat der Generalbundesanwalt einen neuen Haftbefehl gegen den Tatverdächtigen erlassen. Er soll im Auftrag des russischen Geheimdienstes gehandelt haben. Aber kann der sich eine derart amateurhafte Operation leisten?

Augenzwinkern und wissendes Grinsen: Wladimir Putin lässt seinen Geheimdiensten freie Hand / picture alliance
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Autoreninfo

Mark Galeotti ist Historiker und einer der besten Kenner russischer Sicherheitspolitik. Der 55 Jahre alte Brite unterrichtet an der School of Slavonic and East European Studies am University College in London und ist Senior Research Fellow am Royal United Services Institute. Galeotti hat zahlreiche Bücher über Russland verfasst. / Foto: Signe

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Warum musste Selimchan Changoschwili sterben? Warum feuerte an einem Freitag im August 2019 mitten in Berlin ein Russe – aufgetreten unter dem Namen Vadim Sokolow, hinter dem sich jedoch wahrscheinlich der Kriminelle Vadim Krasikow verbirgt – drei Kugeln auf einen Tschetschenen mit georgischer Staatsbürgerschaft?

Die ehrliche Antwort lautet: Wir wissen es nicht genau. Doch weil die Bundesanwaltschaft im Nachhinein einräumte, was für die meisten Beobachter ohnehin offensichtlich war, dass nämlich dieser Mord alle Merkmale einer von der russischen Regierung beauftragten Tat trägt, dürfen wir zumindest einige wohlinformierte Vermutungen anstellen. Schließlich war es nie besonders glaubwürdig, dass Changoschwili einem Mordanschlag der Mafia zum Opfer gefallen ist, wie einige behaupteten. Sicherlich, es gibt kriminelle tschetschenische Gruppierungen in Deutschland. Doch die Feinde, die Changoschwili sich gemacht hatte – Feinde, die ihn zuerst aus Georgien und anschließend aus der Ukraine vertrieben –, kommen aus der Politik, nicht aus dem organisierten Verbrechen: Selimchan Changoschwili hatte zwischen 2001 und 2005 im Zweiten Tschetschenienkrieg für die Unabhängigkeit seiner Heimat gekämpft, weshalb er von Moskau als Terrorist bezeichnet wurde.

Ohnehin greifen tschetschenische Gangs für ihre Auftragsmorde in der Regel auf Landsleute zurück; sie müssen keinen Mörder aus Russland importieren. Und selbst wenn sie es täten, so verfügen sie nicht über die nötigen Verbindungen, um einen Killer mit falschen Papieren auszustatten. Die waren im vorliegenden Fall sogar im selben Büro des Föderalen Migrationsdiensts ausgestellt worden, das auch die Dokumente für ein anderes Geheimdienstteam produziert hatte – nämlich jenes, das im Jahr zuvor versuchte, den russischen Ex-Geheimdienstler Sergei Skripal zu ermorden. Zudem wären tschetschenische Gruppen nicht in der Lage gewesen, den wegen eines früheren Mordes gegen Krasikow laufenden internationalen Haftbefehl durch die russische Polizei zurückziehen zu lassen und fast alle Hinweise auf ihn aus regierungsamtlichen Datenbanken zu löschen.

Von Verrätern, denen "man nicht verzeihen darf"

Warum Selimchan Changoschwili auf eine Liste von Zielpersonen geriet, ist unklar. Aus Moskauer Sicht könnte seine Vergangenheit als „Terrorist“ eine Rolle gespielt haben; andere vermuten, er habe versucht, Agenten für die CIA anzuwerben.

Ein kurzer Blick zurück: Der frühere Geheimdienstoffizier und Whistle­blower Alexander Litwinenko wurde 2006 in London mit radioaktivem Polonium vergiftet; sechs tschetschenische Separatisten und Unabhängigkeitskämpfer starben zwischen 2009 und 2016 bei vier verschiedenen „Zwischenfällen“ in der Türkei. Ein bulgarischer Waffenschieber erlag 2015 beinahe einem Gift­anschlag, ganz ähnlich wie Skripal drei Jahre später. Seit 2014 starben mehrere ukrainische Militärs und Geheimdienstmitarbeiter durch gezielte Schüsse oder geheimnisvolle Angriffe.

Das heißt jedoch nicht, dass der Kreml im In- und Ausland wahllos morden lässt. Es gibt zahlreiche emigrierte Regimekritiker und sogar Überläufer, die völlig unbehelligt im Westen leben. Der Schlüssel scheint in einer Aussage zu liegen, die Russlands Präsident Wladimir Putin selbst einmal gegenüber Alexei Wenediktow, dem Chefredakteur des häufig kritischen Moskauer Radiosenders Echo Moskwy gegenüber machte. Putin erläuterte, es gebe einen Unterschied zwischen Feinden, die man bekämpft (allerdings in der Hoffnung, sich eines Tages wieder mit ihnen versöhnen zu können), und Verrätern, denen „man nicht verzeihen darf, denn sie werden einem in den Rücken fallen“.

Berechtigter Verdacht oder Paranoia des Westens?

Es sind Letztere, die Putin als Verräter ansieht und die deshalb in Lebensgefahr schweben. Litwinenko etwa nutzte das in seiner Zeit beim russischen Inlandsgeheimdienst (FSB) erworbene Wissen, um verstecktes russisches Geld auffliegen zu lassen. Skripal war ein Agent, dem Russland vergeben hatte, allerdings in der Annahme, er würde sich nun zur Ruhe setzen. Dass er jedoch, wie man in Moskau vermutete, weiter für den britischen Geheimdienst tätig war, galt als unverzeihlich. Und was die zahlreichen Tschetschenen angeht (zu denen auch Changoschwili trotz seines georgischen Passes gehörte), so sieht der Kreml sie als Bürger der Russischen Föderation und ihren Kampf für die Unabhängigkeit entsprechend als Verrat an.

Natürlich gibt es noch viele weitere Russen, deren Tod dem Kreml zugeschrieben wurde. Doch meist ging es dabei um Geschäftsrivalitäten, persönliche Angelegenheiten oder Auseinandersetzungen zwischen Kriminellen. Übrigens wurden oft auch natürliche Todesfälle in Zusammenhang mit heimtückischen, nicht nachweisbaren Giften gebracht. Es zeugt von der derzeitigen Paranoia, dass, sobald ein russischer Staatsbürger im Westen ums Leben kommt, jemand die Ansicht vertritt, Putin habe seine Finger im Spiel gehabt. Auch wenn sich einige Verantwortliche in Moskau über diese ständigen Verdächtigungen ärgern, dürfte der Kreml paradoxerweise eine gewisse Befriedigung daraus ziehen: Traut man seinen Spionen zu, überall in der Welt Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt ermorden zu können, so lässt dies die russische Regierung noch viel furchteinflößender wirken.

Russischer Agent: "Natürlich ist das ein Krieg"

Auf den ersten Blick scheint es viele Ähnlichkeiten zwischen russischen und westlichen Sicherheitsstrukturen zu geben. Russland hat seinen SWR, FSB und GRU, also seinen Auslandsnachrichtendienst, Inlandsgeheimdienst und Militärnachrichtendienst (Letzterer heißt offiziell inzwischen GU, doch selbst Putin nutzt weiterhin den alten Namen). In Analogie zu westlichen Diensten entspräche der SWR dabei dem deutschen BND oder dem britischen MI6, der FSB dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder dem MI5. Wie kommt es aber, dass die russischen Geheimdienste so gänzlich anders agieren? Warum sind russische Dienste in solch ungeheuerliche Aktivitäten wie die Verschleppung des estnischen Verfassungsschutzmitarbeiters Eston Kohver 2014 oder einen versuchten Staatsstreich in Montenegro 2016 verwickelt? Wie kann es sein, dass der Kreml nichts unternimmt, um seine Nachrichtendienste in die Schranken zu weisen, obwohl ihre Taten international verurteilt werden und nach dem Fall Skripal mehr als 150 russische Agenten aus 29 Ländern ausgewiesen wurden?

Macht man den Unterschied zwischen russischen und westlichen Geheimdiensten nur an ihrer formalen Rolle fest, übersieht man den entscheidenden Punkt: die Geisteshaltung der Dienste. Russische Geheimdienstler verstehen sich selbst als Frontsoldaten in einem heimlichen Krieg, bei dem sie ihr Land, dessen Werte und einen angemessenen Platz in der Welt verteidigen – einen Krieg übrigens, den ihrer Auffassung nach der Westen begonnen hat. Ein ehemaliger Agent erklärte mir einmal: „Natürlich ist das ein Krieg. Man kann Russland nicht derart behandeln und dann nicht mit einer solchen Reaktion rechnen.“ Das zeigt, dass sie eine grundsätzlich andere Einstellung haben als ihre westlichen Pendants und zwar sowohl, was ihre Aufgaben angeht, als auch die Frage, wie sie diese zu erledigen haben.

Russische Elite fühlt sich verfolgt

Insbesondere haben sich die russischen Dienste die Auffassung eines globalen Nullsummenspiels zu eigen gemacht: Sie sind überzeugt, der Westen – oder zumindest der von Washington dominierte Regierungskonsens – sei ihr Feind geworden, weshalb alles, was diesen schwächt, Russland hilft. Dabei ist es weniger wichtig, ob ihre Maßnahmen Moskaus Interessen direkt fördern, solange sich im Ergebnis die westliche Welt noch mehr entzweit, zerfahrener, geschwächter und weiter demoralisiert wird.

Nicht zuletzt sind die russischen Geheimdienste – und ihre Auftraggeber im Kreml – der festen Überzeugung, Russland sei gefährdet. Immer und immer wieder beteuern sie, dass Ereignisse wie der Sturz des korrupten Janukowitsch-Regimes in der Ukraine 2014 oder die Zunahme von regierungskritischen Protesten im Inland Teil einer sorgsam orchestrierten Strategie des Westens sind, um ihr Land zu isolieren und zu destabilisieren. Halten wir dies nur für leere Propaganda, verstehen wir nicht, wie stark derartige Überzeugungen in einer zwar kleinen, aber einflussreichen russischen Elite präsent sind.

Tatwaffe vor Augenzeugen entsorgt

Drittens lautet ihre Schlussfolgerung aus dem Kampf gegen einen vermeintlich mächtigeren, zynischen und rücksichtslosen Feind, dass Risiken eingegangen werden müssen und „Taten besser sind als Tatenlosigkeit“, um noch einmal einen Insider zu zitieren. Westliche Geheimdienste agieren tendenziell eher vorsichtig, weil sie demokratischen Regierungen verpflichtet sind, die nach möglichen Fehltritten politische Konsequenzen fürchten müssen. Russische Geheimdienste hingegen werden implizit ermutigt, Risiken einzugehen und Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.
Häufig sind Beobachter verblüfft, wie amateurhaft russische Agenten vorgehen. Skripals Beinahe-Mörder konnten schnell als Anatoli Tschepiga und ­Alexander Mischkin identifiziert werden, und zwar nicht nur von den Behörden, sondern auch durch das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat. Das GRU-Team, das 2018 versuchte, die Computersysteme der Organisation für das Verbot chemischer Waffen in Den Haag zu hacken, und dabei im benachbarten Parkhaus erwischt worden war, hatte es versäumt, seine Laptops zuvor von allen Informationen über frühere Missionen zu „reinigen“. So konnte der niederländische Militär- und Sicherheitsdienst MIVD die Aktivitäten der GRU-Leute über Monate hinweg zurückverfolgen. Und der Berliner Killer Krasikow entledigte sich seiner Waffe und Tarnkleidung nach dem Mord an Changoschwili unter den neugierigen Blicken von Augenzeugen.

"Einweg-Agenten" im Informationszeitalter

Doch wen das überrascht, der missversteht die Grundlagen, auf denen die russischen Nachrichtendienste operieren. Zum einen kämpfen sie, wie übrigens jede andere Spionagebehörde auch, mit der Anpassung ans Informationszeitalter, in dem jeder von Kameras beobachtet und jedes Smartphone getrackt wird, biometrische Daten aufgezeichnet und gespeichert werden und soziale Netzwerke für jeden einsehbar sind. Unter diesen Voraussetzungen ist es für das alte Handwerk der Täuscher praktisch unmöglich, falsche Dokumente und sorgfältig konstruierte „Legenden“, also falsche Identitäten, lange aufrechtzuerhalten. Moskau hat vermutlich verstanden: Sobald man einen Agenten für eine sensible Wetwork-Operation (ihr Ausdruck für Auftragsmorde) eingesetzt hat, wird seine Identität rasch bekannt.

Deswegen nutzen sie „Einweg-Agenten“. Tschepiga und Mischkin hatten nicht im GRU Karriere gemacht, sondern waren Offiziere von Spezialeinheiten, zu denen sie vermutlich zurückgekehrt sind. Was Krasikow angeht: Der FSB hat bereits zuvor mehrfach auf Kriminelle als Auftragsmörder zurückgegriffen, etwa bei der Ermordung von Tschetschenen in der Türkei. Wer ein russisches Gefängnis übersteht, wird sicherlich auch mit einer Inhaftierung in Deutschland zurechtkommen, und die Möglichkeit, das Sündenregister zu Hause gesäubert zu bekommen, ist das Risiko einer Verhaftung im Ausland sicherlich wert. Krasikow dürfte also jede Menge Gründe haben, um über die Hintergründe der Berliner Tat zu schweigen und nicht selbst zum „Verräter“ zu werden; weil er zudem kein professioneller Geheimdienstagent ist, besitzt er keine vertraulichen Informationen, die er preisgeben könnte. Auch lässt sich so jegliche Verbindung zu den Behörden leicht leugnen.

Kollateralschäden des Krieges

Außerdem führt das äußerst hohe Tempo, in dem die russischen Geheimdienste agieren, unweigerlich zu Fehlern. Die Größe des Netzwerks im Westen und die Aggressivität der durchgeführten Operationen sind vergleichbar mit denen zur Zeit des Kalten Krieges. Es wäre unmöglich, ein derartiges Aktivitätslevel zu halten, ohne dass es zu Fehltritten oder Unfällen kommt; manches Mal handelt es sich auch schlicht um Pech. Zudem kann Moskau nicht immer nur die besten Agenten einsetzen, es muss auch auf das B-Team zurückgreifen, das man ansonsten für noch nicht einsatzbereit oder als für den Außeneinsatz ungeeignet gehalten hätte.

Schlussendlich, und dies dürfte der entscheidende Punkt sein, dürfte der Kreml manch eine unprofessionelle Ausführung gar nicht groß bedauern. Denn im Krieg gilt es zu akzeptieren, dass man in einer Schlacht auch mal den Kürzeren zieht, solange man nicht den Konflikt insgesamt verliert. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass wir ja nicht wissen, wie viele russische Operationen bisher erfolgreich verlaufen sind. Kommt ab und zu ein unschuldiger Zuschauer ums Leben, wie es in der Skripal-Affäre der Fall war, oder wird ein Killer verhaftet, gilt das eben als Kollateralschaden des Krieges. Ein israelischer Geheimdienstmitarbeiter, mit dem ich voriges Jahr sprach, beschrieb das Vorgehen seiner russischen Kollegen wie folgt: „Sie haben eine Mission, und die zu erfüllen, dürfte wichtiger sein als die Frage, wie man es geschafft hat.“

Moskaus neues Hauptziel: Europäische Demokratien spalten

In diesem Zusammenhang wirkt es häufig so, als operierten die Russen nach dem Motto „Sei schnell und brich mit den gewohnten Regeln“. Dieser Vorgehensweise zufolge ist es besser, viele unterschiedliche Ansätze auszuprobieren, auch wenn man sich im Klaren darüber sein muss, dass etliche davon nicht aufgehen werden. Sollte Letzteres der Fall sein, berappelt man sich eben und probiert die nächste Idee aus. Im Rahmen dieser Trial-­and-Error-Politik scheinen beispielsweise die Versuche russischer Dienste, durch verdeckte Maßnahmen Wahlen zu beeinflussen, inzwischen aufgegeben worden zu sein, weil sie sich als unvorhersehbar, politisch gefährlich und nicht sonderlich erfolgreich erwiesen haben.

So hatte beispielsweise Moskau nicht erwartet, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen würde (während der Kreml eigentlich nur der als sicher geltenden Siegerin Hillary Clinton schaden wollte). Nun zeigt sich, dass Trumps Triumph wegen eines verärgerten US-Kongresses ironischerweise zu einer verschärften Politik gegenüber Russland führt. 

Die Bemühungen, sich in französische oder deutsche Politik einzumischen, hatten ebenfalls nicht die erwünschten Folgen. Entgegen allen Warnungen vor einer russischen Einflussnahme hat es bei den zurückliegenden Europawahlen im Mai 2019 denn auch keine entsprechenden Versuche gegeben. Stattdessen haben sich die russischen Spione, Trolle und Informationskrieger inzwischen darauf verlegt, die Spaltung innerhalb der demokratischen Gesellschaften zu beschleunigen – angefangen beim Brexit über den katalanischen Separatismus, die französische Gelbwesten-Bewegung bis hin zu Fragen der Migration.

Putin akzeptiert die Rolle des Rabauken

Zurück zum Berliner Fall. In diesem Zusammenhang hatte Russland zunächst jede Beteiligung an der Ermordung Chango­schwilis abgestritten und vielmehr behauptet, nichts über Krasikow (oder „Sokolow“) zu wissen. Moskau verweigerte gar eine Erklärung, wie amtliche russische Ausweispapiere für eine offensichtlich nicht existente Person ausgestellt werden konnten. Im Dezember behauptete Putin dann während einer Pressekonferenz in Paris ohne Rückgriff auf irgendwelche Beweise, es habe sich um eine Tat von Kriminellen gehandelt. Doch dann fügte er zu aller Überraschung hinzu, Changoschwili sei eine „grausame und blutdürstige Person“ gewesen, und russische Behörden hätten sich wegen Terrorismusvorwürfen um dessen Auslieferung bemüht. Berlin gab hingegen an, es sei nie eine Anfrage dazu eingegangen.

Erwartet Putin, dass der Westen ihm glaubt? Kümmert es ihn überhaupt? Die Antwort auf beide Fragen dürfte Nein lauten. Wie schon bei den Affären um Litwinenko und Skripal leugnet er jede Beteiligung, tut dies jedoch mit einem Augenzwinkern und wissendem Grinsen. Und zwar deshalb, weil Putin offenbar zur Einsicht gelangt ist, dass er sich (zumindest derzeit) im Westen ohnehin keine Freunde machen kann. Weil er noch dazu glaubt, westliche Staaten würden von Russland nicht nur die Rückgabe der Krim oder den Rückzug aus dem Syrienkonflikt verlangen, sondern generell die Preisgabe russischer Werte und Interessen, sucht der Präsident eher nach pragmatischen, transaktionalen Deals als nach dauerhaften, auf Gegenseitigkeit beruhenden Freundschaften. 

Und weil Putin mehr denn je auf seinen Platz in den Geschichtsbüchern schielt, ist er zu keinerlei Konzessionen bereit. Vielmehr scheint er der Handlungsmaxime zu folgen: Wenn ich im Westen ohnehin als geopolitischer Rabauke verschrien bin, dann kann ich mich auch aufführen, als sei ich der mächtigste und fieseste Rabauke in der ganzen Gegend. Auch wenn es natürlich viele Gründe für so unterschiedliche Aktionen wie etwa die Simulation eines Angriffs mit Atomwaffen auf Schweden (2013), die Intervention in Syrien (2015) oder den Mord an Changoschwili (2019) gibt, so dürfte ein Leitmotiv für Russlands Handlung doch der Wunsch sein, sich nach außen als gefährlich, unberechenbar und angstfrei zu präsentieren.

Weit risikoscheuer, als häufig angenommen

Die all dem zugrunde liegende Überzeugung lautet, dass der Westen Russland auch dann nicht freundlicher behandeln würde, wenn es sich denn fügte. Ob das stimmt, sei dahingestellt, doch die Strategen des Kreml verweisen immer wieder auf die neunziger Jahre, in denen der Westen Russlands Schwäche ausgenutzt habe, um die Grenzen der Nato nach Osten zu verschieben. Folglich möchten sie ihr Land erscheinen lassen, als sei es zu mächtig, um ignoriert zu werden, und zu gefährlich, um es zu provozieren. Dennoch ist den russischen Machthabern sehr wohl bewusst, dass sie dem Westen in fast jeder Hinsicht hinterherhinken. Sie sind übrigens auch weit risikoscheuer, als häufig angenommen, und wägen ihre Handlungen sehr genau ab.

Aus diesem Grund ist Berlins Antwort auf den Changoschwili-Fall so wichtig – und zwar nicht nur für Deutschland. Die internationale Reaktion auf die Skripal-Affäre hatte Russland damals überrascht. Ich hielt mich zu der Zeit in Moskau auf, als Großbritannien und Russland mit einer Retourkutsche nach der anderen gegenseitig Diplomaten auswiesen. Und jeder Offizielle, mit dem ich sprach, zeigte sich überzeugt, dass es dabei bleiben werde; allen war ganz offensichtlich klar, welch intensive diplomatische Bemühungen hinter den Kulissen abliefen, um eine öffentliche und erniedrigende Zurechtweisung zu organisieren.

Von England negativ, von Deutschland positiv überrascht

Der Westen verfügt über die Nato, um gemeinsam eine militärische Invasion abzuwehren, jedoch über keine vergleichbare Struktur, um sich gegen etwas zu stellen, das unterhalb der Schwelle eines Krieges passiert. Verdeckte russische Operationen, sei es nun Spionage, unerwünschte politische Einmischung oder Mord, hatten niemals zuvor solche Solidaritätsbekundungen hervorgerufen wie im Fall Skripal. Und das führte damals zu ernsthaften Debatten in den entsprechenden Moskauer Kreisen: Hatte sich die allgemeine politische Stimmung so gewandelt, dass sie dem russischen Abenteurertum gegenüber weniger tolerant geworden war? Oder handelte es sich nur um einen Rückschlag außerhalb der Reihe? Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Changoschwili nur ermordet wurde, um dies herauszufinden, aber der Fall bietet sich als Test dafür an.

Bislang haben Deutschland und der Westen bei dieser Prüfung versagt. Denn es dauerte Monate, bis eine Reaktion erfolgte, und obwohl schließlich zwei russische Diplomaten aus Deutschland ausgewiesen wurden, so doch nicht mit der Begründung, dass Moskau hinter dem Mord stecke (sondern nur damit, dass es Deutschland nicht bei dessen Aufklärung helfe). Diese langsame und niedrigschwellige Reaktion hat den Kreml positiv überrascht.

Am Ende alles nur Pyrrhussiege?

Es lässt sich nur erahnen, weshalb die Bundesregierung dieses Vorgehen gewählt hat. Zum einen mag es an den unterschiedlichen politischen und juristischen Regularien liegen. Unter der Hand erklärte mir allerdings ein deutscher Diplomat, man wolle es in diesem „strategischen Augenblick“ nicht riskieren, die Beziehungen zu Moskau aufs Spiel zu setzen. Der Vier-Länder-Gipfel in Paris zur Ukrainefrage stand zu diesem Zeitpunkt kurz bevor, außerdem befindet sich die Gaspipeline Nord Stream 2 kurz vor der Fertigstellung. Allerdings weiß Moskau ganz genau, wie es die westlichen Länder zu Geiseln machen kann, um nach und nach einen Durchbruch bei den Beziehungen zu erreichen. Möglicherweise plant Berlin ja doch noch ernsthafte Gegenmaßnahmen, allerdings kann der Kreml zumindest bis heute davon ausgehen, dass man längst zum „business as usual“ zurückgekehrt ist.

Womöglich bemerkt eine neue Generation russischer Politiker eines Tages, dass die Handlungen ihrer Vorgänger desaströse Folgen hatten. Denn sie führten im besten Fall zu Pyrrhussiegen, welche die Überzeugung des Westens stützten, Russland sei gefährlich und müsse abgeschreckt und eingedämmt werden. Auch heute schon gibt es innerhalb der Elite einige russische Politiker, die über die derzeitige Strategie ernsthaft besorgt sind. Die Herrscher im Kreml sind jedoch weiterhin angetrieben von den imperialen Gepflogenheiten aus Sowjetzeiten, verärgert über die als Marginalisierung Russlands wahrgenommenen Entwicklungen der neunziger Jahre – und sie fühlen sich bestärkt durch die aktuelle Krise des Westens. Sollte der Mord an Selimchan Changoschwili ohne Folgen bleiben, wird das den Kreml in seiner Haltung bestätigen.

Aus dem Englischen von Jörn Pinnow

 

Dieser Text ist in der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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